Wie kann nach den Gräueltaten Frieden gelingen?
Von 2020 bis 2023 war Nordäthiopien von einem Bürgerkrieg zwischen der Zentralregierung mit Unterstützung eritreischer Truppen und der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) betroffen. Über 600.000 Menschen starben durch Gewalt und an Hunger. Durch Racheakte der nationalen äthiopischen Truppen sowie der eritreischen Streitkräfte wurden systematisch Zivilist:innen ermordet, Wasserstellen, Schulen und Krankenhäuser zerstört, vandalisiert oder geplündert sowie Ausrüstung verbrannt.
Fast jede Familie im Tigray hat Verluste zu beklagen: Sie verloren Angehörige, sie verloren ihre kleinen Bauernhöfe, sie verloren ihr Hab und Gut, als sie geflohen sind, um ihr Leben zu retten. Die Überlebenden sind traumatisiert. Kann in so einer Situation Frieden gelingen?
Dieser kriegerische Konflikt blieb von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbeachtet. Die Zentralregierung hatte die gesamte Region Tigray abgeriegelt, die Stromversorgung gekappt, den Zugang zum Internet unterbunden. Nur auf Umwegen gelangten Informationen in die Welt. Auch jetzt noch ist es sehr schwierig, als Journalist ein Visum zu bekommen, um in dieses Gebiet zu reisen.
Zwei Mitarbeitende von Caritas international konnten vor wenigen Wochen in den Tigray reisen und die von Caritas international finanzierten Projekte für die notleidende Bevölkerung besuchen.
Auf ihrem Besuch trafen sie auch Bischof Tesfaselassie Medhin in seinem Bischofssitz in Adigrat. Er ist das Oberhaupt der katholischen Eparchie Adigrat. Dort hat er jeden Tag des Bürgerkriegs mit seinen Landsleuten miterlebt und überlebt. Seit Ausbruch des Krieges hat er Adigrat nicht mehr verlassen. Im Gespräch berichtet er von der Situation und von seiner Hoffnung auf Frieden:
"Es waren schreckliche Jahre. Schon vor dem Bürgerkrieg haben im Tigray die Menschen unter der Klimakrise gelitten. Der ausbleibende Regen in den letzten Jahren verursachte eine große Dürre und führte dazu, dass die Ernten nicht ausreichend waren, um die Menschen zu ernähren. Dann kam Corona und dann der Bürgerkrieg."
Hunderttausende Menschen haben während des Krieges ihr Leben verloren, Hunderttausende sind vertrieben im eigenen Land. Noch immer halten eritreische Soldaten im Norden Tigrays viele Dörfer besetzt. Die Menschen wünschen sich so sehr, nach Hause zurückkehren und wieder ein Leben in Würde führen zu können. Es ist so schmerzhaft, dass die Soldaten Mädchen und Frauen vergewaltigt, Häuser und Felder zerstört, Saatgut verbrannt und alles gestohlen haben, was nicht niet- und nagelfest war. Sie haben auch nicht vor unserer Kirche in Adigrat haltgemacht", berichtet er weiter.
"Wenn ihr mich erschießen wollt, tut es!"
Bischof Medhin stockt im Gespräch und blickt auf die Wand gegenüber seinem Schreibtisch. Dort ist ein Bildnis der Mutter Maria zu sehen. Als hätte die Betrachtung des Bildnisses ihm Energie gegeben, spricht er weiter. "Eines Abends während des Gottesdienstes sind die Soldaten in unsere Bischofskirche eingedrungen, mit ihren Gewehren. Sie standen bereits wenige Schritte vor dem Altar. Da bin ich gemeinsam mit meinen Mitbrüdern auf die Soldaten zugegangen. Mit erhobenen Händen. Sie haben die Gewehre auf uns gerichtet. Ich habe zu ihnen gesagt: Wenn ihr mich erschießen wollt, tut es. Hier ist mein Platz. Aber lasst meine Mitbrüder, lasst die Menschen hier in der Kirche am Leben. Die Soldaten waren sehr wütend und haben gebrüllt. Ich habe auf sie eingeredet. Und nach langer Zeit wurden sie ruhiger. Sie wollten Geld, aber wir hatten kein Bargeld. Dann verlangten sie alle Autoschlüssel. Sie haben alle 15 Autos der Diözese, darunter die 13 Autos, die wir für unsere soziale und humanitäre Arbeit dringend benötigen, einfach gestohlen. Aber sie haben uns am Leben gelassen."
Die Menschen wissen, dass die katholische Kirche hilft
Der Anteil an katholischen Christ:innen in Äthiopien ist mit unter einem Prozent sehr gering. Aber die humanitäre Arbeit der katholischen Kirche ist sehr geschätzt, insbesondere im Tigray, wo die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der katholischen Kirche und ihren Ordensgemeinschaften eine starke Verankerung in der lokalen Bevölkerung haben. Die Menschen wissen, dass die katholische Kirche in der Not hilft. Seit mehr als zwei Jahrzehnten finanziert das weltweite Netzwerk der Caritas - darunter Caritas international - die Hilfen der katholischen Partner vor Ort. Der Zentralregierung war dies während des Bürgerkriegs ein Dorn im Auge. So waren unter anderen drei Schwestern der Kongregation der Daughters of Charity über Monate inhaftiert.
Bischof Medhin drängt auf die vollständige Umsetzung des Friedensabkommens von Pretoria, insbesondere auf den Abzug der Truppen aus Tigray und die Rückkehr der mehr als eine Million Binnenvertriebenen in ihre Häuser und Bezirke sowie die Wiederherstellung der humanitären Nahrungsmittelhilfe.
"Die Bewältigung sowohl des Konflikts als auch der Dürre ist entscheidend für die Rettung von Menschenleben, den Wiederaufbau der Region, die Wiederherstellung der Landwirtschaft und das Wohlergehen der betroffenen Bevölkerung. Mehr als eine Million Menschen leben seit Beginn des Krieges im Jahr 2020 in Tigray unter katastrophalen Bedingungen in Zelten und behelfsmäßigen Schulgebäuden", beklagt Bischof Medhin. "Die verheerenden Auswirkungen des Bürgerkriegs auf die landwirtschaftliche Infrastruktur, einschließlich der Bewässerungssysteme, der landwirtschaftlichen Betriebe und des Viehbestands sind deutlich sichtbar. Die Menschen hungern. Jeden Tag gibt es neue Meldungen: Gestern wurden aus einem Dorf nahe der eritreischen Grenze 56 Menschen gemeldet, die in den vergangenen Tagen verhungert sind. Hunderttausende wurden von ihrem Land vertrieben. Die Soldaten haben die landwirtschaftlichen Geräte entweder mitgenommen oder verbrannt, auch das Saatgut wurde vernichtet. Die eritreischen Soldaten müssen nach Eritrea zurückkehren, damit die Menschen wieder in ihr Zuhause können und ihr Land bestellen können."
Wasserinfrastrukturen wie Brunnen, Reservoirs und Bewässerungssysteme wurden beschädigt oder zerstört. Die Zerstörung der Wälder und der Vegetation verschlimmert die Dürresituation, da die Wasserrückhaltung und die Grundwasserneubildung verringert werden. Bischof Medhin sagt: "Die Brunnen und Wasserreservoirs, die auch mit Hilfe der deutschen Caritas gebaut wurden, sind ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen. Sie sind allerdings so solide gebaut, dass wir sie wieder instand setzen können. Unser diözesanes Koordinationsbüro versucht zusammen mit unseren internationalen Partnern - auch Caritas Deutschland - die Wassersysteme zu reparieren. Bis dahin werden wir Wasser mit Fahrzeugen verteilen."
"... damit endlich Versöhnung wird"
"Während des Kriegs war alle Kommunikation abgeschnitten. Es gab keinen Strom, keine Telefonverbindungen, kein Internet. Die Zentralregierung hat uns unsichtbar gemacht für den Rest der Welt. Wir konnten niemanden davon erzählen, was hier passiert ist. Niemand hat uns zugehört. Und wenn einem niemand zuhört, ist dies wie ein kleiner Tod. Aber wir sind nicht gestorben, wir leben. Und jetzt können wir unsere Erlebnisse erzählen. Die Welt muss von den Gräueltaten erfahren. Die Schuldigen müssen bestraft werden, damit endlich Versöhnung möglich wird: Nur so kann Frieden einkehren."
Auch während des Bürgerkriegs haben die Partner von Caritas international, darunter die Daughters of Charity in Mekelle und auch ADCS Adigrat Diocese Catholic Secretariat Nothilfe geleistet mit der Verteilung von Nahrungsmitteln, Hygieneartikeln und Wasser. Unter großem persönlichem Einsatz - oft unter Lebensgefahr - sind die Helferinnen und Helfer zu Fuß unterwegs gewesen, um die Hilfsgüter zu verteilen. "Die Schwestern haben uns davor bewahrt, zu verhungern", so eine der Familien in Mekelle, die während des Bürgerkriegs Nahrungsmittel erhalten haben. Nun gilt es, den Wiederaufbau der Wasserinfrastruktur und der Schulen zu unterstützen.
Zahlen, Daten, Fakten
Auswirkungen des Bürgerkriegs
Über 600.000 Menschen sind an den Folgen des Bürgerkriegs verstorben. Eine Million Menschen sind vertrieben.
Bildung:
2,3 Millionen Kinder können nicht die Schule besuchen. 60 Prozent dieser Kinder werden bereits im dritten Jahr in Folge nicht beschult. 2270 Schulen wurden teilweise oder vollständig zerstört. Die anhaltende Schulschließung durch Corona und den Bürgerkrieg hat das Schutzgefühl der Kinder schwer in Mitleidenschaft gezogen. Mit steigendem gesellschaftlichem Stress hat auch die Gewalt gegen Kinder zugenommen.
Wasser:
72 Prozent der Wasserinfrastruktur sind teilweise oder vollständig zerstört. Trinkwasseranlagen wie auch landwirtschaftliche Bewässerungssysteme sind im klimatisch prekären Tigray Schlüsselinfrastruktur zur Bewältigung regelmäßiger Trockenperioden. In den meisten Fällen wurden gezielt zentrale Elemente der Wassersysteme, zum Beispiel Generatoren, Verteiler oder Wassertanks zerstört. In einigen Fällen ist eine gezielte Reparatur der Wasseranlagen möglich, in anderen Fällen müssen neue Brunnen gebohrt werden. Die Kosten hierfür können aber von der Bevölkerung nicht getragen werden. Die Bevölkerung ist daher auf alternative Wasserquellen, vor allem Oberflächenwasser umgestiegen. Als Folge verbreiten sich Infektionskrankheiten wie Cholera, Malaria, Tollwut und Anthrax.
Gesundheit:
853 Gesundheitsinstitutionen (Krankenhäuser, Erstversorgungsstellen, mobile Kliniken) sind vollständig oder teilweise zerstört, Ausrüstung wurde geplündert, inklusive medizinischer Ausrüstung. Dies hat die Gesundheitsversorgung in Tigray um Jahrzehnte zurückgeworfen. Ein Großteil des medizinischen Personals hat Tigray verlassen, auch weil Ärzte und anderes medizinisches Personal gezielt von den bewaffneten Akteuren getötet wurden. Die Menschen im Tigray sind traumatisiert.