Der Patientenwille zählt - ihn zu ermitteln ist oft schwer
Mit unerwartet deutlicher Mehrheit hat der Deutsche Bundestag am 18. Juni 2009 im Rahmen einer Änderung des Betreuungsrechts die Verbindlichkeit und Reichweite von Patientenverfügungen gesetzlich festgeschrieben. Patientenverfügungen sind demnach schriftlich niedergelegte Festlegungen, mit denen ein Patient für den Fall zukünftiger Einwilligungsunfähigkeit seine Einwilligung oder Nichteinwilligung in "bevorstehende Untersuchungen seines Gesundheitszustandes, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe" bekundet. Tritt die in der Patientenverfügung antizipierte Situation ein und hat der/die Patient(in) - in welcher Weise auch immer - seine/ihre Verfügung zwischenzeitlich nicht widerrufen, so ist der/die gesetzlich bestellte Betreuer(in) (wie auch der vom Patienten selbst bestimmte Bevollmächtigte) verpflichtet, "dem Willen des Betreuten Ausdruck und Geltung zu verschaffen"(§ 1901a BGB). Besteht zwischen Betreuer und behandelndem Arzt über den Willen des Betreuten Einvernehmen, dann ist zukünftig selbst dann keine Genehmigung vom Betreuungsgericht erforderlich, wenn "die Erteilung, die Nichterteilung oder der Widerruf der Einwilligung" in eine ärztlich indizierte Maßnahme die Gefahr in sich birgt, dass der Patient "einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet" oder sogar stirbt (§ 1904 BGB).
Mit dieser Änderung endet (vorläufig) eine jahrelang geführte Debatte, die weit über das Parlament und die bundesdeutsche Öffentlichkeit hinaus mit großer Leidenschaft, aber durchaus mit erstaunlicher Tiefe und Ernsthaftigkeit geführt wurde. Auch die Kirchen haben sich über ihre großen caritativ-diakonischen Werke besonders zu den ethischen Gesichtspunkten und Implikationen zu Wort gemeldet. Das wird auch zukünftig notwendig bleiben. Denn die gesetzlichen Regelungen im Betreuungsrecht machen ethische Erwägungen keinesfalls überflüssig, im Gegenteil: Gerade deren praktische Anwendung stellt sogar neue Fragen, die der Beantwortung harren.
Das Gesetz vom 18. Juni 2009 unterstreicht nochmals deutlich: Einzig der Patientenwille ist bei der Frage, ob eine medizinisch indizierte Diagnose, Operation oder Therapie vorgenommen werden soll, maßgeblich (s.a. neue caritas, Ausgabe 18 2009, S. 34). Andere Auffassungen etwa des medizinischen oder pflegerischen Personals, des Betreuers oder selbst der Angehörigen mögen zwar nachvollziehbar oder "richtiger" sein; sie sind aber letztlich unerheblich. Dieser Grundsatz des neu gefassten Betreuungsrechts sollte nicht erstaunen. Denn er legt für die Situation der Einwilligungsunfähigkeit nur das fest, was bei einem Patienten, der (noch) einwilligungsfähig ist, im Sinne der Patientenautonomie unbestritten gilt: keine Maßnahme ohne dessen Einwilligung, und sei die Maßnahme noch so indiziert und sogar lebensnotwendig. Ausgenommen sind lediglich solche Maßnahmen, die der medizinisch-pflegerischen Basisversorgung dienen wie etwa Körperpflege, Lindern von Schmerzen, Atemnot oder Übelkeit oder das Stillen von Hunger und Durst (letzteres ist nicht immer gleichzusetzen mit der Verabreichung von Nahrung und Flüssigkeit!)1. Umgekehrt ist ebenso ausgeschlossen, dass etwa das medizinisch-pflegerische Personal eines Krankenhauses oder Altenheimes allein mit Verweis auf die eigene Gesinnung oder die Trägerphilosophie der Einrichtung (maximal-)therapeutische Maßnahmen vornimmt, ohne den Patientenwillen zu beachten.
Patientenautonomie bringt Probleme
Doch mit dem Verweis auf die Patientenautonomie fangen die Probleme an. Denn zur Autonomie eines Menschen und damit eines Patienten gehört deutlich mehr als nur die selbstbestimmte Willenserklärung. Sie umfasst immer auch das Wohl eines Menschen, das gesichert sein muss, damit der Mensch/Patient körperlich wie seelisch in der Lage ist, seinen Willen zu erklären und vor allem ihn überhaupt erst selbst zu bilden. Das neue Betreuungsrecht macht hierzu keinerlei Aussage. Es regelt nur die Verbindlichkeiten in dem Fall, dass eine Patientenverfügung vorliegt. Wie diese Patientenverfügung zustande kommt, lässt das Gesetz - im Unterschied zu anderen Gesetzesentwürfen - offen. Im Gegensatz zum Fall eines einwilligungsfähigen Patienten: Hier entscheidet er über Einwilligung oder Nichteinwilligung im Rahmen eines Informed Consent, eines anspruchsvollen informierten Beratungsprozesses mit dem Arzt, in dem er sich seine Meinung qualifiziert bilden kann.
Diese Leerstelle des Gesetzes ist ärgerlich. Es geht nicht um eine Beratungspflicht, wohl aber um eine Möglichkeit verlässlicher und kompetenter Beratungsangebote, bei denen die Entscheidung des Patienten reifen kann. Dass der Gesetzgeber für Patientenverfügungen noch nicht einmal einen Anspruch auf (erstattungsfähige) Beratung durch einen Arzt - etwa im SGB V - gesetzlich festschreibt, schadet einer ernst gemeinten Patientenautonomie mehr, als dass es ihr nützt. Umso größer ist die Verantwortung auch kirchlicher Einrichtungen - in ihren Beratungsangeboten, mehr noch in ihren ambulanten wie stationären Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen. Gerade in Seniorenkreisen von Pfarrgemeinden, in Pflegeheimen oder auch im Rahmen häuslicher Pflege beschäftigen sich ältere Menschen zunehmend mit Fragen ihrer Gebrechlichkeit oder den Folgen ihrer Multimorbidität. Das Abfassen von Patientenverfügungen bietet oftmals einen Anlass, sich mit den eigenen Vorstellungen über ein Sterben in Würde zu beschäftigen. Wenn die kirchlichen Einrichtungen hier durch qualifiziertes Personal beratend zur Seite stünden, würden sie sich um die Patientenautonomie sehr verdient machen. Es ist erfreulich, dass gerade auch kirchliche Träger und Bildungseinrichtungen ihr Personal zu schulen beginnen.
Der Wille eines Menschen ist in der Regel durch Lebenserfahrungen gereift und in einem Meinungsbildungsprozess gewachsen. Und er wächst durchaus weiter. Wie die Autonomie eines Menschen insgesamt ist auch die Autonomie eines Patienten grundsätzlich unabgeschlossen und offen. Neue Lebenslagen können unvorhersehbare Lebenserfahrungen erzeugen, die zu ebenfalls unvorhersehbar neuen Einschätzungen und Entscheidungen führen. Das muss nicht so sein, aber es kann. Mit dieser Unabgeschlossenheit und Offenheit, in denen übrigens gerade ein Reiz menschlichen Lebens und kein Ärgernis liegen, rechnet der Gesetzgeber im neuen Betreuungsrecht bedauerlicherweise - oder sogar sträflicherweise - eigentlich nicht. Zwar kann der Patient seine in der Patientenverfügung vorformulierte Willenserklärung jederzeit und formlos widerrufen. Im Regelfall wird aber die vorausverfügende Willenserklärung von damals gleichgesetzt mit einer aktuellen, so er sie noch tätigen könnte. Die Gefahr einer negativen Selbstbindung wird faktisch unterschlagen.
Wann liegt ein formloser Widerruf vor?
Auch hier ist die Verantwortung von Betreuer(inne)n, Ärzt(inn)en oder Pfleger(inne)n größer, als man es nach dieser Gesetzesregelung vermutet. Schon die Prüfung des Betreuers, ob die "Festlegungen auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation" des Patienten zutreffen, folgt keinem einfachen Schema. In sie fließen unweigerlich Wertungen und Ermessenstatbestände des Prüfenden ein. Was umfasst die "aktuelle Lebenssituation"? Wenn sie wirklich mehr meint als die medizinisch feststellbare "Behandlungssituation", gehört dann auch die Erkundung einer möglichen Willensänderung zu ihr? Wann liegt ein "formloser" Widerruf vor? Nur dann, wenn der Patient noch in Zeiten seiner Einwilligungsfähigkeit seinen Widerruf vorgebracht hat oder auch noch dann, wenn ein schwer kranker Mensch durch die Regung seines "natürlichen Willens" (Mimik, Gestik, sonstiges Verhalten) von seinem ursprünglichen Willen erkennbar Abstand nimmt?
Besondere Sensibilität ist von den Betreuenden gefordert, wenn sie ihre stellvertretende Entscheidung über Einwilligung oder Versagung einer ärztlichen oder pflegerischen Maßnahme auf keine Patientenverfügung stützen können - sei es, dass keine Verfügung vorliegt, sei es, dass sie nicht auf die vorliegende Lebens- und Behandlungssituation anwendbar ist. Auch dieser Fall, in der Praxis vermutlich eher die Regel denn die Ausnahme, berücksichtigt die gesetzliche Regelung. Hier folgt der Gesetzgeber der bekannten Logik des Betreuungsrechts, wie es etwa die katholische Kirche für den Umgang mit Patientenverfügung befürwortet hat. Hat der Betreuer zu entscheiden, muss er diese Entscheidung auf der Grundlage des von ihm zu ermittelnden mutmaßlichen Willens des Betreuten treffen. Er hat dabei "insbesondere frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige Wertvorstellungen des Betreuten" zu berücksichtigen (§ 1901a Abs. 2 BGB). Darüber hinaus ist er gehalten, mit dem behandelnden Arzt zu sprechen, um den Patientenwillen festzustellen und - soweit ohne erhebliche Verzögerung möglich - sowohl nahen Angehörigen als auch weiteren Vertrauenspersonen des Betreuten "Gelegenheit zur Äußerung" einzuräumen (vgl. § 1901b Abs. 2 BGB). Zu diesen Vertrauenspersonen zählen sicherlich solche Mitarbeitende caritativer Einrichtungen, die oft über Jahre hinweg im Rahmen der häuslichen oder stationären Pflege wichtige, manchmal sogar die einzigen Bezugspersonen geworden sind.
Den mutmaßlichen Willen entziffern
Dieses Prozedere kommt einem ethischen Konsil nahe, in dem der Betreuer sich gemeinsam mit Ärzten, Pflegern und weiteren relevanten Auskunftspersonen skrupulös in die Lebenslage des betreuten Patienten hineinzuversetzen sowie dessen Lebensoptionen und damit dessen mutmaßlichen Willen zu entziffern hat. Das setzt erneut hohe Kompetenzen des Betreuers voraus. Denn nicht seine Willensbekundungen und Wertentscheidungen sind maßgeblich, sondern allein der möglichst genau erfasst Wille des Patienten. Ein bloßes Gutdünken oder gar eine bewusste Abweichung der stellvertretenden Entscheidung von dem auch nur gemutmaßten Willen des Patienten wäre ein eklatanter Verstoß gegen dessen Würde. Diese skrupulöse Ermittlung erfordert freilich eine persönliche Beziehung zwischen Betreuer und Patient, die angesichts oftmals hoher Fallzahlen für berufliche Betreuer kaum möglich ist. Umso größer ist die Verantwortung von Ärzten, Pflegekräften und Bezugspersonen, darauf zu bestehen, die Qualität solcher Ermittlungen einzuhalten und sie durch die Güte der eigenen Auskünfte abzusichern.
Wachkoma und Demenz erfordern höchste Sensibilität
Die nunmehr gesetzliche Regelung zur Verbindlichkeit von Patientenverfügungen sieht keine Begrenzung ihrer Reichweite vor. Andere Entwürfe, die dem Bundestag zur Beschlussfassung vorlagen, begrenzen die Reichweite verbindlicher Patientenverfügung auf die sogenannte terminale Phase, in der der Sterbeprozess unumkehrbar eingesetzt hat und der Tod unmittelbar bevorsteht. Der Verzicht einer Reichweitenbegrenzung ist zugleich konsequent wie hoch gefährlich. Konsequent, weil natürlich der Patientenwille zu jedem Zeitpunkt seines Lebens und damit in jeder Phase seiner Erkrankung zu respektieren ist. Hoch gefährlich, weil der Verzicht in kaum beherrschbare Grauzonen der Entscheidungsfindung führt. Fast unbemerkt hilft er die Grenze zur aktiven Sterbehilfe durch Tötung auf Verlangen oder zumindest zum assistierten Suizid zu überschreiten. Besonders deutlich wird dies bei Patienten im sogenannten Wachkoma oder mit fortgeschrittener Demenz. Natürlich können sich beide Patientengruppen bereits in einer unumkehrbaren Sterbephase befinden. Dann gilt für sie das, was für alle anderen Patienten gilt. Was aber, wenn der vorausverfügende Wille einer Patientenverfügung den Abbruch einer Therapie (beispielsweise auch den Abbruch künstlicher Ernährung als therapeutische Intervention) verfügt und damit der Sterbeprozess des Patienten überhaupt erst eingeleitet wird? Ist der Patient bei vollem Bewusstsein, so kann er eine Therapie verweigern, selbst wenn damit ein (schnelleres) Sterben verbunden ist. Diese Entscheidung trifft er aber authentisch beziehungsweise höchstpersönlich in unmittelbarer Ansehung seiner Situation. Darf aber eine solche Entscheidung jemals von einem anderen getroffen beziehungsweise exekutiert werden - von einem, der sich weder sicher sein kann, ob er den mutmaßlichen Willen des Patienten trifft, noch angehalten ist, mehr noch, nicht einmal mehr befugt ist, zu prüfen, ob der früher geäußerte Wille noch gilt? Hier ist nach wie vor politischer Klärungsbedarf, auf den die Kirchen und ihre caritativ-diakonischen Organisationen entschieden aufmerksam machen müssen. Solange die Neuregelung in dieser Form gilt, sind alle Beteiligten zu äußerster Behutsamkeit bei Patienten im Wachkoma oder fortgeschrittener Demenz angehalten.
Anmerkung
1. Vgl. BÄK: Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung. In: Deutsches Ärzteblatt 101 (2004) A 1298-1299. Zu dieser ethisch bedeutsamen Frage ausführlicher Lob-Hüdepohl, Andreas: Bedrohtes Sterben : Zur Debatte um Patientenverfügungen. In: Stimmen der Zeit 227. Bd. (2009), S. 378-390.