Ältere Menschen wohnen am liebsten daheim
Demografische, epidemiologische, soziale und kulturelle Trends verändern in europäischen Ländern die traditionellen Muster von Pflege. Die Auflösung des traditionellen Modells der Großfamilie und eine zunehmende Urbanisierung führen zu Lücken in der Versorgung von älteren und pflegebedürftigen Familienmitgliedern. Diese Änderungen im Bedarf und in der sozialen Struktur erfordern einen anderen Ansatz der Gesundheits- und Sozialsektorpolitik. "Kein einziger europäischer Staat hat bisher für diese bedeutende europäische Zukunftsfrage ein durchgängiges Konzept entwickelt", erklärt Josef Moß, zuständig für EU-Fragen beim Diözesan-Caritasverband (DiCV) Osnabrück. Der An- lass für sein tatement war das Symposium zum Thema "Angebote und Wohnformen für pflegebedürftige Menschen im Alter". Das Symposium bildete den Auftakt eines Projekts, das europaweit den Austausch zwischen leitenden und interessierten Mitarbeiter(inne)n der Altenhilfe zum Thema neue alternative Wohn- und Betreuungsformen für ältere, auch pflegebedürftige Menschen fördert. Rund 50 Vertreter(innen) aus verschiedenen europäischen Ländern nahmen vom 12. bis 15. Oktober 2010 in Hradec Kralove (Königgrätz) in Tschechien daran teil. Finanziert wird das Projekt mit EU-Mitteln aus dem Aktionsprogramm "Europa für Bürgerinnen und Bürger".
Michael Müller, Jurist und Leiter der EU-Vertretung des Deutschen Caritasverbandes in Brüssel, stellte neben Grundlagen der EU-Politik und des EU-Rechts die europäische Gesundheitspolitik vor. Schwerpunkte seien die Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung in den 27 Mitgliedstaaten in Bezug auf weit verbreitete schwere Krankheiten. Das EU-Aktionsprogramm "Öffentliche Gesundheit 2008-2013" sei zum Beispiel darauf ausgelegt, Gesundheit, Wohlstand und Solidarität der Bürger(innen) zu fördern und Wissen zu Gesundheitsfragen zu verbreiten. Das Jahr 2012 wurde darüber hinaus zum europäischen Jahr des "Aktiven Alterns" erklärt: ältere Arbeitnehmer(innen) sollen sich in den Arbeitsmarkt einbringen können. Indem gesellschaftliches Engagement gefördert wird, sollen soziale Ausgrenzung bekämpft und ein Altern in Gesundheit gefördert werden. In den europäischen Mitgliedstaaten gibt es auf regionaler und kommunaler Ebene sehr unterschiedliche Ausprägungen der Angebote mit unterschiedlichen finanziellen Leistungssystemen für pflegebedürftige Senior(inn)en.
In Tschechien sind alle pflichtversichert
Tschechien beispielsweise hat ein beitragsfinanziertes Pflichtversicherungssystem Bismarck’scher Prägung, das dem deutschen ähnelt. Alle Einwohner(innen) sind gesetzlich pflichtversichert. "Eine private Vollversicherung gibt es nicht, ebenso wenig eine Familienversicherung", berichtet Marie Hubalkova, Caritasdirektorin der Regionalcaritas in Pardubice.
Die Leistungen der Krankenkassen umfassen die kostenlose ambulante Versorgung bei freier Arztwahl, die kostenlose stationäre Versorgung, Arzneimittel sowie Vorsorgeleistungen. Die Pflege wird von einem Arzt verordnet und von der öffentlichen Krankenversicherung bezahlt. Es gibt vier Arten von Hausbesuchen: viertelstündige, halbstündige, dreiviertelstündige und einstündige. Der Arzt oder die Ärztin kann auch drei Besuche täglich verschreiben. Benötigt der/die Patient(in) über einen längeren Zeitraum mehrere Besuche pro Tag, muss ein Revisionsarzt eine Berechtigung ausgeben. In Tschechien gibt es vier Pflegestufen:
- 2000 Kronen (ab 1. Januar 2011 nur 800 Kronen - etwa 32 Euro),
- 4000 Kronen - etwa 160 Euro,
- 8000 Kronen - etwa 320 Euro,
- 12.000 Kronen - etwa 480 Euro.
Der/die Klient(in) zahlt maximal 100 Kronen pro Pflegestunde. Seit dem Jahr 1992 engagiert sich die Regionalcaritas in Pardubice. In der häuslichen Gesundheitspflege werden zurzeit mit 88 Mitarbeitenden 620 Klient(inn)en in zwei Caritaszentren versorgt. Der Sozialdienst betreut 450 Klient(inn)en in fünf Caritaszentren. Hauptsächliche Einsatzgebiete sind die ambulante Krankenpflege, die häusliche Hospizpflege, ambulante Pflege, Personalassistenz und Entlastung und der Verleih von medizinischen Hilfsmitteln.
Niederlande: gleiche Bedingungen für Versicherte
Im Januar 2006 wurde mit der Gesundheitsreform ein neues Krankenversicherungssystem in den Niederlanden eingeführt. Der klassische Unterschied zwi- schen der gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung entfiel. Das Gesetz sieht nicht nur die Schaffung gleicher Bedingungen für Versicherer und Versicherte, sondern auch die Stärkung der Rollen der Bürger(innen), der Leistungsanbieter und Versicherer vor, damit sie sich im Gesundheitssystem so effizient wie möglich verhalten. Ergänzend sind alle Einwohner(innen) der Niederlande (mit Ausnahme der Streitkräfte im aktiven Dienst) durch das sogenannte Allgemeine Gesetz über außergewöhnliche Krankheitskosten (AWBZ) pflichtversichert. Das Gesetz bezieht sich auf Kosten, die nicht zum Leistungsumfang der gesetzlichen Kassen gehören und die Langzeitversorgung eines Versicherten betreffen. Das AWBZ umfasst stationäre Leistungen in einem Krankenhaus ab dem 366. Krankheitstag, die (Alten-)Pflege in Pflegeheimen, die Behindertenfürsorge (zum Beispiel Einrichtungen für Blinde, Hörgeschädigte und Taube), häusliche Pflege und Präventions- und Rehabilitationsleistungen. Die Leistungen werden entweder als Sach- oder Geldleistungen erbracht.
Ein Schwerpunkt der niederländischen sozialen Einrichtung Zorggroep Meander ist das Angebot an ältere Menschen, in kleinen Wohngruppen zu wohnen, berichtete Lida Pol, Referentin von Zorggroep Meander, auf dem Symposium. Diese Wohngruppen finden sich beispielsweise auf einem sogenannten Pflegebauernhof. Die dort lebenden Menschen werden nicht nur gepflegt, sondern sie beteiligen sich aktiv am Leben mit den Tieren und Pflanzen.
In Österreich pflegen viele ihre Angehörigen daheim
Mit der Pflege in Oberösterreich beschäftigte sich Heike Wöckinger, Assistentin der Geschäftsführung "Caritas für Betreuung und Pflege" der Caritas Linz. Das österreichische System der Pflegevorsorge bestehe aus dem Bundespflegegeldgesetz, den neun Landespflegegeldgesetzen und der Pflegevereinbarung zwischen Bund und Ländern. Die Voraussetzungen für das Pflegegeld sind vergleichbar mit den Pflegebegutachtungsverfahren in Deutschland. In Österreich werden 80 Prozent der Pflegebedürftigen zu Hause von Angehörigen betreut, 17 Prozent leben in Alten- und Pflegeheimen, fünf bis zehn Prozent erhalten Unterstützung von Frauen aus benachbarten Ländern, zumeist aus der Slowakei. Auch hier gilt der Grundsatz ambulant vor stationär.
Herbert Brindl, Geschäftsführer "Caritas für Betreuung und Pflege" der Caritas Linz, stellte auf der Tagung beispielhaft am Seniorenwohnhaus Karl Borromäus die pflegerischen Versorgungsmöglichkeiten in Österreich vor. Das Karl-Borromäus-Haus war ein 1897 von den Borromäerinnen erbautes "Greisenasyl", das 1901 als "Heim für Fabriksmädchen und Asyl für alte, gebrechliche Leute" weiterentwickelt wurde. Es wurde im Jahr 2000 von der Caritas Linz als Sanierungsfall übernommen und über mehrere Jahre sowohl innen als auch außen umfangreich renoviert. Heute ist es ein Vorzeigeprojekt mit 120 Plätzen in der Langzeitbetreuung, sieben Kurzzeitpflegeplätzen, acht Pflegeplätzen für die Langzeitbeatmung und 15 Wohneinheiten für "Betreubares Wohnen". Außerdem wurden eine Servicestelle für pflegende Angehörige, eine Cafeteria (ein Projekt mit beeinträchtigten Menschen), Seminarräume, eine kulturhistorisch bedeutende Kapelle und ein Hörzentrum integriert.
Zu Hause fühlen sich die meisten gut versorgt
Dass das Zuhause erfahrungsgemäß für viele Menschen die erste und beste Option ist, um pflegerisch versorgt zu werden, betonte Paul Leidner, Geschäftsbereichsleiter im DiCV Osnabrück. Ein Beispiel für eine integrative Versorgung stellte Jürgen Voss vom Caritasverband Olpe vor. Aus der Konzeptidee, den Menschen und seinen Wunsch nach wohnortnaher, flexibler Hilfe in den Mittelpunkt zu stellen, entstand im Caritasverband Olpe ein Zentrum mit ambulanter, stationärer und teilstationärer Pflege unter Mitwirkung von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter(inne)n. Soziale und komplementäre Dienste sorgen für Beratung und Information.
Der Caritasverband Paderborn setzt auf ambulant betreute Wohngemeinschaften als Teil des ganzheitlichen Versorgungsangebots. Oberstes Prinzip sei der Quartiersbezug in einem Stadtteil oder einer Siedlung, wie Hans-Werner Hüwel, Fachbe- reichsleiter Alten- und Krankenhilfe der Caritas Paderborn, berichtete. Die WGs sind den Sozialstationen zugeordnet, in deren Einzugsgebiet sie liegen. Es gibt vier Wohngemeinschaften, die rund um die Uhr betreut werden und eine WG, in der durch den geringeren Bedarf nur eine vierstündige Versorgung notwendig ist. Es werden keine Pauschalen abgerechnet, sondern nur pflegevertraglich festgelegte Einzelleistungen. "Die Angehörigen werden immer an der Umsetzung des Konzepts beteiligt. Dadurch ist es gelungen, die Kosten auf einem Niveau unterhalb der stationären Versorgung zu halten", erklärte Hüwel. Der Caritasverband beabsichtigt, weitere WGs zu eröffnen. Geplant sind auch zielgruppenspezifische Angebote, etwa eine WG für jüngere Menschen mit einer Behinderung oder für Migrant(inn)en.
Umfangreiche Erfahrungen im Umgang mit Wohngemeinschaften hat der Caritasverband für das Erzbistum Berlin. Die steigende Anzahl an pflegebedürftigen Personen erfordert auch mehr Pflegefachkräfte. Für die Jahre 2010 bis 2015 gebe es einen zusätzlichen Bedarf von 20.000 Pflegekräften, erläuterte Frank Petratschek, Geschäftsfeldleiter Pflege und Regionalleiter Berlin Nord. Ein steigender Altersdurchschnitt und eine hohe Krankheitsquote führten zu einer zunehmenden Marktpräsenz freiberuflicher Fachkräfte. Auch Vermittlungspauschalen seien keine Seltenheit. Ziel sei es als attraktiver Arbeitgeber, qualifizierte Mitarbeiter(innen) zu gewinnen, zu entwickeln und zu halten, um die Bedürfnisse der Kund(inn)en zu erfüllen. Die Arbeitszufriedenheit durch eine Anerkennungskultur zu verbessern, ein Gesundheitsmanagement und die Vereinbarkeit von Familie und Karriere sind nur einige Punkte, die auf der Agenda 2011 stehen.
Ehrenamt ist ein Standbein
Die Bedeutung des Ehrenamtes für das Leben und Wohnen im Alter war das zentrale Thema des Diözesan-Caritasverbandes Rottenburg-Stuttgart. "Alter ist nicht zwangsläufig mit Pflege verbunden", erklärte Birgit Mayer, Referentin für ambulante Dienste des DiCVs Rottenburg-Stuttgart. Viele Ältere sind fit und leben selbstständig. Das Zusammenwirken von pflegenden Angehörigen, professionellen Helfer(inne)n und Ehrenamtlichen gewinnt an Bedeutung. Niedrigschwellige Betreuungsangebote, ambulante Hospizdienste und Lebensräume für Jung und Alt sind Beispiele für ehrenamtliches Engagement. Die Lebensräume der Stiftung
Liebenau haben ein generationsübergreifendes Wohnen, Begegnung und Nachbarschaftshilfe zum Ziel. Barrierefreie Wohnungen bei ortsüblichen Mietpreisen für ältere Menschen, Familien, Alleinerziehende und Alleinstehende kennzeichnen diese Wohnform. Ein Profi für Gemeinwesenarbeit organisiert ein nachbarschaftliches Hilfe-Netzwerk.
Am Ende des von allen Teilnehmenden sehr positiv beurteilten Symposiums stand die Verabredung, den begonnenen Dialog fortzusetzen und zu vertiefen. Weitere Informationen sind unter www.caritas-ama.de zu finden.