Raus aus dem Pflege-Paradox
Die Ausbildungssituation im Gesundheits- und Sozialwesen befindet sich in einer Phase des Wandels. Bis vor einigen Jahren waren die Ausbildungen und beruflichen Qualifizierungen gut überschaubar, die normativen Grundlagen weitestgehend bekannt und die Regelungskompetenz lag bei den einzelnen Ländern beziehungsweise beim Bund. Inzwischen ist die Ausbildungslandschaft von einer Vielzahl an Qualifikationsangeboten unterschiedlicher Anbieter geprägt, und die Dauer der Qualifizierungen bewegt sich zwischen vier Wochen und mehreren Jahren.
Zwei gleichzeitig verlaufende Entwicklungen sind für die gestiegene Zahl der Berufsabschlüsse und Berufsbezeichnungen verantwortlich. Zum einen setzte in den 1980er Jahren die Akademisierung und Verwissenschaftlichung der Pflege ein. Hieraus resultierte neben einer deutlicheren Akzentuierung des Handlungsfeldes Pflegender auch der Erwerb zahlreicher Hochschulabschlüsse in den Bereichen der Pflegepädagogik, des Pflegemanagements, der Pflegewissenschaft, des Gesundheitsmanagements oder der Gesundheitsökonomie. Zum anderen nahm mit Ende der 1980er Jahre der ökonomische Druck auf das Gesundheits- und Sozialwesen zu. Auf diesen Beschäftigungsbereich wirkten sich mehr als auf andere die demografische Entwicklung, die Zunahme chronischer Erkrankungen und die Verknappung der zur Verfügung stehenden Ressourcen Zeit, Geld und Personal aus. Die Aufgaben und Anforderungen nahmen im Gesundheits- und Sozialwesen sowohl vom Umfang als auch von den Qualitätsansprüchen her kontinuierlich zu.
Gleichzeitig wurde immer deutlicher, dass die verschiedenen Aufgaben und Handlungsfelder unterschiedlich hohe Anforderungsniveaus haben. So erstrecken sich die Aufgaben und Tätigkeiten von kleinen Alltagsunterstützungen (wie Wegbegleitungen oder Einkäufe) über spezifische pflegetechnische Verrichtungen bis hin zum Erstellen von Leistungs- und Qualitätsnachweisen oder der Entwicklung und Implementierung wissenschaftlicher Pflegekonzepte.
Verbreiteter Einsatz ungelernter Pflegekräfte
Angesichts des sukzessiv eintretenden Personalmangels wurden und werden vermehrt Laien eingesetzt, die auch pflegerische Tätigkeiten ausführen. Da Letztere im deutschen Gesundheits- und Sozialwesen selten Vorbehaltsaufgaben sind, war und ist diese Vorgehensweise gängige Praxis. Nicht berücksichtigt bleibt dabei, in welchem hochsensiblen Bereich die Laien und ehrenamtlich Tätigen ohne weitere Vorkenntnisse eingesetzt werden. Sowohl aus berufspolitischer als auch aus ethisch-moralischer Sicht ist fragwürdig, wie Menschen ohne spezifische Vorkenntnisse in sehr persönlichen und häufig sehr intimen Situationen adäquat handeln sollen und können.
Bislang fehlen Curricula für niedrigere Qualifikationen
Um ihre Mitarbeiter(innen) auf das berufliche Handlungsfeld vorzubereiten, bieten zahlreiche Einrichtungen und Träger spezielle Qualifizierungsmaßnahmen zur Betreuung und Begleitung hilfebedürftiger Personen an. Diese Qualifizierungsangebote folgen allerdings keinen normativen Vorgaben, sondern sind in der Regel auf die Bedürfnisse der jeweiligen Klient(inn)en und auf die einrichtungsspezifischen Möglichkeiten zugeschnitten. Dementsprechend vielfältig sind nicht nur die Angebote an Qualifizierungsmaßnahmen, sondern auch die mit ihnen zu erwerbenden Berufsbezeichnungen.
Vor dem Hintergrund des chronischen Personalmangels, aber auch des immer weiter werdenden Handlungsfeldes ist es längst nicht mehr möglich, dass alle anfallenden Aufgaben und Tätigkeiten von einer Berufsgruppe erbracht werden. Gerade im sozialpflegerischen Bereich fallen viele Aufgaben an, die auf Alltags- und Erfahrungswissen basieren und für die kein ausgesprochenes Expertenwissen benötigt wird. So können gerade hier auch bildungsbenachteiligte Menschen Qualifikationen erwerben und damit Zugang zum Arbeitsmarkt finden.
Bei einem adäquaten Einsatz unterschiedlich qualifizierter Mitarbeiter(innen) ergänzen sich diese sinnvoll und sichern damit eine umfassende Begleitung und Versorgung hilfebedürftiger Menschen. Der Qualifikationsmix bringt den höher qualifizierten Fachkräften Entlastung, so dass sie Zeit für komplexere und fachlich anspruchsvollere Aufgaben gewinnen. Gleichzeitig wird einem Einsatz ausgesprochener Laien in dem sehr sensiblen Handlungsfeld entgegengewirkt. Trotzdem ist diese Entwicklung nicht nur positiv zu bewerten.
Idee: Domänenspezifischer Qualifikationsrahmen
Von entscheidender Bedeutung für die im Praxisfeld zu erbringenden Leistungen ist die Güte der qualifizierenden Bildungsmaßnahme. Die bisherige Individualität der Angebote niedrigerer Qualifizierungen ist weder für das Image noch für die Attraktivität der sozialpflegerischen Ausbildungen gut. Anzustreben ist eine möglichst einheitliche Regelung für alle Qualifizierungsmaßnahmen, die unterhalb der rechtlich geregelten Ausbildungen liegen.
Hierzu sind grundsätzliche strukturelle und inhaltliche Fragen zu klären, um der Heterogenität hinsichtlich der Zugangsvoraussetzungen, der Dauer der Qualifizierungsmaßnahmen, der Inhalte und Methoden sowie der Prüfungsverfahren entgegenzuwirken. Voraussetzung hierfür ist die Klärung des Berufsprofils. Von diesem ausgehend, können die zu erwerbenden Kompetenzen sowie die Struktur und Inhalte der Ausbildungen beschrieben werden.
Eine gute Basis für die systematische Entwicklung eines Berufprofils sowie eines Ausbildungscurriculums kann ein domänenspezifischer Qualifikationsrahmen1 darstellen, der in Anlehnung an den achtstufigen Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR) für die unterschiedlichen sozialpflegerischen Berufe zu entwickeln wäre. Analog zum EQR müssten im Rahmen der unteren Niveaus Qualifikationen beschrieben sein, wie sie im Sinne von Serviceleistungen für die Begleitung und Unterstützung hilfebedürftiger Menschen zu erbringen sind.
Ein solcher domänenspezifischer Qualifikationsrahmen - als Grundlage für eine einheitliche und systematische Qualifizierung im Handlungsfeld sozialpflegerischer Berufe - könnte in der Polarität von Laienpflege und Akademisierung für eine deutliche Entspannung sorgen.
Anmerkung
1. Ein domänenspezifischer Qualifikationsrahmen bezieht sich auf einen Berufsbereich (zum Beispiel "Soziale Arbeit", "Betreuung und Pflege alter Menschen") und beschreibt für jedes Qualifikationsniveau die zentralen Merkmale des Verantwortungsbereiches sowie die Kompetenzen und Fertigkeiten mit beispielhaften Aufgaben.