Mit Klarheit und System ans Hilfeziel
In unserer Gesellschaft leben Tausende von Kindern und Jugendlichen, die Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung erfahren müssen. Wir sind als soziale Gemeinschaft nicht in der Lage, diese Kinder und Jugendlichen vor Erfahrungen wie Zurückweisung, Bedrohung, Erniedrigung und Gewalt in ihren Familien zu schützen. Jeder Tag ohne Hilfe verlängert nicht nur ihre Leidensgeschichte, sondern erzeugt weitere erhebliche kognitive, emotionale und soziale Entwicklungsbeeinträchtigungen.
Erfahren diese Kinder, Jugendlichen und ihre Familie endlich Hilfe, wäre es unsere Pflicht als Gesellschaft, ihnen die bestmögliche Unterstützung zu geben. Wie wir jedoch wissen, werden der Kinder- und Jugendhilfe nicht in dem notwendigen Maße Mittel zur Verfügung gestellt.
Dennoch stehen die professionellen Helfer des Systems der Hilfen zur Erziehung stets vor der Verpflichtung und Herausforderung, die vorhandenen Ressourcen so wirksam und effizient wie möglich einzusetzen, um für die benachteiligten Kinder und Jugendlichen den maximalen Nutzen zu erzielen.
Welche grundlegenden Bedingungen braucht es, damit die Kinder- und Jugendhilfe in der Lage ist, eine hohe, stabile und gesunde Leistungsfähigkeit zu realisieren? Dieser Frage gehen wir in unserem Modell der ergebnisorientierten Sozialpädagogik nach. Wir beschreiben darin die entscheidenden Schlüsselfaktoren und stellen für die Mitarbeitenden der freien und öffentlichen Träger grundlegende Methoden und Werkzeuge bereit, die eine hohe Leistungsfähigkeit unterstützen.
Was leistungsfähig macht
Unter Schlüsselfaktoren verstehen wir die Elemente, die die Kinder- und Jugendhilfe unbedingt braucht, um eine hohe Leistungsfähigkeit zu erzielen. Dazu zählen: Klarheit über den Existenzzweck und die Verantwortung der Institution, professionelle Wahrnehmung der Rollen und Aufgaben, Ausrichtung der Arbeit an vier zentralen Grundsätzen.
Alle Beteiligten müssen an einem Strang ziehen
Ein einheitliches und klares Verständnis über den Existenzzweck einer Institution ist wichtig, weil alle Mitarbeitenden ihre Entscheidungen und ihr Handeln auf eine gemeinsame Vorstellung gründen müssen, um wirksam und effizient zu sein. Bei unterschiedlichen oder gar konträren Vorstellungen kommt es zu Orientierungslosigkeit, Verunsicherung, Missverständnissen und Passivität.
Jede Organisation oder Institution, so auch die Kinder- und Jugendhilfe, rechtfertigt ihre Existenz nur durch den Nutzen, den sie anderen Teilen der Gesellschaft ermöglicht. Der Organisationszweck ist das alles übergreifende Ziel, welches realisiert werden soll und worin alle Leistungen der Beteiligten münden müssen. Der Zweck der Organisation wird durch folgende Frage bestimmt: "Welchen Menschen bringen wir durch unsere Bemühungen welchen Nutzen?"
Der Existenzzweck der Kinder- und Jugendhilfe ist eindeutig im § 1 SGB VIII beschrieben: "Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit."
Das heißt, dass die Kinder- und Jugendhilfe aktiv wird, wenn dieses Recht verletzt ist. Es verfolgt das generelle Ziel, benachteiligte Kinder und Jugendliche so zu unterstützen, dass sie in der Lage sind, grundlegend selbstständig und gemeinschaftsfähig zu leben.
Insofern ist es passender, von "Hilfen zur Entwicklung" zu sprechen. Erziehung ist hierbei die wesentliche Methode, um die gewünschten Resultate zu erreichen. Somit ist das generelle Ziel bei Rückführung eines Kindes in die Familie: Die Familie ist in der Lage, so stabil zusammenzuleben, dass Wohlergehen und Entwicklung des Kindes gesichert sind. Das heißt, die Eltern müssen sich durch die Hilfe neue Kompetenzen aneignen.
Knappe Ressourcen unter Zeitdruck gut einsetzen
Sehr eng mit dem Organisationszweck ist die Verantwortung verbunden, der sich das System der Hilfen zur Erziehung stellen muss. Besonders diese Verantwortung erfordert eine hohe Leistungsfähigkeit. Sie ergibt sich daraus, dass die zentralen pädagogischen Aufgaben, wie das Aufholen von Entwicklungsdefiziten, die Bewältigung von altersentsprechenden Entwicklungsaufgaben und das Verändern von Verhaltensmustern unter Zeitdruck erfolgen und mit begrenzten Ressourcen bewältigt werden müssen. Der Zeitdruck entsteht einerseits durch Zeitfenster in der Entwicklung, die genutzt werden müssen, und andererseits dadurch, dass die Hilfen nur über bestimmte Zeiträume genehmigt werden.
Der Umstand der begrenzten Ressourcen ergibt sich aus dem gesellschaftlichen Budget, welches den "Hilfen zur Erziehung" bereitgestellt wird. Dieses Budget deckt nicht im ausreichenden Maße den tatsächlichen Hilfebedarf ab, sondern reicht lediglich für ein Mindestmaß an Hilfen. Jeder Euro und jede andere Ressource, die durch unprofessionelles und nachlässiges Handeln fehlinvestiert werden, gehen auf Kosten der Kinder und Jugendlichen. Damit gibt es keinen Spielraum!
Klare Rollen, Aufgaben und Leitlinien
Die Funktionstüchtigkeit einer Institution wird grundlegend durch eine präzise Struktur, durch eine klare Bestimmung der Aufgaben und durch praktikable Leitlinien (Grundsätze) bestimmt. Für eine hohe Leistungsfähigkeit des Systems erachten wir die folgende Struktur für die Kinder- und Jugendhilfe als elementar: Die beiden entscheidenden professionellen Helfer des Systems, der öffentliche und der freie Träger der Jugendhilfe, stehen sich als Auftraggeber und als Dienstleister gegenüber. Sie müssen aus diesen Rollen heraus eine professionelle Zusammenarbeit gestalten. Die zentralen Aufgaben und Leistungen des öffentlichen Trägers der Jugendhilfe (Allgemeiner Sozialdienst; ASD) sind die zielorientierte Planung, die Organisation der Hilfe und die konsequente Steuerung der Hilfe.
Die zentralen Aufgaben und Leistungen des freien Trägers der Jugendhilfe sind die präzise Planung der Arbeit in einem pädagogischen Konzept und die zielgerichtete und systematische pädagogische Arbeit. Diese zeichnet sich aus durch:
- die messbare und eindeutige Beschreibung der angestrebten Entwicklungsresultate;
- die kooperative Erarbeitung von individuellen Arbeitskonzepten mit den Klient(inn)en;
- das Führen von Betreuungsplänen;
- den gezielten Einsatz von Methoden und Werkzeugen der pädagogischen Arbeit;
- präzise Leistungsabrechnungen im Zusammenhang mit den Zielen, beruhend auf dem Arbeitskonzept und den Betreuungsplänen.
Grundsätze für das Handeln
Grundsätze sind Prinzipien, die das Verhalten der Mitarbeiter einer Institution grundlegend steuern. Sie differenzieren richtiges und falsches beziehungsweise gutes und schlechtes Handeln und dienen als Leitlinie dafür, wie die Aufgaben erfüllt und die Werkzeuge eingesetzt werden.1 Die im Folgenden aufgeführten Grundsätze sind elementar für eine hohe Leistungsfähigkeit des Systems und gelten für das Handeln der Mitarbeiter(innen) der öffentlichen wie freien Träger der Jugendhilfe in der Bewältigung der oben beschriebenen zentralen Aufgaben. In der Organisation selbst müssen sie durch weitere Werte und Prinzipien im Rahmen des Organisationskonzeptes ergänzt werden.
"Ergebnisorientiert und systematisch":
Eine Aufgabe zu erfüllen bedeutet, ein bestimmtes Resultat zu erzielen. Ein professionelles und leistungsfähiges System misst seine Erfolge nicht an zufälligen Resultaten, sondern daran, ob geplante Ergebnisse erreicht worden sind. Das erfordert, dass alle professionellen Bemühungen bei der Bewältigung der oben beschriebenen Aufgaben zielgerichtet und methodisch durchdacht erfolgen müssen.
"Wertschätzend":
Dieses Prinzip bezieht sich auf die Zusammenarbeit der Menschen, die an dem Hilfeprozess teilnehmen. Es bestimmt insbesondere die Gestaltung der Arbeit mit den Menschen, die Hilfe in Anspruch nehmen. Sie erfahren Wertschätzung vor allem dadurch, dass sie mit ihren Problemen angenommen werden. Sie werden bei der Beschreibung von Problemlagen und der Entwicklung von Zielvorstellungen unterstützt. Der Prozess der Hilfeentscheidung ist ihnen bekannt, und sie kennen die Ziele der Hilfe.
"Transparent":
Alle Beteiligten haben während der Hilfeleistung zu jeder Zeit Klarheit über die angestrebten Entwicklungsziele, bisherige Erfolge und über die nächsten Ziele.
"Kontrolliert":
Alle Bemühungen werden regelmäßig und konsequent auf ihre Wirksamkeit und ihre Effizienz hin überprüft. Die Grundlage dafür sind das Arbeitskonzept und der Betreuungsplan.
"Ressourcenorientiert":
Die Anstrengungen in einem Veränderungsprozess beginnen nicht bei null. Alle Menschen, die Hilfe empfangen, besitzen interne und externe Potenziale, die ihnen helfen, die angestrebten Entwicklungsziele zu erreichen. Es gehört zur Pflicht der professionellen Helfenden, diese Ressourcen gemeinsam mit den Klient(inn)en zu entdecken und sie für den Entwicklungsprozess zu nutzen.
Detailliertes Arbeitskonzept
Die zentralen Planungswerkzeuge innerhalb des Konzepts der ergebnisorientierten Sozialpädagogik sind der Hilfeplan, in dem die Ziele der Hilfe formuliert sind, sowie das Arbeitskonzept. Besonders im Arbeitskonzept fließen alle oben beschriebenen Grundsätze zusammen.
Es wird von den freien Trägern gemeinsam mit den Klient(inn)en in einem mit dem Jugendamt abgestimmten Zeitraum erarbeitet und dient, sobald es vom ASD genehmigt worden ist, als Maßstab für den Erfolg und die Qualität der Leistung. Möglich wird dies, weil im Arbeitskonzept die beabsichtigten Entwicklungsergebnisse messbar beschrieben sind.
Im Arbeitskonzept sind folgende Aspekte beschrieben: die absoluten Entwicklungsziele, die vorhandenen Ressourcen, die angestrebten Teilziele für einen bestimmten Zeitraum (meist sechs Monate). Die allgemeinen Arbeitsschritte zur Erstellung des Arbeitskonzeptes sind folgende: 1. Bestimmung der "absoluten Entwicklungsziele"; 2. ressourcenorientierte Diagnostik; 3. Ableitung der Teilziele. Ein Arbeitskonzept wird entsprechend den zentralen Hilfen, wie Rückführung in die Herkunftsfamilie (oder Verbleib in derselben), Verselbstständigung sowie dauerhafte Unterbringung, spezifisch entwickelt.
So bestimmt zum Beispiel ein Team, welches mit Jugendlichen an dem Hilfeauftrag "Verselbstständigung" arbeitet, vor Beginn der Hilfe die absoluten Entwicklungsziele - also die Kompetenzen, die ein Jugendlicher besitzen muss, um selbstständig leben zu können. Zu Beginn der Hilfe werden diese mit dem Jugendlichen besprochen. Im Anschluss folgt die ressourcenorientierte Diagnostik. Von entscheidender Bedeutung ist, dass Entwicklungsziele immer messbar, das heißt sinnlich-konkret beschrieben werden (vgl. Abbildung). Erst dadurch sind eine gemeinsame Kontrolle aller Beteiligten und eine sinnvolle Teamarbeit möglich.
Anmerkung
1. Vgl. Malik, Fredmund: Unternehmenspolitik und Corporate Governance. Frankfurt/New York : Campus Verlag, 2008.