Migranten suchen Kompetenz und Zugang
Nicht völlig überraschend, aber ausgesprochen hilfreich - so könnte man die Ergebnisse aus dem Caritas-Exklusivteil der 2008 abgeschlossenen Sinus-Migranten-Milieu-Studie zum Thema offene soziale Dienste auf den Punkt bringen (siehe dazu auch neue caritas Heft 7/2009 und Heft 4/2009). Erfreulich ist, dass Menschen mit Migrationshintergrund die offenen Beratungsdienste kennen und dass nahezu vier Fünftel damit auch die Caritas in Verbindung bringen.
Durchschnittlich über zwei Drittel der rund 2000 Befragten kennen einen der offenen sozialen Dienste, deren Bekanntheit und Inanspruchnahme abgefragt wurde: Am bekanntesten ist die Suchtberatung mit 69 Prozent, dicht gefolgt von der Schuldnerberatung (68 Prozent), der Schwangerenberatung (66 Prozent) und der Allgemeinen Sozialberatung (ASB). Familien- und Erziehungsberatung sind mit 62 Prozent etwas weniger bekannt. Den geringsten Bekanntheitsgrad verzeichnet interessanterweise die Kategorie "Migrations-/Integrations- und Flüchtlingsberatung".
Bei der Inanspruchnahme der Dienste kehrt sich das Bild jedoch um: 15 Prozent beziehungsweise 16 Prozent der Befragten haben die Migrationsberatung oder/und die ASB schon einmal in Anspruch genommen. Die Schwangerenberatung haben sieben Prozent der Befragten und die Familien-/Erziehungsberatung sechs Prozent schon einmal genutzt. Wenn Sucht- und Schuldnerberatung lediglich von einem beziehungsweise zwei Prozent in Anspruch genommen wurden, so muss das allerdings noch kein Hinweis auf mangelnde interkulturelle Öffnung sein - diese spezifischeren Notlagen treffen möglicherweise weniger Menschen, als die Anliegen, die im Migrationsdienst oder der ASB geklärt werden können. Interessant ist jedoch, für wie wichtig diese Dienste gehalten werden: 47 Prozent halten die Suchtberatung für "sehr wichtig", 43 Prozent die Schwangerenberatung. Dies entspricht im Übrigen der Bedeutung, die die einheimische deutsche Bevölkerung diesen Diensten beimisst. Die übrigen Dienste werden mit Werten zwischen 36 bis 38 Prozent für "sehr wichtig" erachtet. Den Migrationsdienst hält trotz des hohen Nutzungsgrads lediglich ein gutes Drittel (36 Prozent) für "sehr wichtig".
Bildung öffnet den Weg zu den Diensten
Überdurchschnittlich hohe Bekanntheitswerte verzeichnen die offenen Dienste in den Milieus mit einem hohen Bildungsniveau, insbesondere im statusorientierten und im intellektuell-kosmopolitischen Milieu und teilweise auch im multikulturellen Performermilieu, obgleich die Menschen aus diesen Kreisen die Dienste weit weniger nutzen. Bis auf den Migrationsdienst sind die anderen Fachdienste im religiös verwurzelten Milieu unterdurchschnittlich bekannt, teilweise mit bis zu 22 Prozentpunkten weniger als dem Durchschnitt wie beispielsweise die Familien- und Erziehungsberatung. Diese Angebote sind im Übrigen auch dem traditionellen Arbeitermilieu und dem entwurzelten Milieu nicht wirklich vertraut. Im hedonistisch-subkulturellen Milieu - einem unangepassten Jugendmilieu, das überwiegend in schwierigen sozioökonomischen Verhältnissen lebt - ist der Migrationsdienst elf Prozentpunkte weniger als im Durchschnitt (58 Prozent) bekannt.
Betrachtet man nun die Popularität und Inanspruchnahme verschiedener Anbieter sozialer Dienste, so verzeichnet die Caritas nach dem Roten Kreuz zwar den zweithöchsten Bekanntheitsgrad, allerdings nur den vierthöchsten Nutzungsgrad (nach christlichen Kirchen, Beratungsdiensten der Stadt und Rotem Kreuz). So kennen 78 Prozent die Caritas, genutzt haben sie aber nur acht Prozent. Diese Differenz lässt sich möglicherweise aus der Differenzierung, die aus befragungstechnischen Gründen zwischen "Caritas" und "christlichen Kirchen" gemacht wurde, erklären. Bei der Befragung sollte sichergestellt werden, dass Kenner/Nutzer(innen) der Caritas, denen die Verbindung zur katholischen Kirche nicht klar ist, auch die Antwortoption "Caritas" haben.
Die im Vergleich zu ihrer Bekanntheit relativ hohe Inanspruchnahme von "sozialen Diensten der Stadt oder Gemeinde" (52 Prozent kennen diese Dienste, zwölf Prozent nutzen sie auch) könnte darauf zurückzuführen sein, dass viele als Ausländer oder Eingebürgerte ohnehin mit kommunalen Diensten intensiver in Berührung kommen und es dann naheliegend ist, auch deren soziale Dienste zu nutzen. Nicht übersehen werden sollten die fünf Prozent der Befragten, die eine Migrantenvereinigung/Landsmannschaft schon einmal als Anbieter sozialer Dienste in Anspruch genommen haben, obwohl lediglich 36 Prozent diese Organisationen in dieser Funktion kennen.
Caritas ist in den Milieus unterschiedlich bekannt
Hinsichtlich der Bekanntheit ist die Caritas - wie ein Großteil der anderen Anbieter auch - dem religiös verwurzelten Milieu am wenigsten geläufig. Lediglich die Dienste "sonstiger religiöser Gemeinschaften" und "Migrantenvereinigungen/ Landsmannschaften" verzeichnen hier eine durchschnittliche und das Rote Kreuz eine nur leicht unterdurchschnittliche Bekanntheit.
Im hedonistisch-subkulturellen Milieu dürfte die ebenfalls unterdurchschnittliche Bekanntheit der Dienste der Caritas (70 Prozent) und der Kirchen (57 Prozent) wie auch der von "sonstigen religiösen Gemeinschaften" und Migrantenvereinigungen auf Verschiedenes zurückzuführen sein: den etwas überdurchschnittlich höheren Anteil nicht religiös gebundener Menschen sowie die Jugendlichkeit des Milieus, das sich teilweise bewusst von der übrigen Gesellschaft abgrenzt, um in einer eigenen spaßorientierten Konsumwelt zu leben - und also der subjektiven Wahrnehmung nach keine Beratungsangebote braucht. Bis auf dieses Umfeld nehmen die Milieus, denen man aufgrund ihres sozioökonomischen Status’ gelegentlichen Unterstützungsbedarf unterstellen darf, die Dienste auch tatsächlich zu einem überdurchschnittlichen Anteil in Anspruch: religiös verwurzeltes: 49 Prozent, traditionelles Arbeitermilieu: 53 Prozent, entwurzeltes Milieu: 48 Prozent. Aber auch die eher bürgerlichen oder emporgekommenen Milieus liegen mit 34 bis 39 Prozent Inanspruchnahme nicht so weit unter dem Durchschnittswert von 40 Prozent. Dies mag den Schluss nahelegen, dass die Dienste die Menschen mit Migrationshintergrund überwiegend auch erreichen.
Für die Caritas - wie im Übrigen für die meisten der anderen Anbieter auch - stellt sich diese Streuung jedoch nicht ganz so ausgeglichen dar: Die Nutzer(innen) der Caritas stammen vor allem aus dem traditionellen Arbeitermilieu (mit seinem hohen Anteil an ehemaligen Gastarbeiter(inne)n und Spätaussiedler(inne)n) und aus dem entwurzelten Milieu (mit vielen Flüchtlingen und in den vergangenen 20 Jahren Eingewanderten). Dagegen zählt das adaptive bürgerliche Milieu und vor allem auch das hedonistisch-subkulturelle Milieu weniger zu ihren Kund(inn)en. Die zielgruppenspezifischen Besonderheiten der Nutzung sozialer Dienste allgemein lassen sich aus der Grafik 1 erkennen.
Beleuchtet man nun, was den Menschen mit Migrationshintergrund besonders wichtig ist, um soziale Dienste in Anspruch zu nehmen, liefert dies Ansatzpunkte für die nutzerfreundliche Gestaltung der Dienste sowie für eine milieuspezifische und zielgruppenspezifische Ansprache.
Kompetente Hilfe und niedrige Hürden sind gefragt
Auf die Frage "Wie wichtig sind Ihnen folgende Dinge, damit Sie Beratungsangebote der genannten Organisationen/Institutionen nutzen?", waren den Befragten vor allem pragmatische Aspekte, Niederschwelligkeit und fachkompetente Hilfe wichtig. In der folgenden Aufstellung gibt der linke Balken wieder, welche Punkte den Befragten bei einem Beratungsdienst "sehr wichtig" waren und der rechte Balken, welche ihnen "unwichtig" waren. Dazwischen lagen zwei weitere Abstufungen von "eher wichtig" und "eher unwichtig" (siehe Grafik 2).
Muttersprache: eine mögliche Wegbegleiterin
Im Hinblick auf eine differenzierte Nutzeranalyse ist es bedeutsam, sich auch gerade die Aspekte der Beratungsqualität anzusehen, bei denen sich der linke und der rechte Balken besonders nah aufeinanderzubewegen, es also ein eher dünneres Mittelfeld gibt und die Befragten den Aspekt entweder "sehr wichtig" oder "unwichtig" fanden. Es solcher Fall ist die muttersprachliche Beratung. 26 Prozent der Befragten ist sie "sehr wichtig", während 16 Prozent sie für unwichtig halten.
Der religiöse Hintergrund des Beratungsdienstes, sei es der eigene oder ein anderer, spielt nur für 13 beziehungsweise sieben Prozent eine Rolle, während 33 Prozent den gleichen religiösen Hintergrund und sogar 40 Prozent einen religiösen Hintergrund für unwichtig halten. Bei der Frage nach "weiterführender Unterstützung durch Ehrenamtliche" oder "Gruppenangebote" verteilt sich insgesamt nur ein knappes Viertel der Befragten auf je eine polarisierende Antwort. Das dürfte bedeuten, dass es ein größeres Potenzial an Menschen gibt, die man mit dieser Form von Angeboten durchaus an einen Dienst heranführen kann.
Eine Betrachtung nach Geschlechtern, Schulbildung, Alters- und Herkunftsgruppen gibt weitere Hinweise für eine Zielgruppenorientierung und erklärt auch teilweise die starken Polarisierungen: So ist Menschen mit Migrationshintergrund in der ehemaligen Sowjetunion kostenlose Beratung, aber auch die professionelle Hilfe und gute Erreichbarkeit sehr wichtig. Überdurchschnittlich oft benennt diese Gruppe aber auch die Vermittlung materieller Hilfe als vorrangig. Dieser letzte Punkt wie auch die Kostenfreiheit der Beratung ist naturgemäß den beiden Milieus am wichtigsten, die am unteren Rand der Einkommensskala stehen: dem religiös verwurzelten (72 Prozent Kostenfreiheit und 34 Prozent materielle Hilfe) und dem entwurzelten Milieu (74 Prozent Kostenfreiheit, 47 Prozent materielle Hilfe).
Für die milieuspezifische Ansprache liefert die Abfrage nach der Qualität der Dienste jedoch kaum Anhaltspunkte dafür, welche Kriterien es dem von den Diensten wenig erreichten hedonistisch-subkulturellen Milieu erleichtern würden, einen Dienst in Anspruch zu nehmen: Sowohl die pragmatischen Aspekte wie die sozialen (muttersprachliche Beratung, Gruppenangebote, gleichgeschlechtliche(r) Berater(in), religiöser Hintergrund) erhalten gleichermaßen durchschnittliche Nennwerte.
Soziale Aspekte haben vor allem in den Milieus und bei den Gruppen Bedeutung, die aufgrund ihres Alters, Geschlechts oder Bildungsstands auf Sprachvermittlung angewiesen sind und die teilweise in der eigenen Gemeinschaft isoliert leben. Sie erachten eine kulturell-religiöse Nähe zu den Beratenden für sehr wichtig. Das sind vor allem über 60-Jährige, Frauen, Personen mit einfacher Schulbildung, Muslime, Personen mit Migrationshintergrund in der Türkei, aber auch in osteuropäischen Ländern (nicht Polen, nicht Ex-Sowjetunion). Insbesondere für das religiös verwurzelte Milieu sind muttersprachliche Beratung, Beratung durch eine Person gleichen Geschlechts, aus demselben Kulturkreis sowie ein Beratungsdienst, der denselben religiösen Hintergrund hat, besonders relevant. Auch für das entwurzelte Milieu sind diese Punkte von Bedeutung, aber lange nicht so überproportional wie den religiös Verwurzelten.
Bei einer insgesamt geringen Gewichtung der Aussage zur religiösen Orientierung des Beratungsdienstes ist bestimmten Milieus hingegen diese Ausrichtung ausgesprochen wichtig. Das heißt, wenn die Beratungsdienste diese Milieus erreichen möchten, ist diesem Faktor Rechnung zu tragen.
Die Studie weist den Weg zur passenden Hilfe
Mit den Studienergebnissen verfügt der Deutsche Caritasverband über umfangreiches Material: einerseits, um in seiner anwaltschaftlichen Funktion Positionen zu schärfen und empirisch zu untermauern. Andererseits helfen die Erkenntnisse dabei, die Dienste und Einrichtungen genauer auf die Bedarfe von Menschen mit Migrationshintergrund auszurichten. Die Studie zeigt, dass Menschen mit Migrationshintergrund soziale Dienste je nach individueller Notlage oder anlassbezogen brauchen und weniger in ihrer Eigenschaft als "Migrant(inn)en" oder "zu integrierende Personen". Zugleich dürfen diejenigen Zielgruppen und Personen nicht übersehen werden, die aufgrund ihrer Situation migrationsspezifische Beratungsangebote benötigen, aber auch zum Teil, um überhaupt Anschluss an die Gesellschaft und ihre Institutionen zu bekommen. Einige dieser Menschen brauchen zusätzliche Brücken wie die Muttersprache, die eigene Kultur, die eigene Religion, um von einem Hilfeangebot überhaupt erreicht zu werden. Hier bedarf es nun eines wohlüberlegten Austarierens zwischen Zielgruppen- und Milieuorientierung auf der einen Seite und dem Anliegen, dass Menschen mit Migrationshintergrund in allen Diensten und Einrichtungen als "Regelklientel" fachkompetente Hilfe erhalten. Das sollte Anlass genug sein für eine konsequente interkulturelle Sensibilisierung aller Fachdienste.