Gesundheitliche Prävention im Alter scheitert an Finanzierung
Etwa 90 Prozent aller Seniorinnen und Senioren in Deutschland möchten auch im (hohen) Alter und bei Pflegebedürftigkeit zu Hause leben.1 Das wird - aufgrund der Häuslichkeit und der fehlenden sozialen Unterstützung oder aufgrund der Schwere der Pflegebedürftigkeit - nicht immer möglich sein. Aber mit einem gewissen Maß an Vorsorge, Vorbereitung und Gesundheitsprävention lässt sich die Übersiedlung in ein stationäres Setting zumindest hinausschieben beziehungsweise dem Leben in der eigenen Häuslichkeit auch bei Einschränkungen ein gesteigertes Maß an Lebensqualität abgewinnen. Entsprechend sind in der Pflegeforschung diverse Programme "präventiver Hausbesuche" entwickelt worden, in deren Rahmen auf kommunaler Ebene Seniorinnen und Senioren hinsichtlich ihres möglichen Pflegestatus sowie der zustehenden und erreichbaren Assistenz- und Betreuungsmöglichkeiten beraten wurden.2 Zudem bieten Krankenkassen, aber auch kommunale oder kirchliche Erwachsenenbildungseinrichtungen sowie Sportvereine Präventionsprogramme an, bei denen die Teilnehmenden sich hinsichtlich körperlicher Fitness, Ernährung oder finanzieller Unterstützung informieren oder durch gezielte Maßnahmen ihre Gesundheit stabilisieren können. Das Problem: Die (Pflege-)Fachkräfte der Hausbesuchsprogramme können zu praktischen Maßnahmen nur raten. Zur Umsetzung verlangen die Programme der verschiedenen Anbieter zusätzliche Schritte, die Eigeninitiative und kontinuierliche Beteiligung voraussetzen.
Eine Kombination aus Beratung und Training
Um diese Lücke zu schließen, entwickelte der Diözesan-Caritasverband für das Bistum Aachen gemeinsam mit dem Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung (dip) eine Kombination von Beratung und Training. Das Präventive Alltagskompetenztraining für Seniorinnen und Senioren (PAKT) wurde von der Stiftung Wohlfahrtspflege des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW) "Pflege innovativ" für drei Jahre zwischen 2016 und 2019 gefördert. Dabei wurde ein individualisierbares Programm zu Beratung, Schulung und Training in der eigenen Häuslichkeit von alten Menschen konzipiert. Hinzu kam die Qualifizierung der entsprechenden Fachkräfte; ein Jahr lang wurde das Programm mit 121 Frauen und Männern erprobt und schließlich wissenschaftlich evaluiert.
Das Programm wurde in drei Quartieren in Aachen, Mönchengladbach und im Kreis Heinsberg angeboten und über die lokale Presse, Arztpraxen oder Apotheken beworben. Angesprochen wurden alle Seniorinnen und Senioren (SuS) in diesen Quartieren, die sich Gedanken um ihre Zukunft machten und eine (kostenlose) Beratung und Unterstützung bei der Gestaltung eines sicheren, lebenswerten und möglichst lange selbstständigen Lebens in der eigenen Häuslichkeit in Anspruch nehmen wollten. Die teilnehmenden Frauen und Männer waren zwischen 64 und 95 Jahren alt (Durchschnitt: 80,6) und je zur Hälfte ohne Pflegegrad oder nach Pflegegrad eins bis drei anerkannt. Bis zu drei Hausbesuche in der ersten Phase dienten dem Vertrauensaufbau sowie der Bestandsaufnahme der äußeren Lebensbedingungen, der Vorstellung von Lebensqualität und der Wünsche an eine kurzfristige Unterstützung sowie an die längerfristige Lebensgestaltung. Für ein Drittel reichte die Teilnahme an diesem ersten Teil des Programms aus. Ein zweites Drittel nahm noch zwei bis drei weitere Kontakte in Anspruch, in denen zum Beispiel ein Notfallkoffer gepackt, Versorgungspläne für die Haustiere erarbeitet, die Küche umorganisiert, Stolperfallen entfernt und die Medikamenteneinnahme geordnet wurde. Weiter checkten die Fachkräfte mit den SuS Hilfeberechtigungen sowie Unterstützungsmöglichkeiten im Sozialraum und in der Nachbarschaft ab. Das letzte Drittel an Teilnehmenden wiederum stieg in umfangreichere Trainingsprogramme ein (Koordinations-, Bewegungs- und Gedächtnistraining), ließ sich von den Fachkräften nach langen Jahren wieder einmal aus dem Haus begleiten und nahm an den angebotenen Gruppentreffen teil. Dazu wurden neun bis elf Termine in Anspruch genommen.
Das Programm orientiert sich an den konkreten Bedarfen
Die Evaluation des Programms mit Hilfe einer qualitativen Datenauswertung, basierend auf Beobachtungen der Fachkräfte während des Programms, der Nachbefragung aller SuS zum Abschluss ihres jeweiligen individuellen Programms sowie einer Nachbefragung bei einem Drittel der Teilnehmenden drei Monate nach dem Abschluss erbrachte fast durchgehend Fortschritte etwa hinsichtlich Informiertheit, Mobilisierung, Vernetzung und Teilhabe. Vor allem aber stiegen das Wohlbefinden und die Zuversicht, die eigene Alterssituation aktiv gestalten zu können, was eine umfassende Steigerung der Lebensqualität mit sich brachte. Diese guten Ergebnisse verdankt das Programm dem "adaptiven" Zugang - nicht die SuS mussten sich in ein vorgefertigtes Präventionsprogramm einordnen, sondern das Programm wurde nach einer intensiven Phase des Kennenlernens und des Vertrauensaufbaus an die aktuellen Bedarfe und Möglichkeiten der SuS angepasst.
Sackgasse Finanzierung
Doch genau dieser Ansatz des Programms, Menschen individuell-präventiv zu ermutigen und zugleich zu befähigen, ihre Situation proaktiv in den Blick zu nehmen und unter Anleitung handelnd zu gestalten, trug bereits den Kern des Scheiterns einer dauerhaften Fortführung in sich: Um die ermutigenden Resultate zumindest in ein weiteres Erprobungsprojekt zu überführen oder sogar ein Ausrollen auf viele Pflege- und Beratungsdienste möglich zu machen, wurde eine Regelfinanzierung geprüft nach § 5 SGB XI, nach § 20 SGB V oder im Rahmen kommunaler Daseinsvorsorge als Angebot einer sozialraumorientierten Prävention. Alle drei Wege erwiesen sich als Sackgassen.
Eine Förderung nach SGB XI fiel gleich aus zwei Gründen aus: Zum einen wären alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer ausgeschlossen gewesen, die noch keinen Pflegegrad hatten - und gerade die haben vielfach stark profitiert, weil sie sich erstmals aktiv mit ihrer künftigen Lebenssituation auseinandergesetzt haben. Vor allem aber, und das erscheint besonders bitter, ermöglicht das SGB XI zwar individualisierte Präventionsangebote, aber nur im stationären Kontext, also erst dann, wenn die Senior:innen ihre Häuslichkeit aufgegeben haben.
Kommunal Verantwortliche, die in einem Beirat von Anfang an beteiligt waren, zeigten sich sehr interessiert und von den Ergebnissen erfreut, sahen aber keine Möglichkeit der kommunalen Förderung.
Einschränkungen im Alter sind keine Einzelprobleme
Blieb der § 20 SGB V, zu dem es auch gemeinsam mit Kassenvertreter:innen Überlegungen für ein Anschlussprojekt gab. Drei Probleme haben letztlich davon abgehalten, erheblich in die Vorbereitung eines Antrags auf Zulassung nach § 20 zu investieren: Zunächst engt der genannte Paragraf die Präventionskonzepte auf unterschiedliche gesundheitliche Einzelprobleme ein, etwa Mobilitäteinschränkung, Ernährung, Stressbewältigung oder Sucht, die auch im Vorhinein bekannt und benannt sein müssen. PAKT als adaptives Programm dagegen versteht die Einschränkungen im hohen Alter als multimodales Phänomen psychophysischer Herausforderungen. Sie müssen in einem spartenübergreifenden Ansatz und nicht auf die einzelne Erkrankung, sondern auf die Lebenssituation ausgerichtet bearbeitet werden. Zum Zweiten bezieht sich § 20 auf Gruppenangebote, die in diesem Programm durchaus eine Rolle spielen - aber als späterer Schritt zur Wiedergewinnung von psychosozialen Kompetenzen. Zunächst müssen die SuS in dem individuellen Beratungs- und Begleitungsprogramm sensibilisiert und ermutigt werden, ehe sie gegebenenfalls auch von gemeinsamen Angeboten profitieren können.
Das dritte Problem: Die Anerkennung von Präventionsangeboten nach § 20 verlangt von den "Kursanbietern" spezielle Qualifikationen als Trainer und Therapeuten, während PAKT-Berater:innen und Trainer:innen als Grundqualifikation eine Ausbildung entweder als Pflege- oder Familienpflegefachkraft mitbrachten und mit generalistischen Kompetenzvertiefungen in den Bereichen Beziehungsaufbau, begleitender Kommunikation und sodann verschiedenen Präventionsprogrammen weitergebildet wurden.
Trotz allem war Ende 2019 eine mögliche nächste Erprobungsstufe in Abstimmung mit einer Krankenkasse konzipiert und es wurden die Fühler nach Pflegediensten ausgestreckt, die das Konzept in die Fläche bringen wollten. Insgesamt war aber klar, dass zur Anpassung an die Erfordernisse des SGB V Kompromisse nötig gewesen wären, die den personorientierten, dynamischen und ganzheitlichen Charakter des PAKT-Programms massiv beeinträchtigt hätten. Die heraufziehende Covid-Pandemie sorgte dafür, dass der DiCV Aachen als Spitzenverband, vor allem aber die infrage kommenden Dienste und nicht zuletzt die alten Menschen mit ganz anderen Problemen konfrontiert waren. Immerhin konnten Pflegedienste einzelne Elemente aus dem Programm übernehmen, etwa in ihre Pflegebesuche nach § 37,3 SGB XI. Die bereits für 2025 beschlossene Öffnung des § 5 SGB XI, zumindest modellhaft auch für Präventionsangebote im häuslichen Bereich, eröffnet vielleicht doch noch die Möglichkeit, die ermutigenden Erfahrungen mit einem beziehungsorientierten Beratungs- und Begleitungsprogramm weiterentwickeln zu können.
1. Bundesministerium für Bildung und Forschung: Newsletter 85, September 2017, Kurzlink: https://tinyurl.com/4p8kcu27, abgerufen am 18. März 2024.
2. Vgl. zu den folgenden Ausführungen den umfassenden Dokumentationsband: Weidner, F.; Wittrahm, A. (Hrsg.): PAKT. Kompetenzerhalt und soziale Teilhabe - Präventives Alltagskompetenztraining. Freiburg: Lambertus, 2020, hier S. 27-37.