Sexualität leben. Auch in Pflegeeinrichtungen
Ein doppeltes Tabu: Sexualität ist ein Thema auch bei alten Menschen und auch in katholischen Einrichtungen. Die bunte Vielfalt des Themas Sexualität wird in Pflegeeinrichtungen noch viel zu selten angesprochen. Es liegt in der Verantwortung der Führungskräfte, ein Klima zu schaffen, in dem Sexualität offen diskutiert und ausgelebt werden kann. Ziel muss es sein, Freiräume zu schaffen, damit die positiven Seiten der Sexualität erfahrbar werden können. Gleichzeitig sind Schutzräume vor sexuellen Übergriffen für Bewohnerinnen und Bewohner sowie Mitarbeitende zu schaffen.
Zwei Beispiele: Ein Pflegender wird von einem Bewohner gebeten, ihm pornografische Zeitschriften zu besorgen und den Kontakt zu einer Sexualassistentin herzustellen. Eine Bewohnerin fordert einen Auszubildenden zu sexuellen Handlungen auf.
Diese und andere Situationen treten in Pflegeeinrichtungen regelmäßig auf. Sexualität zu leben ist keine exklusive Angelegenheit der jungen Generation oder von gesunden Menschen. Sexualität ist im Alltag präsent, auch in Pflegeeinrichtungen. Es werden diejenigen damit konfrontiert, die dort arbeiten. In vielen Pflegeeinrichtungen wird das Thema Sexualität (leben) im Alter hauptsächlich im Rahmen von Präventionsschulungen gegen sexualisierter Gewalt behandelt. Die bunte Vielfalt des Themas wird dabei eher selten angesprochen. Viele Mitarbeitende sind unsicher oder nicht sprachfähig genug.
Dabei bleibt das sexuelle Interesse bei den meisten älteren Menschen bis ins hohe Alter vorhanden. Laut Grond1 geben die Hälfte der Frauen zwischen 60 und 80 Jahren und 90 Prozent der Männer zwischen 50 und 90 Jahren an, erotische Fantasien zu haben. Sexualität zu leben ist auch im Alter sowie bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit völlig normal.
Sexualität umfasst sämtliches Erleben von Lust und Leidenschaft
Sexualität ist mehr als nur Geschlechtsverkehr oder Petting. Sie umfasst sämtliche Bereiche des menschlichen Zusammenlebens, Empfindens und Denkens. Dabei geht es um das Erleben von Lust und Leidenschaft sowie um das Erfahren von Wärme, Geborgenheit und Vertrauen. Gesten der Zuneigung, Zärtlichkeiten, der Austausch von Blicken und Streicheln gehören ebenso dazu.
Wie kaum ein anderes ist das Thema Sexualität geprägt von Bildern, Erwartungen, Mythen und Träumen. Gleichzeitig gibt es kaum einen Bereich, in dem der Mensch in so großem Maße verletzlich ist.
Mitarbeitende sind unmittelbar konfrontiert
Ob Körperpflege oder Mobilisation, Essen anreichen oder Toilettengang - bei kaum einem anderen Beruf kommen Menschen einander so nah wie in der Pflege. Pflegende werden zuweilen als "Berufsberührer" bezeichnet. Denn die Berührung von Mensch zu Mensch ist sowohl wesentliches Merkmal als auch Medium pflegerischen Handelns. Über die Art und Weise, wie berührt wird, vermitteln sich unterschiedliche Informationen, die auf nonverbaler Ebene wahrgenommen werden.
Auch bei Menschen mit Demenz bleiben sexuelle Bedürfnisse erhalten, flammen wieder auf oder können sich sogar steigern. Ein Beispiel ist die sexuelle Enthemmung, die bei Menschen mit frontotemporaler Demenz häufig auftritt.
Es ist daher wenig überraschend, dass Pflegende in ihrer Arbeit mit den unterschiedlichen Facetten von Sexualität konfrontiert werden. Dies ist nicht immer angenehm für sie, da Pflegende Scham empfinden können, wenn sie Situationen erleben, die möglicherweise nicht ihrem Idealbild eines sexuell attraktiven Menschen entsprechen.2
Bisherige Studien zu sexuellen Bedürfnissen in Pflegeheimen zeigen, dass ein souveräner Umgang nur möglich ist, wenn sich Pflegende mit dem Thema Sexualität und auch mit der eigenen Sexualität auseinandersetzen. Dies ist eine wichtige Voraussetzung, um klarer mit den vielfältigen Alltagssituationen umzugehen.3
Erwartungen an katholische Einrichtungen
In Pflegeeinrichtungen stellt die Thematik oft ein Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und den Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner dar. Dies gilt besonders in katholischen Einrichtungen, in denen eine rigide Sexualmoral Spuren hinterlassen hat. In der Vergangenheit wurden sexuelle Handlungen nur dann als gut betrachtet, wenn sie der Fortpflanzung dienten. Die Sexualität alter oder homosexueller Menschen war ein Tabu.
Heute wird die Sexualität alter Menschen als Ausdruck eines verantwortungsbewussten Beziehungslebens auch moraltheologisch positiv betrachtet.4 Sie ist, wenn sie in gegenseitiger Achtung und Freiheit geschieht, in ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen ein wesentlicher Teil eines erfüllten Lebens.
Grundgesetz sichert sexuelle Selbstbestimmung auch im Alter
Neben den kirchlichen Fragen erfordert ein verantwortlicher Umgang mit Sexualität in Pflegeeinrichtungen auch die Kenntnis rechtlicher Rahmenbedingungen. Das Grundgesetz (GG) sichert das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung zu5, welches durch die Heimgesetze der Länder in besonderer Weise aufgegriffen wird: Sexuelle Selbstbestimmung ist durch die Einrichtungen zu ermöglichen.6
Das Strafgesetzbuch (StGB) sieht verstärkt den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung vor: Bewohnerinnen und Bewohner von Senioreneinrichtungen erfahren dabei einen besonderen Schutz. Eine Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung kann durch
Mitbewohnende, Angehörige und Mitarbeitende geschehen (sexueller Übergriff, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung7) und Mitarbeitende können sich strafbar machen, wenn sie nicht einschreiten (unterlassene Hilfeleistung8). Jede sexuelle Beziehung zwischen Bewohnerinnen beziehungsweise Bewohnern und Mitarbeitenden ist für Mitarbeitende strafbar (sexueller Missbrauch von Gefangenen, behördlich Verwahrten oder Kranken und Hilfsbedürftigen in Einrichtungen9), selbst wenn sie von der Bewohnerin beziehungsweise dem Bewohner gewünscht wird.
Einrichtungen haben viele Möglichkeiten zu handeln
Es gehört zu den Aufgaben der Führungskräfte, mit ihren Mitarbeitenden in den Einrichtungen eine Atmosphäre zu gestalten, in der Sexualität thematisiert und gelebt werden kann. Zentral ist der Schutz der Intimsphäre der Bewohnerinnen und Bewohner sowie das Commitment, dass einvernehmliche Sexualität Ausdruck von Lebensfreude und einer lebendigen Atmosphäre im Seniorenheim ist. Pflegende können Bewohnerinnen und Bewohner dabei unterstützen, Lebensfreude und Glück zu erleben. Zum Beispiel, indem sie Kontakte fördern und nach Lösungen suchen, die Wünsche von Bewohnerinnen und Bewohnern zu erfüllen. Pflegende sollten bereit sein, diskret und sensibel nach Möglichkeiten zu suchen, Freiräume zu schaffen, die vielen positiven Seiten von Sexualität zu leben.
Das Recht, die eigene Sexualität auszuleben, stößt an Grenzen, wo andere Menschen belästigt oder bedrängt werden. Ursachen für grenzüberschreitendes Verhalten müssen identifiziert und Lösungsansätze zum Schutz der Betroffenen gefunden werden. Dies gilt nicht nur für die Bewohnerinnen und Bewohner, sondern auch für Mitarbeitende oder Besuchende. Instrumente wie die ethische Fallbesprechung können dabei hilfreich sein. Ebenso müssen Träger und Einrichtungen feste Ansprechpartner benennen und Meldewege etablieren.
Mitarbeitende sollten außerdem vorbereitet sein, im Pflegeheim mit dem Thema Sexualität konfrontiert zu werden. Daher sollte die Thematik in das Einarbeitungskonzept integriert werden, ebenso wie in verschiedene Besprechungen auf Leitungsebene und fallbezogen, wenn entsprechende Fragestellungen auftreten, die die Bewohnenden betreffen.
Eine Voraussetzung für einen reflektierten Umgang mit der Sexualität älterer Menschen ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität der Mitarbeitenden. Wie bei allen ethischen Fragen besteht auch beim Thema "Sexualität im Alter" Bedarf an Schulungen und Reflexionsräumen. Zudem ist eine Kultur der Achtsamkeit und des Mutes erforderlich, in der offen über ungewohnte oder problematische Situationen sowie moralische Konflikte gesprochen wird und gemeinsam mit den Beteiligten abgestimmte Lösungen gesucht werden.
1. Grond, E.: Sexualität im Alter. Was Pflegekräfte wissen sollten und was sie tun können. Hannover: Schlütersche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, 2., akt. Aufl., 2011, S. 43.
2. Kleinevers, S.: Sexualität und Pflege: Bewusstmachung einer verdeckten Realität. Bremer Schriften, Hannover: Schlütersche Verlagsgesellschaft mbh & Co. KG, 1. Aufl., 2004, S. 65.
3. Van der Vight-Klußmann, R.: (Kein) Sex im Altenheim. Körperlichkeit und Sexualität in der Altenhilfe. Hannover: Schlütersche Verlagsgesellschaft, 2014, S. 57.
4. Marienhaus Stiftung; Hildegard-Stiftung Trier; Verband katholischer Altenhilfe Deutschland e.V. (VKAD): Konzept "Sexualität leben" in Einrichtungen der Altenpflege. Berlin, 2. Aufl., 2023.
5. Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG
6. Zum Beispiel § 1 Abs. 4 Ziff. 3 und 4 WTG NRW, § 1 Abs. 1 Ziff. 1, 2 und 6 LWTG RLP.
7. Gemäß § 177 Abs. 1 und 2 StGB
8. § 323 c StGB.
9. § 174 a StGB.