Schulabschluss schlecht, Aussichten gut
Fatima ist 23 Jahre alt. Seit sie die Hauptschule ohne Abschluss verlassen hat, sucht sie nach einer beruflichen Perspektive. Verschiedene Ausbildungsversuche, zum Beispiel zur Verkäuferin in einer Bäckerei, sind gescheitert. Mit Putzjobs hält sie sich über Wasser. Gerne würde sie Menschen pflegen und betreuen. Doch eine Ausbildung zur Alten- oder Krankenpflegerin liegt in weiter Ferne.
Studien sagen voraus, dass der Gesundheits- und Pflegesektor die mit Abstand größte Branche der deutschen Volkswirtschaft wird.1 Aktuell sind in diesem Sektor 545.000 Vollzeitbeschäftigte tätig, im Jahr 2050 werden es 1,8 Millionen sein. Damit ist der Personalmangel in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft programmiert. Auch die Dienste und Einrichtungen der Caritas wird diese Entwicklung treffen. Ausgebildete Fachkräfte – zum Beispiel in Einrichtungen der Altenhilfe und in Krankenhäusern – benötigen Kolleg(inn)en, die sie unterstützen und entlasten, damit sie selbst ihr immer anspruchsvoller werdendes Aufgabenspektrum bewältigen können. Auch in anderen Bereichen der Caritas, wie in Hauswirtschaft und -technik, in der Verwaltung sowie in der Gartenpflege gibt es einen Bedarf an unterstützenden Tätigkeiten.
Wie andere Branchen auch, wird die Gesundheits- und Sozialwirtschaft dabei Personen in den Blick nehmen müssen, die sie bisher für Tätigkeiten in diesem Bereich nicht vorsah, zum Beispiel benachteiligte junge Menschen. Benachteiligt kann heißen: mit wenig unterstützendem familiären Umfeld, geringen materiellen und Bildungsressourcen oder schlechtem Schulabschluss.
Unter den im Jahresdurchschnitt 2008 circa 340.000 arbeitslos gemeldeten jungen Menschen sind junge Migrantinnen wie Fatima, die eine Tätigkeit im sozialen Bereich anstreben. Mit Blick auf die prognostizierte Zunahme der Zahl pflegebedürftiger Migrant(inn)en sind vor allem die Einrichtungen der Altenhilfe gefordert, auch diese jungen Frauen für die Gesundheitswirtschaft zu gewinnen.
Genau hier setzt das ESF-Projekt2 „CariVia – Personalgewinnung für die Gesundheits- und Sozialwirtschaft“ an. Das Projekt schafft an bundesweit sechs Standorten Arbeitsplätze für je 15 arbeitslose junge Menschen. Circa 25 Einrichtungen der Gesundheits- und Sozialwirtschaft sind insgesamt beteiligt. Zur Zielgruppe des Projekts gehören junge Menschen, die Engagement und Interesse für eine solche Tätigkeit mitbringen. Um die Interessen, Stärken und Förderbedarfe der jungen Menschen festzustellen, durchläuft jede(r) Teilnehmende vor Einstieg in das Projekt ein Kompetenzfeststellungsverfahren.
Die jungen Menschen erhalten eine breit angelegte, praxisorientierte Basisqualifizierung für unterstützende Tätigkeiten in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft, sowohl in der Alten- oder Krankenpflege als auch in der Hauswirtschaft. Durch positive Erfahrungen in der praktischen Arbeit können die jungen Projektteilnehmer(innen) Persönlichkeitsstärkung und neue Lernmotivation erlangen.
Seitens der jungen Menschen lassen sich mit CariVia vermutlich mehr junge Frauen als Männer ansprechen. So zählt der Berufsbildungsbericht 20083 des Bundesbildungsministeriums 188.000 Auszubildende in Berufen des Gesundheitswesens – mit einem Frauenanteil von 78 Prozent. Es wird daher gezielte Anstrengungen geben, auch junge Männer zu gewinnen, die bisher insgesamt in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft unterrepräsentiert sind. Hier werden noch erhebliche Potenziale vermutet. Die gezielte Ansprache junger Männer für den Bereich der Gesundheitswirtschaft ist auch insofern bedeutsam, als von männlichen Pflegebedürftigen männliches Personal nachgefragt wird.
Auch die Fachkräfte werden vorbereitet
Neu ist, dass auch die Fach- und Führungskräfte in den Einrichtungen qualifiziert werden. Aus Erfahrungen in anderen Projekten der Jugendsozialarbeit ist bekannt, dass Welten aufeinandertreffen, wenn Fach- und Führungskräfte aus Unternehmen mit benachteiligten jungen Menschen zusammenarbeiten. Deshalb erfahren die Fachkräfte, die die jungen Menschen anleiten, eine Sensibilisierung, Qualifizierung und Unterstützung für den Umgang mit benachteiligten jungen Menschen. In Seminaren lernen sie die Lebenswelten benachteiligter Jugendlicher kennen und üben Techniken der Gesprächsführung in Konfliktsituationen.
Für dieses Thema spielen die sozialpädagogischen Fachkräfte aus dem Projekt eine wichtige Rolle. Sie begleiten das Qualifizierungsverhältnis und stehen zur Verfügung, wenn es Probleme gibt. Im Fall von Konflikten helfen sie, lösungsorientierte Vereinbarungen zu treffen. Die Fach- und Führungskräfte werden auch bei der Strukturierung der Arbeitsplätze und Arbeitsabläufe unterstützt, um einfache Tätigkeiten zu bündeln und so für CariVia zugänglich zu machen.
Neues Curriculum als Frucht der Befähigungsinitiative
Als einen Beitrag zur Befähigungsinitiative der Caritas für benachteiligte junge Menschen (2006–2008) hatte eine Arbeitsgruppe unter Federführung des Projektbüros Befähigungsinitiative4 – in Kooperation mit dem Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung5 – ein innovatives Curriculum zur Qualifizierung der jungen Menschen erarbeitet. Durch CariVia wird es nun erstmals erprobt sowie bedarfsgerecht weiterentwickelt. Dieses Curriculum „zum/zur Begleiter(in) in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft“ entspricht den Anforderungen an eine modulare Qualifizierung und orientiert sich an den Vorgaben des europäischen Qualifikationsrahmens (EQR). Es umfasst 1000 Praxis- und 500 Theoriestunden. Folgende Module sind enthalten:
- Stärkung von Persönlichkeits- und Sozialkompetenzen;
- Begleitdienste von kranken und alten Menschen im stationären und ambulanten Bereich;
- Assistenz bei pflegerischen Tätigkeiten;
- Reaktivierung alltäglicher Handlungen bei geriatrisch Erkrankten;
- Hauswirtschaftliche Tätigkeiten;
- Verwaltungstätigkeiten;
- Haustechnik und Gartenpflege im stationären und ambulanten Bereich.
Wünschenswert ist, dass das Curriculum auch außerhalb des Projekts CariVia umgesetzt wird, zum Beispiel in Pflegeschulen und Bildungseinrichtungen der Caritas, damit möglichst viele Erfahrungen damit gesammelt werden können. Schließlich soll es sowohl den Anforderungen der Einrichtungen als auch dem Bildungsbedarf der jungen Menschen gerecht werden. Im Idealfall wird die Qualifizierung von der jeweils zuständigen Behörde anerkannt.
Erfreulich ist, dass die SGB-II-Träger einen Teil der Finanzierung in das Projekt CariVia einbringen. Auch sie sehen in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft ein erhebliches Beschäftigungspotenzial für junge Menschen.
Mit der Koordination der sechs Projekte ist IN VIA Deutschland beauftragt. Die Bundeskoordinierung sichert den Austausch, begleitet die Projekte vor Ort, organisiert Koordinationstreffen, erstellt Arbeitshilfen, dokumentiert Arbeitsergebnisse und stellt die Nachhaltigkeit der Projektergebnisse sicher.
Am Ende des Projekts werden Erkenntnisse dazu vorliegen, welche Begleit- und Unterstützungsstrukturen für die Einrichtungen erfolgreich sind, um benachteiligte junge Menschen dauerhaft als Mitarbeiter(innen) zu gewinnen. Aus diesen Erkenntnissen soll ein Dienstleistungskonzept für die Caritas abgeleitet und implementiert werden. Es umfasst Empfehlungen für Wege der Personalgewinnung und -entwicklung aus dem Bereich benachteiligter junger Menschen, Konzepte für die Qualifizierung der Fachkräfte, Beratung der Träger von Einrichtungen sowie Informationen über finanzielle Fördermöglichkeiten.
Anmerkungen
1. Vgl. www.iw-koeln.de, Suchbegriff „Pflegesektor“.
2. ESF – Europäischer Sozialfonds. Vgl. www.europaeischer-sozialfonds.de, Rubrik Förderprogramme, „Qualifizierung in der Altenpflege“.
3. Unter www.bmbf.de/pub/bbb_08.pdf kann der Bericht heruntergeladen werden.
4. Zur Arbeitsgruppe gehörten desweiteren Vertreter(innen) von IN VIA Deutschland und IN VIA Köln, der Caritas-Betriebsführungs- und Trägergesellschaft, des DiCV Köln, der Marienhaus GmbH Waldbreitbach, der Fachschule für Sozialpädagogik Rheinfelden und des Katholischen Krankenhausverbandes Deutschlands.
5. www.dip.de
6. Als Reaktion auf den schon bestehenden Engpass zu sehen ist eine Gesetzesänderung (Deutscher Bundestag, Drucksache 16/12256 vom 16.6.2009), wonach auch ein zehnjähriger Hauptschulabschluss unmittelbar eine Altenpflegeausbildung erlaubt.