Digitale Zivilcourage gegen den Hass im Netz
Beleidigungen und Hass gibt es nicht erst seit dem Internet. Andere Gruppen abzuwerten, um die eigene Gruppe aufzuwerten, scheint seit Jahrtausenden ein probates Mittel des Machterhalts und der klaren Polarisierung von "Wir gegen die" zu sein. Dabei werden Gedanken wie Ungleichheit und Emotionen wie Wut ganz gezielt gesät, um in den Köpfen der Adressatinnen und Adressaten ganz wunderbar in Hass und Hetze zu erblühen. Mit der Erfindung des Buchdrucks und der Massenmedien wurden bereits in der Vergangenheit mächtige Werkzeuge geschaffen, um Gedanken, Emotionen und Ideologien in großem Umfang zu verbreiten.
Primär sind nicht die Medien das Problem, sondern die Menschen, die diese Medien verwalten und mit Inhalten füttern. Soziale Medien und Messenger haben diesen Mechanismus lediglich verstärkt, da sie Informationen sekundenschnell an jeden Ort und zu jeder Person dieser Erde transportieren können. Hinzu kommt, dass man vermeintlich anonym agiert und sich so eher traut, offen zu hetzen. Die Auswirkungen der eigenen Aussagen auf das Gegenüber bleiben meist unsichtbar, so dass man sich nicht mit den Konsequenzen seines verletzenden Verhaltens auseinandersetzen muss. Diese fehlende Resonanz kann so hemmungsloser machen.
Menschen folgen lieber Personen, die ihrer Meinung und ihrem Weltbild entsprechen. Im digitalen Raum kann man sich mit Tausenden von Leuten in Echokammern wiederfinden, in denen man sich wohlfühlt und bestätigt wird. In diesen Filterblasen stoßen diskriminierende Meinungen und falsche Aussagen kaum noch auf Gegenwehr und können sich so gegenseitig hochschaukeln und radikalisieren. Diskursräume werden vergiftet und viele verlassen die Grenzen des gegenseitigen Respekts und der Toleranz.
Die am 13. Februar 2024 veröffentlichte Studie des Kompetenznetzwerks gegen Hass im Netz mit dem Titel "Lauter Hass - leiser Rückzug" verdeutlicht eindrucksvoll, wie digitaler Hass den demokratischen Diskurs gefährdet. Betroffene berichten vor allem von sozialem Rückzug (41 Prozent) und psychischen Beschwerden sowie Problemen mit dem Selbstbild (jeweils 35 Prozent). Fast ein Drittel der Betroffenen reduzierte zudem seine Online-Aktivität und zog sich somit aus dem Internet zurück. Besonders alarmierend ist die Feststellung, dass drei Viertel der Befragten befürchten, dass durch Hass im Netz auch die Gewalt im Alltag zunimmt.1
Der sogenannte Silencing Effect
Alexandra Witting und Elisa Hoven von der juristischen Fakultät der Universität Leipzig forschen zu digitalem Hass und haben in ihrem Aufsatz mit dem Titel "Das Beleidigungsunrecht im digitalen Zeitalter"2 von 2021 den sogenannten "Silencing Effect" beschrieben. Dieser fußt auf einer Befragung mit folgendem Ergebnis: "…. 42 Prozent aller Befragten haben angegeben, dass sie aufgrund von Hassrede vorsichtiger eigene Beiträge im Internet formulieren oder darauf verzichten, etwas zu posten; bei den von Hate Speech betroffenen Personen sind es sogar 68 Prozent." Wer Hass und Hetze als Meinungsfreiheit deklariert, unterdrückt also die freie Meinungsäußerung vieler anderer Menschen. Im digitalen Raum sind diejenigen, die schweigen, dann nicht sicht- und wahrnehmbar.
Wie kann man also dafür sorgen, dass Menschen nicht leiser werden, sondern bestärkt werden, digitale Kommunikationsräume für sich zu nutzen? Die Antwort ist denkbar einfach. Wenn ein Shitstorm mit Hass und Hetze Diskurse vergiftet, dann kann ein Love-Storm mit positiven Kommentaren das komplette Gegenteil erzeugen.
Das Buch "Love-Storm - Das Trainingshandbuch gegen Hass im Netz"3 gibt dem Prinzip des Love-Storms einen simplen Äquivalenzbegriff: digitale Zivilcourage. "Mit digitaler Zivilcourage können und sollen Konflikte daher nicht gelöst, sondern deeskaliert werden. […] Ziel von Zivilcourage ist es dann, vor allem die negativen Wirkungen von Hass und Gewalt auf Angegriffene und Zuschauende einzudämmen. Das Handeln des Angreifenden ist dagegen eher nebensächlich. Im besten Fall gelingt es, dass die Angriffe eingestellt werden." Die Autorinnen und Autoren des Werkes sagen also nichts anderes, als dass man erst mal die Würze aus dem Konflikt nehmen muss, bevor man sich an die Bearbeitung und eventuelle Lösung macht.
Positive Kommentare beeinflussen die Debattenkultur
Personen, die digitale Kommentare absetzen, wollen wahrgenommen werden. Das ist das grundlegende Prinzip von Kommunikation. In digitalen Räumen, in denen der Hass dominiert, wird dieser als normale Kommunikation wahrgenommen und als Echokammer verstärkt. Hater erlangen Selbstwirksamkeit, weil andere Hater ihnen diese verleihen. Die sachliche und vernunftorientierte Diskussion verstummt (Silencing Effect). Finden sich im Kommentarbereich positive Kommentare, beeinflussen diese maßgeblich die Debattenkultur. Einerseits werden verschiedene Meinungen wieder sichtbar. Andererseits nehmen Angegriffene und Zuschauende Unterstützung wahr und können so mehr Selbstwirksamkeit erlangen. Der Hass verfehlt sein Ziel und versinkt in der Masse an positiven Kommentaren.
Die gemeinnützige Organisation für Menschenrechte im Netz "HateAid" umschreibt das Phänomen wie folgt: "Positive Kommentare können nicht nur das Unterstützungsgefühl verstärken, sondern auch Kreativität und Produktivität steigern. In einem positiven Umfeld fühlen sich Menschen ermutigt, ihre Ideen, Meinungen und Projekte zu teilen, was zu fruchtbaren Diskussionen, innovativem Denken und neuen Ideen führt. Online-Communitys, die auf positiven Interaktionen und Unterstützung basieren, ziehen Menschen an, die nach einer Umgebung suchen, in der sie sich frei äußern können, ohne Furcht vor Verurteilung oder Anfeindung."4
Eine Studie der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich zeigt ein weiteres wirksames Mittel.5 Wenn die Moderation von Kommentar- und Diskussionsräumen angestrebt wird, hilft vor allem eine Gegenreaktion, die Empathie wecken soll. So können zum Beispiel die Aussagen: "Ich finde, dass Sie mit Ihrer Aussage sehr viele Menschen verletzen" oder "Es gibt Menschen, denen tut das wirklich weh, wenn Sie solche Ausdrücke benutzen" die Quantität von Hassrede verringern. Das gelingt zwar nicht bei jeder Form von Hassrede. Die Studie zeigte jedoch, dass bei der Konfrontation von Hass eine empathische Gegenreaktion am wirksamsten sei. Verstärkt würde dies noch, wenn solch eine Gegenreaktion von mehreren verschiedenen Konten ausgeführt werden würde.
Positive Kommentare liken
Anstatt also Hass im Netz mit im schlimmsten Fall ebenso gewaltvollen Gegenkommentaren zu begegnen, sollte man den Hass in der Kommentarspalte zunächst überwältigen, indem man unabhängig davon positive Kommentare formuliert. Das kann sowohl Dankbarkeit als auch Freude über den zu kommentierenden Inhalt sein oder konstruktives und sachliches Feedback. Wer selber nicht kommentieren will, kann auch einfach positive Kommentare liken. Ist im digitalen Raum erst mal ein Normalzustand gesunder Kommunikation hergestellt, kann auch ein Diskurs stattfinden, der etwas Lösungsorientiertes hervorbringen kann. "Das Netz hat uns die Fähigkeit gegeben, unsere Gedanken und Gefühle weltweit in Sekundenschnelle zu verbreiten. Dabei Gutes zu teilen, liegt in unseren Händen", schreibt HateAid.
1. Kompetenznetzwerk gegen Hass im Netz:
Lauter Hass - leiser Rückzug. https://kompetenznetzwerk-hass-im-netz.de/lauter-hass-leiser-rueckzug, abgerufen am 28.6.2024.
2. Hoven, E.; Witting, A.: Das Beleidigungsunrecht im digitalen Zeitalter. In: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), 33/2021, S. 2397 f.
3. Eich, M.; Kunter, B.; Tholen, B.; Wutzler, M.: Love-Storm - Das Trainingshandbuch gegen Hass im Netz. Frankfurt: Wochenschau Verlag, 2022.
4. HateAid: Von Hass bis Harmonie: Die Macht der Kommentare. https://hateaid.org/die-macht-der-kommentare, abgerufen am 28.6.2024.
5. ORF: Empathie wirkt gegen Hass im Netz. https://science.orf.at/stories/3210268, abgerufen am 28.6.2024.
Digitale Nächstenliebe
DCV-Onlineredaktion fastet Hass
Digitale Nächstenliebe verbreiten: Das hatte sich die Onlineredaktion des Deutschen Caritasverbands für die vergangene Fastenzeit auf Facebook vorgenommen. Unter dem Motto "Hass-Fasten" pausierte die Redaktion für sechs Wochen lang ihre gewohnte Social-Media-Arbeit mit regelmäßigen Info-Postings. Die dadurch frei gewordenen Ressourcen nutzte das Team, um sich als Caritas Deutschland verstärkt in Diskussionen unter anderen Postings einzumischen.
Ziel war es, die sozialpolitische Perspektive der Caritas dort einzubringen, wo populistische Diskussionen am heftigsten geführt werden. Also genau dort, wo sich Menschen in Posts und Kommentaren menschenverachtend, rassistisch oder sexistisch äußern. Das heißt konkret: Das Redaktionsteam hat sich unter anderem in Diskussionen unter Posts von AfD-Mitgliedern wie Alice Weidel oder Björn Höcke und rechtsextremen oder populistischen Medien wie der Jungen Freiheit, aber auch der Bild-Zeitung eingemischt.
Es lohnt sich, dem Populismus etwas entgegenzusetzen
Das bringt doch nichts: Niemand lässt sich dadurch von einer anderen Perspektive überzeugen. Dieser Vorwurf trifft zum Teil zu. Die Diskussionen auf den genannten Kanälen sind von einem starken Fanatismus geprägt und es mag kaum gelingen, Ultras von einem anderen Verein zu überzeugen. Doch wie im Fußballstadion gibt es auch auf Facebook nicht nur die lauten Fans. Die Mehrheit bilden stille Mitleser:innen, die vielleicht mal mit einem Like leise applaudieren.
Für diese Gruppe hat sich der Einsatz gelohnt. Sie haben gesehen, wie sich die Caritas für Nächstenliebe und gegen Hass einsetzt. Dafür wurde Caritas Deutschland mit Hunderten von Likes belohnt. Ein einziger Kommentar unter einem Post von Alice Weidel brachte es beispielsweise auf fast 150 Likes. Ein weiterer Effekt: Einige dieser Facebook-Nutzer:innen wurden neue Follower der Facebook-Seite der Caritas Deutschland und beteiligen sich seitdem immer wieder positiv an den Diskussionen dort. Social-Media-Manager nennen das "erfolgreiches Community Building". Es lohnt sich also für die Caritas, ihren anwaltschaftlichen Auftrag auch im digitalen Raum ernst zu nehmen. Angesichts des Erstarkens rechtspopulistischer und rechtsextremer Strömungen wird dieser Auftrag umso wichtiger.
Jean-Marie Schaldach, bis September 2024 Onlineredaktion des DCV