Es fehlt an Traditionen und Standards
Nach der Auflösung der Sowjetunion fielen auch die Sozialsysteme in Osteuropa und in den ehemaligen Sowjetstaaten in sich zusammen. Gravierende Probleme in allen sozialen Bereichen wie zum Beispiel in der Behindertenarbeit, der Altenpflege oder der Arbeit mit vernachlässigten Kindern und Jugendlichen waren die Folge. Während solcher Übergangsphasen sind immer wieder zivilgesellschaftliche Organisationen und Wohlfahrtsverbände gefragt, die Versorgungs- und Zuständigkeitslücken zu schließen.
Die soziale Arbeit konnte sich zu sowjetischer Zeit nicht als eigenständige Disziplin an Universitäten oder Fachhochschulen etablieren, da sozialistisch geführte Länder planmäßig keine sozialen Ungerechtigkeiten kennen. Aufgaben der sozialen Arbeit beschränkten sich meist auf kranke Menschen oder Waisenkinder und wurden überwiegend von Ärzt(inn)en, Krankenschwestern und -pflegern, Erzieher(inne)n und der Miliz abgedeckt. Diese waren nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Sozialsystems jedoch nicht mehr in der Lage, die wachsenden Probleme zu lösen - der Beruf des Sozialarbeiters begann sich zu etablieren.
Zwar wurden nach 1991 in den meisten osteuropäischen Ländern Studiengänge der sozialen Arbeit geschaffen, für die Ausbildung fehlten jedoch gewachsene Traditionen und Standards, wie sie sich in den westlichen Ländern in den vergangenen 50 bis 80 Jahren gebildet haben. Die Umstrukturierung des Bildungswesens nach dem Ende der Sowjetunion und die Anpassung an internationale Standards kommen nur schleppend voran und gestalten sich in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich. Dies spiegelt sich auch in der Ausbildung von Sozialarbeiter(inne)n wider. Grund hierfür ist, dass sich auch "im Osten das von der Sowjetunion geprägte veränderte Verständnis von Sozialstaat und Sozialer Arbeit auf die jeweiligen Traditionen der Wohlfahrtspflege in ganz unterschiedlicher Weise [auswirkte]"1. In den meisten Ländern wurden während des sowjetischen Einflusses die Ausbildungsinstitutionen für soziale Arbeit geschlossen. Hingegen eröffneten beispielsweise im ehemaligen Jugoslawien schon in den 1950er Jahren die ersten Schulen für soziale Arbeit an den Universitäten.2 Allerdings ist die Sozialarbeiterausbildung in den meisten Ländern Osteuropas stark von anderen Fachbereichen wie Medizin, Pädagogik und Recht geprägt. Der Mangel einer eigenen Ausbildungstradition führt weiterhin dazu, dass mitteleuropäische und nordamerikanische Modelle importiert werden, ohne sie an die regionalen Bedingungen anzupassen.3
Dabei ist der Bereich der Ausbildung von Sozialarbeiter(inne)n kein völliges Neuland in Osteuropa: Ähnlich wie in Deutschland entstanden auch dort Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Institute für soziale Arbeit.4 Zwei Weltkriege und der Eiserne Vorhang führten jedoch dazu, dass der Dialog mit mittel- und nordeuropäischen Fachschulen eingestellt wurde.
An drei Beispielen soll aufgezeigt werden, wie unterschiedlich sich die Ausbildungssituation von Sozialarbeiter(inne)n in Osteuropa und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion darstellt.
Beispiel Tschechien: Studiengang in Trägerschaft von Kirche und Staat
Das Wirtschaftsmodell der Tschechischen Republik orientierte sich nach der Staatsgründung 1993 eher am amerikanischen Modell der freien denn am deutschen Modell der sozialen Marktwirtschaft. Somit kam auch der katholischen Kirche in Tschechien eine wichtige Rolle bei der Verteilung der karitativen und sozialen Aufgaben zu. Ambulante Pflegedienste, Tagesstätten für behinderte Kinder, Hospize und Obdachlosenhilfen sind einige der Felder, in denen die Caritas tätig wurde. Ein Problem dabei war jedoch, dass die Mitarbeiter(innen) dieser sozialen Dienste häufig keine fachliche Qualifizierung im Bereich der Sozialarbeit besaßen, sondern zumeist technisch ausgebildet waren. Die Notwendigkeit, die Mitarbeitenden für die praktische Sozialarbeit zu qualifizieren, führte zu einer Kooperation der Diözesan-Caritas Hradec Králové mit der dortigen Pädagogischen Hochschule. Daraus entstand ein dreijähriger Bachelor-Studiengang für Soziale Arbeit: Im September 1994 nahmen die ersten Studierenden dort ihr Studium auf.
Im Jahr 2001 wurde aus Spendenmitteln des Deutschen Caritasverbandes und im Rahmen eines Projekts des deutschen Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung an der Prager Karls-Universität ein Institut für Soziale Arbeit eingerichtet. Es bietet - auch im Fernstudium - das weiterführende Studium der Sozialen Arbeit mit dem Abschluss Master of Arts an. Der Schwerpunkt liegt auf Management und Supervision in sozialen Organisationen.
Die Ausbildung sowohl im Bachelor- als auch im Master-Studiengang hat sich in der Praxis bewährt. Sie gibt ein Beispiel dafür, wie Ausbildung in der sozialen Arbeit laufen kann. Besonders der Praxisbezug - der von vornherein durch die Caritasmitarbeiter(innen) gegeben war - ebenso wie der enge Austausch auf universitärer Ebene (beispielsweise mit der Katholischen Fachhochschule in Freiburg und der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin) sind maßgeblich am Erfolg beteiligt. Dieser spiegelt sich in einer hohen Nachfrage nach den Studienplätzen in Hradec Králové und in Prag.
Beispiel Russland: Ausbildung in der sozialen Arbeit am Bedarf vorbei
Auch in Russland wurde Anfang des 20. Jahrhunderts die Notwendigkeit der Sozialarbeiterausbildung erkannt. Doch alle Pläne dazu wurden mit der Oktoberrevolution 1917 begraben, da im Sozialismus weder arme noch benachteiligte Menschen vorgesehen waren. Erst 1991 wurden im Zuge der wirtschaftlichen und ideologischen Umstrukturierung des Landes Ausbildungsgänge für soziale Arbeit eingeführt, die sich recht schnell verbreiteten: 1998 gab es bereits 70 Hochschulen in Russland, die das Studienfach "Sozialarbeit" oder "Sozialpädagogik" anboten. Allerdings bildeten sich kaum Fachhochschulen heraus, sondern der Studiengang ist an verschiedenen Fakultäten wie zum Beispiel Pädagogik, Psychologie, Soziologie, Recht, Medizin, ja sogar Ökonomie und Technik angesiedelt.
Daraus ergibt sich, dass die Sozialarbeiterausbildung oft stark von einem der oben genannten Fachgebiete geprägt ist, wodurch die Studierenden nur unzureichend auf die praktische Tätigkeit vorbereitet werden. Dies wird noch durch die Tatsache verschärft, dass viele Studierenden gar nicht im Bereich der sozialen Arbeit tätig werden möchten, sondern viel eher einen Beamtenstatus in einer Sozialverwaltung anstreben. Da der Studiengang Soziale Arbeit meist mit vergleichsweise niedrigen Studiengebühren belegt ist, wählen viele ihn ohne fachliches Interesse. Die Frage, welche Aufgaben die Absolvent(inn)en der Studiengänge letztlich übernehmen sollen, bleibt oftmals ungeklärt. Aufgrund der überdurchschnittlich niedrigen Gehälter für Sozialarbeiter im öffentlichen Dienst (rund 150 bis 200 Euro pro Monat) ist das Berufsfeld für die Hochschulabsolventen meist nicht sehr attraktiv. Diese Lücke wird häufig von Menschen ohne fachliche Ausbildung im Bereich der sozialen Arbeit gefüllt. Es gibt nur in Einzelfällen praxisbezogene Qualifizierungsangebote für diese Sozialarbeiter. "Es ist eine Absurdität, die sowohl vor zehn Jahren bestand wie auch heute noch besteht", sagt Lada Ismailskaja, die Direktorin der Caritas-Schule in St. Petersburg. "Zum einen bezahlt der Staat das Studium für viele junge Studenten, die nicht in der Sozialarbeit arbeiten wollen, zum anderen gibt es für die Personen, die bereits in der öffentlichen Sozialarbeit tätig sind, fast keine Chancen, sich für das Berufsfeld zu qualifizieren."
Tadschikistan: Sozialarbeit als Berufschance für Frauen
Da es in Tadschikistan bis heute keine geregelte und staatliche anerkannte Ausbildung zum Sozialarbeiter gibt, reicht es bislang aus, im sozialen Sektor zu arbeiten, um sich "Sozialarbeiter" zu nennen. Zwar bieten lokale und internationale Nichtregierungsorganisationen (NROs) Weiterbildungen an und stellen auch eigene Zertifikate aus. Da allerdings die Koordination zwischen diesen NROs fehlt, gibt es keine einheitlichen Standards und auch kein auf Tadschikistan zugeschnittenes Ausbildungskonzept. Nach Auskünften aus dem Sozialministerium ist es jedoch von überaus großer Wichtigkeit, die Ausbildung von Sozialarbeitern an die lokalen Gegebenheiten anzupassen, um so eine optimale Qualifizierung für den praktischen Arbeitsmarkt zu gewährleisten. Um die Ausbildung von Sozialarbeitern auf universitärem Niveau zu etablieren, wurde unter der Federführung des UN-Kinderhilfswerks von Unicef im September 2008 ein dreijähriger Studiengang an der Tadschikischen Staatsuniversität mit derzeit 40 Studierenden eingerichtet. Allerdings sei es schwer vorstellbar, dass Hochschulabsolventen tatsächlich praktische Arbeit im sozialen Sektor leisten, da diese Stellen in der Regel schlecht vergütet werden, so Andreas Riesterer, Leiter des DCV-Länderbüros in Duschanbe.
Die Rahmenbedingungen in Tadschikistan sind jedoch nicht mit ost- und schon gar nicht mit mitteleuropäischen Ländern zu vergleichen: Der Staat hat sich weitestgehend aus dem sozialen Sicherungssystem und damit auch aus der Finanzierung der Aus- und Weiterbildung von Sozialarbeitern zurückgezogen. Dominant sind dagegen Familien- und Clanstrukturen, was die soziale Arbeit unter Berücksichtigung des sozialräumlichen Ansatzes begünstigt. Wie in vielen anderen Ländern sind auch in Tadschikistan überwiegend Frauen in der sozialen Arbeit tätig. Da sie vor allem in ländlichen Gebieten zunehmend von der Berufsausbildung ausgeschlossen werden, hat ihre Qualifizierung im sozialen Bereich auch eine gesellschaftliche Komponente.
Die Ausbildung von Sozialarbeitern in Osteuropa und den Mitgliedstaaten der ehemaligen Sowjetunion wird bislang sehr unterschiedlich gehandhabt. Während sich die universitäre Ausbildung in Tschechien gut etabliert hat und auch für die Praxis sehr erfolgreich verläuft, geht die Ausbildung von Sozialarbeitern in Russland eher am Bedarf vorbei. In Tadschikistan gibt es derzeit noch gar keine einheitliche und anerkannte Ausbildung. Die Konzeption der tschechischen Sozialarbeiterausbildung, die maßgeblich vom Praxisbedarf bestimmt war, könnte insofern als Modell für andere Länder des ehemaligen sowjetischen Einflussgebietes dienen.
Anmerkungen
1. Hering, Sabine: Die Geschichte der Sozialen Arbeit in Osteuropa 1900-1960, in: Hornfeldt, Hans Günther et al. (Hrsg.) International vergleichende Sozialarbeit, Bd. 10, Baltmannsweiler, 2004, S. 124.
2. Cacinovic Vogrincic, Gabi et al.: Organisationsformen Sozialer Arbeit in Slowenien : Kontinuität und Umbruch in Ausbildung und Praxis. In: Dienel, Christiane; Matthies, Aila-Leena (Hrsg.): Perspektiven europäischer Sozialarbeit : Ausbildung und Praxis im Vergleich. Magdeburg, 2001, S. 75 f.
3. Vgl.: Rolly, Horst Friedrich: Soziale Arbeit in Bulgarien. München 2005, S. 20; Burkova, Olga: Entwicklung einer Infrastruktur sozialer Dienstleistungen zur Bewältigung von Belastungen und Problemen von Kindern und Jugendlichen in der Russischen Föderation. Münster, 2005, S. 122.
4. Vgl.: Hering, Sabine: Die Geschichte der Sozialen Arbeit in Osteuropa 1900-1960. In: Homfeldt, Hans Günther et al. (Hrsg.): International vergleichende Soziale Arbeit, Bd. 10, Baltmannsweiler, 2004, S. 123 ff.