Pflegevergütung: Tariflöhne können wieder berücksichtigt werden
Mehr als acht Jahre liegen die letzten Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) zur Vergütungsfindung für Pflegeeinrichtungen zurück. Damals verstand das BSG die vom Gesetzgeber bei Einführung der Pflegeversicherung proklamierte Abkehr vom Selbstkostendeckungsprinzip als Etablierung eines "Pflegemarktes". Die leistungsgerechten Vergütungen seien als "Marktpreise" im Wege des sogenannten "externen Vergleichs" mit den Preisen anderer Einrichtungen zu ermitteln.2 Eine Kostenbetrachtung sollte nur dann durchgeführt werden dürfen, wenn sich ein externer Vergleich mangels Vergleichseinrichtungen als nicht durchführbar erwies - ein Fall, der kaum vorkam, denn das BSG nahm an, dass regelmäßig alle Pflegeeinrichtungen miteinander vergleichbar seien.
In der Fachöffentlichkeit stieß diese Rechtsprechung auf heftige Kritik.3 Zentrales Gegenargument war, dass angesichts der Kartellierung der Kostenträger bei den Pflegesatzverhandlungen von einem "Marktpreis" keine Rede sein könne. Der Gesetzgeber distanzierte sich in der Gesetzesbegründung zum Pflege-Qualitätssicherungsgesetz (PQsG)4 bereits im Jahr 2001 von der Annahme, dass alle Pflegeeinrichtungen miteinander vergleichbar seien.5 Dennoch schlossen sich sämtliche Landessozialgerichte, die sich danach mit dem Vergütungsrecht des SGB XI zu befassen hatten, der Rechtsprechung des BSG zum externen Vergleich uneingeschränkt an.6 In der Praxis führte der externe Vergleich insbesondere bei tarifgebundenen Einrichtungen zu immer größeren Schwierigkeiten, die tariflichen Personalkosten zu refinanzieren.
Kehrtwende des BSG
Ausgangspunkt für die aktuellen Entscheidungen des BSG waren drei Schiedsverfahren aus Baden-Württemberg aus den Jahren 2002 bis 2005 sowie ein Schiedsverfahren aus Niedersachsen aus dem Jahr 2002. Die baden-württembergische Schiedsstelle hatte versucht, den Auswirkungen des externen Vergleichs durch die Bildung von verschiedenen Vergleichsgruppen für tarifgebundene und nicht tarifgebundene Einrichtungsträger entgegenzuwirken. Aufgrund von Klagen nicht tarifgebundener Einrichtungsträger hatte das LSG Baden-Württemberg ausdrücklich die Durchführung eines externen Vergleichs mit allen Einrichtungen im Land- beziehungsweise Stadtkreis angeordnet und die Bildung unterschiedlicher Vergleichsgruppen untersagt.
Noch während der Verfahren vor dem BSG wurde das SGB XI durch das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz7 im Jahr 2008 erneut geändert. Der Gesetzgeber nahm dabei mit § 84 Abs. 2 Satz 7 SGB XI zwar erstmals eine Regelung zum externen Vergleich in das Gesetz auf, distanzierte sich jedoch gleichzeitig in der Gesetzesbegründung ausdrücklich von der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Ein externer Vergleich dürfe nur durchgeführt werden, wenn beide Parteien damit einverstanden seien.8 Der Dritte Senat des Bundessozialgerichts nahm die Gesetzesänderungen durch das PQsG und das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz nun zum Anlass, seine Rechtsprechung zur Vergütungsfindung grundlegend zu modifizieren. Zwar hielt er an der Abkehr vom Selbstkostendeckungsprinzip fest, gab jedoch "die Auffassung auf, dass sich die Vergütung im Allgemeinen ausschließlich nach Marktpreisen bestimmt und die kalkulatorischen Gestehungskosten regelmäßig außer Betracht bleiben". In Zukunft ist in Pflegesatzverhandlungen und Schiedsverfahren eine zweistufige Prüfung durchzuführen: Zunächst ist die Plausibilität der vom Heimträger geltend gemachten prospektiv kalkulierten Kosten zu prüfen (§ 85 Abs. 3 Satz 2 und 3 SGB XI). Danach folgt eine Wirtschaftlichkeitsprüfung (vom BSG teilweise auch Prüfung der Leistungsgerechtigkeit genannt, § 84 Abs. 2 Satz 1 und 4 SGB XI).
Im Rahmen der Plausibilitätsprüfung soll in Zukunft geprüft werden, ob die vom Heim geltend gemachten Kosten voraussichtlich entstehen werden. Neben den zu erwartenden tatsächlichen Ausgaben sind laut BSG auch kalkulatorische Kosten zu berücksichtigen. In den Urteilen ausdrücklich genannt werden eine angemessene Vergütung des Unternehmerrisikos, die Vergütung eines etwaigen zusätzlichen persönlichen Arbeitseinsatzes des Unternehmers und eine angemessene Verzinsung des Eigenkapitals. Eine Erhöhung von Kostenansätzen, die in den Vorjahren zu niedrig angesetzt waren, ist nicht ausgeschlossen; in diesem Fall besteht allerdings eine besonders substantiierte Begründungspflicht des Heims.
Kostenträger müssen Kalkulation prüfen
Die voraussichtlichen Kosten der Leistungserbringung im Pflegesatzzeitraum sind von der Einrichtung zu kalkulieren, zu begründen und gegebenenfalls durch Unterlagen zu belegen. Abweichend von der bisherigen Praxis in den meisten Bundesländern verlangt das BSG, dass sich die Kostenträger bereits in der Pflegesatzverhandlung mit der Kalkulation der Einrichtung auseinandersetzen und prüfen, ob diese Grundlage für die vergleichende Bewertung auf der zweiten Stufe sein kann. Ist dies nicht der Fall, haben sie den Einrichtungsträger "substantiiert auf Unschlüssigkeiten hinzuweisen oder durch geeignete Unterlagen anderer Einrichtungen (…) konkret darzulegen, dass die (…) Kalkulation der voraussichtlichen Gestehungskosten nicht plausibel erscheint".
Die so gefundenen plausiblen prospektiven Gestehungskosten sind dann Gegenstand einer zweistufigen Wirtschaftlichkeitsprüfung. Dabei wird zunächst wie bisher ein externer Vergleich durchgeführt. Dieser ist laut BSG - entgegen der Gesetzesbegründung zum Pflege-Weiterentwicklungsgesetz - nicht vom Einverständnis der Parteien abhängig. Alle Einrichtungen eines bestimmten Bezirks (Stadt, Landkreis o.Ä.) sollen verglichen werden, ohne dass es auf deren Größe oder sonstige äußere Beschaffenheit der Einrichtungen ankommt. Auch die Tarifbindung einer Einrichtung ist an dieser Stelle (noch) nicht zu berücksichtigen. Der Senat ließ offen, ob sich im Einzelfall Kriterien ergeben können, die die Vergleichbarkeit lokal oder regional benachbarter Einrichtungen beeinträchtigen. Man wird dies zumindest bei Besonderheiten des Versorgungsauftrags annehmen müssen, die zu erheblich abweichenden Personal- oder Sachkosten führen (zum Beispiel Versorgung von Wachkomapatienten). Die Frage der Vergleichbarkeit hat jedoch wesentlich an Brisanz verloren, da der externe Vergleich das Ergebnis der Vergütungsverhandlung oder des Schiedsverfahrens nicht mehr abschließend bestimmt, sondern lediglich Grundlage für die vorzunehmende Bewertung der Wirtschaftlichkeit ist: Befindet sich die Einrichtung mit ihrer Forderung im unteren Drittel der Vergleichseinrichtungen, so ist ihre Entgeltsforderung ohne Weiteres als wirtschaftlich und damit als leistungsgerecht im Sinne des § 84 Abs. 2 SGB XI anzusehen.
Tariflöhne sind wieder refinanzierbar
Aber auch oberhalb des unteren Drittels vergleichbarer Pflegevergütungen kann sich eine Forderung als leistungsgerecht erweisen, sofern sie auf einem höheren Aufwand beruht und dieser nach Prüfung im Einzelfall wirtschaftlich angemessen ist. Dies ist in der zweiten Stufe der Wirtschaftlichkeitsprüfung zu ermitteln. Dabei ist laut BSG davon auszugehen, dass die Einhaltung einer Tarifbindung und ein deswegen höherer Personalaufwand stets den Grundsätzen wirtschaftlicher Betriebsführung genügt.
Mit der Abkehr vom externen Vergleich als ausschließlichem Kriterium für die Vergütungsfindung hat das BSG einen schwerwiegenden Systemfehler bei der Vergütungsfindung für Pflegeeinrichtungen beseitigt. Die neue Systematik wirft allerdings auch zahlreiche Fragen auf, die Schiedstellen und Gerichte noch zu klären haben werden. Es ist deshalb zu früh, die Auswirkungen auf die Praxis in Vergütungsverhandlungen und Schiedsverfahren abschließend zu bewerten. Verbessert hat sich jedenfalls die rechtliche Position tarifgebundener Einrichtungen. Diese haben nun wieder eine Chance, ihre tariflichen Personalkosten auch dann zu refinanzieren, wenn sie oberhalb der Aufwendungen anderer Einrichtungen liegen.Voraussetzung hierfür ist jedoch eine Offenlegung der Kosten, die gegebenenfalls auch durch zusätzliche Unterlagen belegt werden müssen. Nicht vergessen werden darf allerdings, dass der - vom Gesetzgeber gewünschte - Wettbewerb durch die neue Rechtsprechung nicht berührt wird. Die Frage der rechtlichen Durchsetzbarkeit höherer Vergütungen könnte in Zukunft in der Praxis oft von der Frage nach der Durchsetzbarkeit dieser Vergütungen am Markt überlagert werden.
Anmerkungen
1. Urteile des Bundessozialgerichts vom 29.1.2009, B 3 P 6/08 R, B 3 P 7/08 R, B3 P 9/08 R und B 3 P 9/07 R, www.bundessozialgericht.de.
2. BSG 14.12.2000, B 3 P 19/00 R.
3. U.a.: Neumann, Volker; Bieritz-Harder, Renate: Die leistungsgerechte Pflegevergütung (Gutachten im Auftrag des DCV u.a.), 2002; Neumann, Volker: Wettbewerb bei der Erbringung von Pflegeleistungen, SGb 2007, 521; Brünner, Frank: Vergütungsvereinbarungen für Pflegeeinrichtungen nach SGB XI, 2001; Mayer, Bernhard: Der externe Vergleich - Mittel der Wahl zur Vergütungsfindung in der vollstationären Pflege?, NZS 2008, 639.
4. Vom 9.9.2001, BGBl. I 2001, 2320, in Kraft getreten zum 1.1.2002.
5. BT-Drs. 14/5395 S. 19f.
6. LSG Hessen 20.10.2005, L 8/14 P 803/03; 26.1.2006, L 8/14 P 18/04; LSG Nordrhein-Westfalen 12.6.2007, L 6 B 30/06 P ER; LSG Niedersachsen-Bremen15.2.2007, L 14 P 31/04; LSG Baden-Württemberg 7.12.2007, L 4 P 2769/06 u.a.
7. Vom 28.5.2008, BGBl. 874.
8. BT-Drucks. 16/7439, S. 71.