Großstaudämme schüren Konflikte in der Amazonasregion
Der Name Belo Monte bedeutet eigentlich "Schöner Berg" und umschreibt ein Prestigevorhaben der brasilianischen Regierung: Der drittgrößte Staudamm der Welt soll am Rio Xingu entstehen. 11.000 Megawatt "sauberen Strom" soll er mit Hilfe der Wasserkraft erzeugen. Die von Forschern an anderen Stauseen gemessenen Emissionen des Treibhausgases Methan lassen allerdings Zweifel an der positiven Klimabilanz aufkommen. Der während des Jahres variierende Wasserpegel verhindert zudem eine gleichmäßige Stromerzeugung, wie sie die Planer angenommen haben. Um das Kapazitätsziel zu erreichen, sind zusätzliche Staustufen im Oberlauf zu befürchten. Bislang negiert das Betreiberkonsortium Norte Energia solche Pläne.
Belo Monte ist der Gipfel des Entwicklungskonzepts der brasilianischen Regierung für die Amazonasregion. Ex-Präsident Lula hat die heutige Regierungschefin Dilma Rousseff seinerzeit als Energieministerin auf die Spur gesetzt, die sie nun nicht mehr verlassen will. Im Rahmen des brasilianischen Wachstumsbeschleunigungsprogramms PAC werden derzeit zwölf Staudämme in Amazonien gebaut, Belo Monte ist der größte davon. In den kommenden Jahren sind dort noch einmal so viele Wasserkraftwerke geplant, die Flüsse Tapajós und Madeira sind dann an der Reihe. Sicher wird Rousseff das Thema im Juni 2012 aufgreifen, wenn in Rio de Janeiro der UN-Gipfel über nachhaltige Entwicklung "Rio+20" stattfinden wird. Dort wird sie vor aller Welt Brasiliens Energiebilanz mit 75 Prozent Stromerzeugung aus Wasserkraft als nachhaltig präsentieren. Mit Hilfe von grünen Wirtschaftskonzepten aus dem Sammelsurium der Green Economy will die Weltgemeinschaft auf dem Treffen "Rio+20" ihre Probleme lösen. Es geht also um die Entwicklungskonzepte der Zukunft. Doch sind Großprojekte wie Belo Monte der richtige Weg?1
Ein Drittel der erzeugten Strommenge von Belo Monte soll mit Überlandleitungen in die brasilianischen Zentren des Südens fließen, um dort dem derzeit kräftigen Wirtschaftswachstum zu dienen und Stromausfälle zu verhindern. Ein weiterer Großteil der Energie wird in Industrieanlagen eingespeist: Die Aluminiumherstellung braucht Bauxit als Rohstoff und viel günstige Energie. Diese liefert Belo Monte. Das reine Aluminium wird am Ende in die Industrieländer exportiert.
Die Existenz der Menschen vor Ort wird vernichtet
Kritiker aus der Amazonasregion sprechen von der systematischen Dekonstruktion eines einzigartigen Natur- und Lebensraums, vom Ausverkauf des Naturerbes. Konflikte um den Zugang zu den Ressourcen der Region, deren Nutzung und Kontrolle überschatten sämtliche Bauvorhaben im Wasserkraftsektor. Global agierende Wirtschaftsunternehmen (auch Stahl-, und Zellstoffindustrie) und Regierungen kämpfen gegen die ortsansässige Bevölkerung: ein sehr ungleicher Kampf.
Das Staubecken wird eine Fläche von über 500 Quadratkilometern Regenwald und ein Drittel der Stadt Altamira überschwemmen. Der Fluss soll südlich der Stadt und oberhalb der 100 Kilometer langen Flussschleife, genannt Volta Grande, über zwei künstliche Kanäle zum neuen Kraftwerk geleitet werden. Zwei Drittel des Flusswassers würden damit abgezweigt und energetisch genutzt. Die Volta Grande würde austrocknen. Für das riesige Bauvorhaben wird mehr Erde umgewälzt werden als beim Bau des Panamakanals. Das hat Auswirkungen auf das gesamte Ökosystem und die Menschen, die bislang dort leben: Die Bewohner(innen) von neun Indigenen-Gebieten, die städtische Bevölkerung Altamiras, traditionelle Gemeinschaften wie die Ribeirinhos (Flussanwohner), Kleinbauern und Sammler, die von nachhaltiger Wald- und Flussnutzung leben. Die einen sind betroffen, weil alles, was sie in jahrzehntelanger Arbeit aufgebaut haben, in Kürze überflutet werden soll und ihnen die Zwangsumsiedelung droht. Die anderen, weil man ihnen das Wasser abgräbt und damit ihre Existenz vernichtet. Die Angaben zur Zahl der Betroffenen schwanken, es ist die Rede von 20.000 bis 40.000 Menschen. Viele verfügen nicht über gültige Landtitel, was Entschädigungsansprüche gegenüber dem Baukonsortium vereitelt, das hauptsächlich aus staatlichen Firmen besteht und sein Geld von der staatlichen Entwicklungsbank BNDES bezieht. Die Kosten für das Projekt belaufen sich auf über acht Milliarden Euro. Die Europäer sind ebenfalls Partner beim Staudammbau in Amazonien. Die österreichische Andritz AG, die französisch-schweizerische Alstom und die deutsche Voith Hydro verdienen mit der Lieferung von Turbinen und technischer Ausrüstung über eine Milliarde Euro, ohne sich von den sozialen und ökologischen Auswirkungen in der Region Altamira abschrecken zu lassen. Deutschland hat also durchaus auch einen Anteil an den aufgestauten Konflikten im Amazonasraum.
Die Fische sterben, der Wald trocknet aus
Als Betroffene sind in den Planungen nur diejenigen anerkannt, die von Überflutungen direkt betroffen sein werden. Alle Anwohner(innen) der Volta Grande gelten als nicht betroffen, obwohl ihnen das teure Entwicklungsvorhaben die Nahrungs-, Einkommens- und Lebensgrundlage nimmt. Die Fischpopulation wird deutlich abnehmen, sie ist Haupteiweißlieferant und Einnahmequelle von Indigenen und Flussanwohner(inne)n. Flora und Fauna werden sich durch die geringere Wasserversorgung verändern. Der Wald wird austrocknen. Die Trinkwasserqualität wird sich verschlechtern und Wassermangel für die kleinbäuerliche Landwirtschaft ist vorherzusehen. Die Ernährungssicherung der lokalen Bevölkerung kann nicht mehr garantiert werden. Wasserwege werden unterbrochen, wenn der Fluss nur noch ein Drittel des Wassers führt: Schul- und Gesundheitseinrichtungen in der Stadt können nicht mehr erreicht werden, soziale und wirtschaftliche Kontakte gehen verloren.
Der Plan für die Energiegewinnung am Xingu ist schon alt. Vor über 20 Jahren war die Weltbank als Finanzgeber ausgestiegen und der Vorläufer des heutigen Projekts konnte abgewehrt werden. Die Regierung Lula zog ihn in Zeiten finanzieller Unabhängigkeit abgewandelt wieder aus der Schublade. Nach einem zweifelhaften Genehmigungsverfahren, in dem Betroffene nicht ausreichend informiert und gehört wurden, in dem wissenschaftliche Entscheidungsträger ausgewechselt oder ignoriert wurden, wenn sie Bedenken laut äußerten, und in dem vorgeschriebene Verfahrensschritte ausgelassen wurden, erteilte die brasilianische Regierung Mitte 2011 die Baugenehmigung für das Megaprojekt. Bis heute sind mehrere Klagen der Staatsanwaltschaft anhängig. Sie betreffen unter anderem den Minderheitenschutz der indigenen Bevölkerung, die als Entwicklungshemmnis gilt und die man von Regierungsseite nicht bereit ist, ernst zu nehmen. Dabei haben die Indigenen das Recht auf ihrer Seite: Die brasilianische Verfassung, die ILO-Konvention 169 und die UN-Deklaration über indigene Völker garantieren ihnen das Recht auf Land und Anhörung. Die Regierung kommt diesem Rechtsanspruch leider oft nicht nach.
Im Verlauf der Bauphase, die im Jahr 2015 abgeschlossen sein soll, wird der Zuzug von 100.000 Arbeitsmigrant(inn)en nach Altamira erwartet. Die Stadt ist in keiner Weise darauf vorbereitet. Es fehlt an Infrastruktur. Mieten und Kriminalitätsrate steigen. Die Bürgermeisterin von Altamira bat die brasilianische Regierung, den Bau von Belo Monte einzustellen, da die Stadt dem Massenzuzug nicht gewachsen sei. Ende November 2011 waren ungefähr 4000 Arbeiter auf vier Baustellen beschäftigt, wo es bereits zu Streiks und Auseinandersetzungen um die Arbeitsbedingungen kam.
Für die Menschen am Rio Xingu ist das Entwicklungskonzept ihrer Präsidentin und der Weltgemeinschaft das falsche, denn sie kommen gar nicht darin vor. Die Gegner des Staudamms haben sich zu einem Bündnis zusammengeschlossen: "Xingu vivo para sempre" (Der Fluss Xingu soll für immer leben) lautet ihr Name. Umwelt- und Menschenrechtsgruppen, Vertreter der katholischen Kirche, Indigene, Flussanwohner(innen), Wissenschaftler(innen) sowie zivilgesellschaftliche Organisationen aus Brasilien und anderen Ländern geben den Kampf gegen das zerstörerische Vorhaben nicht auf.
Anmerkung
1. Zu Belo Monte und "Rio+20" können Unterrichtsmaterialien (auch für die Erwachsenenbildung) angefordert werden.