Ungleichheit von Einkommen gefährdet die Demokratie
Die Auswirkungen der multiplen Krisen der vergangenen Jahre auf die Einkommensungleichheit sind häufig noch uneindeutig. Effekte auf deren Niveau sind jedoch nur ein Aspekt, wie Krisen hier relevant werden können. Zu große Ungleichheiten und ihre individuellen Folgen gefährden die Grundlagen des demokratischen Systems, denn Einkommensunterschiede können Grund für eine Entfremdung von demokratischen Institutionen sein.
Heute ist Deutschland in vielerlei Hinsicht im Vergleich zu den 1990er-Jahren ein sehr ungleiches Land. Die Schere zwischen den Einkommen hat sich vor allem zwischen Ende der 1990er- und Mitte der 2000er-Jahre stark vergrößert.2 Die zunehmende Ungleichheit ging mit steigender Einkommensarmut einher, und dies vor allem in Form einer wachsenden Verfestigung prekärer Lebenssituationen: Für viele arme Haushalte wurde es schwieriger, aus Armut und niedrigen Einkommenspositionen aufzusteigen.3 In den 2010er-Jahren haben sich diese Trends etwas abgeschwächt. Es kam aber trotz guter konjunktureller Voraussetzungen nicht zu einem Rückgang von Armut und Einkommensungleichheit. Mit Beginn der Pandemie hat diese leicht zugenommen.4
Kein Geld, kein Vertrauen
Das Vertrauen in die demokratischen Institutionen hängt stark von der Einkommenshöhe ab (Abb. 1).5 Unter den Reichen gibt es nur wenige, die der Polizei oder dem Rechtssystem nicht vertrauen; unter den dauerhaft Armen sind es über 22 Prozent (Polizei) beziehungsweise mehr als ein Drittel (Rechtssystem). Ein geringes Vertrauen in den Bundestag geben weniger als 20 Prozent der Reichen, aber 47 Prozent der dauerhaft Armen an. Für das Vertrauen in politische Akteure zeigt sich eine starke Differenzierung vor allem zwischen den Reichen und den anderen Einkommensgruppen. Nur etwas mehr als ein Drittel der Reichen geben ein geringes Vertrauen in Parteien und Politiker:innen an. Unter den temporär und dauerhaft Armen sind es deutlich über die Hälfte aller Personen (s. Abb. 1).
Die Ergebnisse spiegeln sicherlich nicht ausschließlich kausale Effekte von Einkommensunterschieden wider, sondern lassen sich auch durch unterschiedliche Zusammensetzungen der Einkommensklassen erklären, zum Beispiel in Bezug auf Bildungsabschlüsse, Alter oder auch Erwerbsstatus. Dass diese Faktoren häufig mit dem Einkommen zusammenhängen, verdeutlicht aber auch, wie sehr sich die Lebensrealitäten verschiedener Einkommensklassen unterscheiden.
Die Einkommensungleichheit ist in Deutschland so hoch wie noch nie.6 Dabei spiegeln die Daten (2020) nicht die Folgen der seit 2021 steigenden Inflation wider. Tatsächlich hat die Teuerung Haushalte mit niedrigem Einkommen besonders getroffen.7 Obwohl sich die Inflation inzwischen auf sehr hohem Niveau etwas abgeschwächt hat, stellen die hohen Preise vor allem für diejenigen eine große Herausforderung dar, die auch zuvor schon die geringsten finanziellen Reserven hatten. Die Bundesregierung hat versucht, den Armen zu helfen, und insgesamt drei Entlastungspakete geschnürt. Diese haben gewirkt, waren aber eben nicht mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein und haben an den strukturellen Ursachen der wachsenden Ungleichheiten nichts geändert. Die Pandemie hat vor allem auch die Folgen unterschiedlicher Einkommenspositionen stärker hervortreten lassen: Arme sind etwa häufiger und schwerer an Corona erkrankt8 und stärker von psychischen Belastungen betroffen9. Reiche hingegen kamen mit Homeschooling besser zurecht.10 Personen mit einem großen finanziellen Polster, gesicherter Arbeit und guten Wohnbedingungen sind weitgehend unbeschadet durch die vergangenen Jahre gekommen. Für sehr viele Menschen am unteren Rand der Gesellschaft gilt das nicht. Sie mussten nicht nur zum Teil enorme finanzielle Einbußen hinnehmen, sie sehen sich auch seit Jahren mit großen Unsicherheiten konfrontiert. Auch wenn die gesellschaftlichen Auswirkungen der vergangenen Krisen in ihrer Breite noch gar nicht abzuschätzen sind, deutet vieles darauf hin, dass sie die soziale Spaltung in Deutschland vertieft haben. Was sich klar zeigt: Mit der steigenden sozialen Ungleichheit ist es auch zu einer Erosion des politischen Vertrauens gekommen.
Zentrale politische Institutionen und Akteure genießen im Jahr 2021 zum Teil bei über 50 Prozent der dauerhaft Armen nur noch geringes Vertrauen. Aktuelle Studien11 deuten an, dass das Vertrauen in politische Institutionen seither insgesamt eher zurückgegangen ist. Umso klarer zeigt dies, wie sehr Einkommensungleichheiten an den Pfeilern der Demokratie rütteln können. Es ist daher dringend geboten, diesen Entwicklungen politisch entgegenzutreten.
Der Spitzensteuersatz muss rauf
Armen Haushalten muss zunächst einmal finanziell geholfen werden. Wer seinen Lebensunterhalt ausschließlich oder im Wesentlichen mit Leistungen der Grundsicherung bestreiten muss (etwa Bürgergeld oder Grundsicherung im Alter), braucht Regelbedarfe, die armutsfest sind, die also ein Leben oberhalb der Armutsgrenze ermöglichen. Hier wurde bei der Einführung des Bürgergeldes die Chance nicht genutzt, die Regelsätze entsprechend anzuheben.12 Den zahlreichen Haushalten wiederum, die erwerbstätig, aber trotzdem von Armut betroffen sind, ist mit einer deutlichen Steigerung des Mindestlohns geholfen. Ein weiteres Bündel an Maßnahmen muss auf die Förderung sozialversicherungspflichtiger, angemessen entlohnter, sicherer Beschäftigungsverhältnisse gerichtet sein. Am oberen Ende der gesellschaftlichen Hierarchie ist es wichtig, die Reichen und Superreichen über Steuern wieder mehr an der Finanzierung des Gemeinwohls zu beteiligen. Es gilt den Spitzensteuersatz wieder anzuheben, eine progressive Vermögensteuer wiedereinzuführen und die durchaus gewollten Schlupflöcher in der Erbschaftssteuer zu schließen. Dabei geht es nicht darum, die Steuern für die Mitte der Gesellschaft zu erhöhen; es sind die Reichen und Reichsten dieser Gesellschaft, die einen größeren Beitrag zum Gemeinwohl leisten müssen. Solche Maßnahmen erhöhen die Legitimitätsbasis der Demokratie, indem sie die Lasten der Krisen gerechter verteilen - ein entscheidender Baustein dafür, das Vertrauen in die freiheitlich demokratische Grundordnung wieder zu stärken.
1. Dieser Artikel ist eine gekürzte Version von Brülle, J.; Spannagel, D.: WSI-Verteilungsberichts 2023 (https://tinyurl.com/nc24-verteilung).
2. Spannagel, D.; Molitor, K.: Einkommen immer ungleicher verteilt. WSI-Verteilungsbericht 2019. WSI Report Nr. 53, Düsseldorf, 2019.
3. Brülle, J.; Gangl, M.: Verfestigung von Armut und die zunehmende Bedeutung von Pfadabhängigkeiten im Lebenslauf. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 75 (1) 2023, S. 1-35.
4. Brülle, J.; Spannagel, D.: Einkommensungleichheit als Gefahr für die Demokratie. WSI-Verteilungsbericht 2023. WSI Report Nr. 90, Düsseldorf, 2023.
5. Arm sind Personen, wenn sie in einem Haushalt leben, der weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat (etwa 1200 Euro pro Monat für einen Singlehaushalt). Einkommensreichtum beginnt bei einem verfügbaren Haushaltseinkommen von mehr als dem Doppelten des mittleren Einkommens (etwa 4000 Euro/Monat, Singlehaushalt). Dauerhaft Arme waren zwischen 2017 und 2021 durchgehend, temporär Arme in maximal vier dieser Jahre arm. Mittlere Einkommen liegen zwischen 60 und 200 Prozent des Medians, Reiche haben ein Einkommen von über 200 Prozent.
6. Brülle, J.; Spannagel, D.: ebd., 2023.
7. Dullien, S.; Tober, S.: IMK Inflationsmonitor. IMK Policy Brief Nr. 152, Düsseldorf, 2023.
8. Wachtler, B. et al.: Sozioökonomische Ungleichheit und Covid-19. In: Journal of Health Monitoring 5 (S7) 2020,
S. 3-18.
9. Heisig, J. P.; König, C.; Löbl, S.: Ängste, Sorgen und psychische Gesundheit in der Corona-Pandemie. In: Badura, B. et al.: Fehlzeiten-Report 2021, Berlin/Heidelberg, 2021, S. 149-161.
10. Dietrich, H.; Patzina, A.; Lerche, A.: Social Inequality in the Homeschooling Efforts of German High School Students during a School Closing Period. In: European Societies 23 (sup1), 2021, S. 348-369.
11. Kohlrausch, B.; Hövermann, A.; Emmler, H.: Neue Befragungsergebnisse: Fast die Hälfte der Erwerbspersonen macht sich große Sorgen um sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft. Düsseldorf: WSI der HBS, 2023.
12. Blank, F.; Schäfer, C.; Spannagel, D. (2023): Signal-Störung der Ampel bei der Grundsicherung? WSI Report Nr. 91, Düsseldorf, 2023.