Fairness währt am längsten
Die Pflegekräfte müssen fair bezahlt werden! Bei dieser Forderung sind sich Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler1, zuständige Landespolitiker(innen) wie die bayerische Sozialministerin Christine Haderthauer2 und Träger von Pflegeeinrichtungen wie die Caritas3 mit den Pflegekräften selbst einig. Doch stimmen Anspruch und Realität überein? Und was unternimmt die Caritas, um ihrem Anspruch, ein verlässlicher und fairer Arbeitgeber zu sein, gerecht zu werden?
Verlässlichkeit bedeutet, einen Arbeitsvertrag auch langfristig einzuhalten. In der heutigen Arbeitswelt, auch im Pflegemarkt, ist das eher die Ausnahme als die Regel. Denn Pflegeheime und ambulante Pflegedienste der Caritas stehen in einem scharfen, wenn nicht ruinösen Wettbewerb. Viele Einrichtungsträger - insbesondere private, aber auch manche öffentlichen sowie Wohlfahrtsverbände - versuchen, über eine niedrige Vergütung des Personals Wettbewerbsvorteile zu generieren. Ihre Rechnung: Lang gedientes Personal mit hohen Ansprüchen aus dem Arbeitsvertrag wird zu einer finanziellen Last. Neues, geringer vergütetes Personal führt dagegen zu günstigeren Pflegesätzen und "wettbewerbsfähigen" Preisen. Kostenbewusste Kunden können sich dann gegen eine Caritas-Einrichtung und für den günstigeren Wettbewerber entscheiden. Allerdings ist der Preis nur einer der Wettbewerbsparameter. Weitere zentrale Entscheidungskriterien sind die Qualität der Leistungen, die Angebotspalette sowie die Lage einer Pflegeeinrichtung. Eine höhere Qualität rechtfertigt einen höheren Preis - das ist bei Pflegeleistungen nicht anders als bei anderen Dienstleistungen oder Gütern. Gute Qualität ist aber nur durch gute und qualifizierte Pflegekräfte zu erreichen. Diese sind begehrt und werden zunehmend knapp.4 Auch hier gilt das Marktgesetz: je größer die Knappheit, desto höher der Preis.
Fairness in der Vergütung bedeutet fairen Lohn. Ist der aktuell gezahlte Lohn in der Pflege fair? Die Beurteilung von Fairness ist wertend und bedarf eines Referenzsystems.
In der neoklassischen volkswirtschaftlichen Theorie wird von vollkommenen Arbeitsmärkten ausgegangen, auf denen sich der Lohn aus Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage ergibt. Da der Lohn in diesem Modell als flexibel angenommen wird, stellt sich auf jeden Fall ein Gleichgewicht ein, in dem Angebot und Nachfrage übereinstimmen. Dieser Marktlohn kann jedoch sehr niedrig sein und zu extremer Ungleichheit, Ungerechtigkeit und sozialen Unruhen führen. Das wurde bereits in der Anfangsphase des Kapitalismus deutlich, im Zeitalter der industriellen Revolution. Folge waren das - historisch gescheiterte - Experiment des Kommunismus und die katholische Soziallehre als Basis der sozialen Marktwirtschaft.5
In der sozialen Marktwirtschaft verhindern wirtschafts- und sozialpolitische Regeln und Sicherungssysteme Ausbeutung und garantieren eine Grundabsicherung für alle Bürger(innen): Liegt der Arbeitslohn eines Arbeitnehmers unterhalb des Existenzminimums, so wird die Lücke durch Transferzahlungen ausgeglichen.
Wie hoch ist die faire Vergütung?
Wie hoch muss der Lohn in der Pflege mindestens sein, damit er noch als fair bezeichnet werden kann? Ist es der für die Pflege vereinbarte und seit 1. August 2010 gültige Mindestlohn von 8,50 Euro (West) pro Stunde für Pflegehilfskräfte ohne Ausbildung?6 Dieser Mindestlohn wurde von einer durch das Bundesarbeitsministerium eingesetzten Mindestlohnkommission, in der auch Vertreter der Caritas waren, in langwierigen Gesprächen ausgehandelt; er markiert den untersten Rand der Vergütung von Pflegekräften.7 Die niedrigste Vergütung für Pflegehilfskräfte im Bereich der Caritas liegt mit gut zehn Euro Grundvergütung pro Stunde deutlich über diesem Niveau.
Zu dieser Grundvergütung, die mit steigender Betriebszugehörigkeit auf über zwölf Euro pro Stunde steigt, kommen noch die Jahressonderzahlung und die Zusatzversorgung (Altersversorgung) in Höhe von mindestens 4,4 Prozent und 8,75 Prozent in Bayern. Somit liegt der in den Arbeitsvertragsrichtlinien der Caritas (AVR-Caritas) festgelegte unterste Lohn um mehr als 30 Prozent oberhalb des Mindestlohns. Pflegehilfskräfte verdienen bei der Caritas also deutlich mehr als bei nicht tariflich gebundenen Anbietern, die sich am Mindestlohn orientieren.
Für die Beurteilung der Vergütung von Pflegefachkräften ist der Mindestlohn keine geeignete Vergleichsgröße. Hier kann eher das Durchschnittseinkommen aller Arbeitnehmer(innen) in Deutschland als Anhaltspunkt dienen. Einschließlich Sonderzahlungen lag es 2010 laut Statistischem Bundesamt bei 42.515 Euro. Im Gesundheits- und Sozialwesen lag der durchschnittliche Bruttojahresverdienst mit 40.439 Euro etwas niedriger. Die Verdienste einzelner Berufsgruppen lassen sich der alle vier Jahre erscheinenden Verdienstestrukturerhebung des Statistischen Bundesamtes entnehmen.8 Dort findet man zum Beispiel das durchschnittliche Bruttoeinkommen von Krankenschwestern und -pflegern. Dieses betrug bei Vollzeitbeschäftigung im Jahr 2006 inklusive Sonderzahlungen 34.664 Euro. Rechnet man diesen Wert mit den seither erfolgten Lohnsteigerungen in diesem Bereich hoch, so ergibt sich für 2010 ein Wert von circa 37.700 Euro.
Die in den AVR festgelegte Regelvergütung für Pflegefachkräfte bei der Caritas liegt für das Jahr 2010 zwischen knapp 29.000 Euro und 36.500 Euro. Hinzu kommen noch Zulagen für Schichtdienst, Zeitzuschläge für Nacht- sowie Sonn- und Feiertagsarbeit und die Zusatzversorgung. Nimmt man für Zulagen und Zeitzuschläge einen durchaus realistischen Betrag von 200 Euro pro Monat an, so erreichen Pflegefachkräfte bei der Caritas Bruttojahreseinkommen zwischen 31.400 Euro und 38.900 Euro. Das Einkommen von langjährigen Mitarbeiter(inne)n liegt aufgrund von Besitzstandsregelungen teilweise noch darüber.9 Im Vergleich dazu zahlen andere Träger auch im Bereich der Fachkräfte - mit Ausnahme der Führungskräfte - langfristig in der Regel zum Teil deutlich weniger als die Caritas oder der TVöD. Dies gilt gleichermaßen für private und andere freigemeinnützige Träger.
Gute Gründe, die faire Vergütung zu zahlen
Warum bezahlt die Caritas ihre Pflegekräfte besser als viele konkurrierende Träger? Eine plausible ökonomische Begründung ist der Effizienzlohn: Dieser ist höher als der Marktlohn und rechtfertigt sich durch eine höhere Arbeitsproduktivität. Effizienzlöhne werden freiwillig gezahlt.
Als Ergebnis tariflicher Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter(inne)n ist das Lohnniveau der Caritas langfristig weitgehend festgelegt. Auch wenn sich die Höhe des Lohns deshalb zumindest in einzelnen Fällen nicht mehr über die Effizienzlohn-Theorie erklären lässt, stellt die Caritas ihre Verlässlichkeit als Arbeitgeber unter Beweis, indem sie an der tarifgerechten Bezahlung festhält. Dieses Signal ist nicht nur für die einzelne Einrichtung wichtig, sondern für die Caritas insgesamt. Im Einzelfall kann die im Geltungsbereich der AVR verpflichtende Tariftreue für kirchliche Einrichtungsträger aber zu einer existenzgefährdenden wirtschaftlichen Situation führen.10 Dann haben die Träger die Möglichkeit, von § 11 der Ordnung der Arbeitsrechtlichen Kommission (AK-O) als Öffnungsklausel Gebrauch zu machen und vom Tarif abzuweichen. Im Bereich der Diözese Regensburg mit 51 Alten- und Pflegeheimen sowie 62 ambulanten Pflegediensten wird diese Option relativ selten genutzt. Pro Jahr werden hier im Durchschnitt nur drei Anträge gestellt. Allerdings häufen sich bei einzelnen Pflegediensten zum Teil immense Defizite an. Einigen Alten- und Pflegeheimen gelingt es nicht mehr, den Gegenwert ihrer Abschreibungskosten vollständig zu erwirtschaften, teilweise findet sogar ein Liquiditätsabfluss statt.
Eine Entspannung der Situation dürfte sich mittelfristig durch altersbedingte Mitarbeiterfluktuation ergeben: Lang gediente Mitarbeiter, die unter früheren Bedingungen des öffentlichen Dienstes (BAT) eingestellt wurden und in den letzten Berufsjahren deutlich höhere Lohnniveaus als vergleichbare junge Kräfte erzielen, scheiden aus. Gleichzeitig sind gerade diese langjährig Mitarbeitenden nicht nur aufgrund ihrer Erfahrung, sondern auch wegen ihrer Verbundenheit zur und ihrem Pflichtbewusstsein gegenüber der Caritas oft eine wichtige Stütze für ihre Einrichtungen. Zufriedenheit und eine damit verbundene hohe Verweildauer in der Einrichtung ist auch im Hinblick auf den erwarteten Fachkräftemangel wichtig für das Bestehen im zukünftigen Wettbewerb.
So gibt es für die Caritas als Marktführer im Pflegemarkt plausible Gründe für das Tarifwerk AVR und die Orientierung am öffentlichen Dienst. Allerdings bestehen bei der Umsetzung erhebliche Hürden.
Hürden bei der Umsetzung der fairen Vergütung
Diese werden von Kostenträgern gelegt, von Pflegekassen sowie Trägern der Sozialhilfe. Diese orientieren sich bei Pflegesatzverhandlungen mit dem sogenannten "externen Vergleich" am Durchschnittswert von Einrichtungen im regionalen Umfeld. Wenn es genügend Einrichtungen am Markt gibt, die weit unterhalb des Niveaus der Caritas bezahlen - oft verbunden mit einer dramatischen Personalfluktuation -, können die Träger der Caritas ihren Grundsatz der fairen Bezahlung nicht halten. Dabei tragen die Pflegekassen nur die Pflegepauschalen, völlig unabhängig vom Pflegesatz, und profitieren somit finanziell nicht einmal von niedrigeren Pflegesätzen.11 Da die Mehrkosten alleine beim Pflegebedürftigen verbleiben, könnte hier der Marktmechanismus zum Tragen kommen. Das Bundessozialgericht (BSG) hat mit einer wegweisenden Entscheidung im Januar 2009 bestimmt, dass bei plausibel nachgewiesenen Personalkosten die tarifgerechte Bezahlung als wirtschaftliche Grundlage des Pflegesatzes anzuerkennen ist. In der Diözese Regensburg, konkret für das Marienstift Straubing, finden gegenwärtig Schieds- und Gerichtsverfahren mit Pilotcharakter statt, mit denen die Umsetzung dieses BSG-Urteils in Pflegesatzverhandlungen eingefordert wird.
Ausblick
Gesundheitsökonom(inn)en forderten bereits vor zehn Jahren "eine Aufwertung der Pflegediensttätigkeiten, um qualifiziertes Personal für die entsprechenden Berufsfelder gewinnen zu können".12 Die tarifgebundene und verlässliche Bezahlung gehört zum Selbstverständnis der Caritas, die sich dem Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre verpflichtet fühlt. Dazu gehören auch deutlich mehr Freiheitsgrade für Leistungsträger in der Pflege. Und mehr Vertrauen, laut Ökonomie-Nobelpreisträger Kenneth Arrow13 zentrales "Schmiermittel" für das reibungslose Funktionieren eines sozialen Systems.
Wenn der Pflegemarkt in Deutschland stärker an den Regeln der sozialen Marktwirtschaft ausgerichtet wird und die Schiedsämter und Gerichte gleichzeitig diese Ausrichtung bestätigen, wird sich auch die Strategie der Caritas - Fairness und Verlässlichkeit - als nachhaltig und langfristig erfolgversprechend erweisen.
Anmerkungen
1. "Ich appelliere an die Arbeitgeber: Wer heute Fachkräfte will, muss auch bereit sein, fair zu bezahlen." (Philipp Rösler, www.bild.de, 14.11.2010)
2. "Es kann nicht sein, dass wir dem, der ein Auto wartet, mehr zahlen als dem, der einen Menschen pflegt." (Christine Haderthauer, www.stmas.bayern.de, Pressemitteilung vom 26.1.2011).
3. "Caritas schlägt Pflegealarm - Verband beklagt notorische Unterfinanzierung" (www.altenhilfe-caritas.de, Mitteilung vom 24.1.2011).
4. Vgl. Reichert, Wolf-Gero: Gerechter Lohn in der Altenhilfe. Frankfurt, 2009.
5. Grundlegendes Dokument ist die Sozialenzyklika Rerum novarum von Papst Leo XIII. aus dem Jahr 1891.
6. Von der Höhe her entspricht der Mindestlohn im Übrigen dem Abschluss des (privaten) Arbeitgeberverbandes Pflege mit den (christlichen) Gewerkschaften Medsonet und DHV vom August 2009. Der Arbeitgeberverband Pflege wurde im Juni 2009 von den acht größten privaten Anbietern von Pflegeleistungen gegründet.
7. Eine Diskussion zum Thema Mindestlöhne kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Vgl. hierfür zum Beispiel Sachverständigenrat zur Begutachtung der Wirtschaft: Jahresgutachten 2006/2007, Ziffern 546 ff. und Jahresgutachten 2008/2009, Ziffern 576 ff. Informationen zur Arbeit der Mindestlohnkommission Pflege finden sich unter www.caritas-dienstgeber.de/themen/mindestlohn.html.
8. Vgl. Statistisches Bundesamt: Verdienste und Arbeitskosten. Verdienstestrukturerhebung 2006 und Fachserie 16 Reihe 2.4-4. Vierteljahr 2010. Wiesbaden, 2009 und 2011.
9. Die AVR haben sich im Bereich der Pflege schon immer eng an der Vergütung im öffentlichen Dienst (BAT beziehungsweise TVöD) orientiert. Mit dem Beschluss der Arbeitsrechtlichen Kommission vom Oktober 2010 wurden die Regelungen des TVöD-B und TVöD-K weitestgehend übernommen. Dies hat zu einigen strukturellen Veränderungen bei der Bezahlung der Mitarbeiter(innen) geführt.
10. Vgl. hierzu auch Sell, Stefan: Das Kreuz mit der Pflege : Konfessionelle Träger von Pflegeheimen als Getriebene und Treiber in Zeiten einer fortschreitenden Ökonomisierung des Pflegesektors. Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 06-2009.
11. Seit Einführung der Pflegeversicherung bis zur nächsten Überprüfung der Pauschalen (2015) errechnet sich eine jährliche Anpassungsrate von lediglich 0,4 Prozent (vgl. Rothgang, Heinz; Müller, Rolf; Unger, Rainer: Versorgung Pflegebedürftiger in Deutschland. Ergebnisse aus dem GEK-Pflegereport 2009). Die Leistungen der Pflegeversicherung bleiben somit weit hinter Bedarfsentwicklung und pflegewissenschaftlichem Fortschritt zurück.
12. Schulz, Erika; König, Hans-Helmut; Leidl, Reiner: Auswirkungen der demographischen Entwicklung auf die Zahl der Pflegefälle. DIW, Berlin, Januar 2001(www.diw.de).
13. Arrow, Kenneth J.: The Limits of Organization. New York ,1974.