Menschen im Seniorenheim wünschen sich Intimität
Sexualität hat viele Facetten. Die Art, wie sie gelebt wird, ist Ausdruck der eigenen selbstbestimmten Persönlichkeit und somit auch ein wesentlicher Teil eines gelingenden Lebens. Dieses Bedürfnis nach menschlicher Nähe, Zuneigung und Intimität bleibt auch im Alter erhalten. "Auch im Seniorenheim erleben wir tagtäglich, dass Sexualität ein Grundbedürfnis vieler Bewohnerinnen und Bewohner ist", berichtet Jasmin Becker. Die Einrichtungsleiterin des Marienhaus Seniorenheims Josef-Ecker-Stift in Neuwied ist seit 15 Jahren in der Pflege tätig und nimmt die unterschiedlichen Bedürfnisse der Bewohner:innen nach körperlicher Nähe wahr. Vor allem Menschen, denen Sexualität ihr ganzes Leben lang wichtig war, wird sie es auch im Alter bleiben. "Der Wunsch nach körperlicher Nähe und zärtlichen Berührungen endet nicht mit dem Einzug in ein Seniorenheim oder mit zunehmender Gebrechlichkeit", so ihre Erfahrung. "Wir Pflegekräfte wissen und akzeptieren das. Wir gehen damit offen, neutral und wertfrei um." In der Gesellschaft ist es jedoch nach wie vor ein Tabuthema.
Einige Bewohnerinnen und Bewohner äußern beim Gespräch zum Einzug, dass es ihnen wichtig ist, ihre Sexualität auch in ihrem neuen Zuhause, dem Seniorenheim, zu leben. Sie erhalten dann zum Beispiel entsprechende Besuche und ziehen sich mit der Person in ihr Zimmer zurück. "Für uns ist es selbstverständlich, dass wir ihnen das Recht auf Privatsphäre und die Gestaltung ihres eigenen Lebens zugestehen. Deshalb sorgen wir dafür, dass sie nicht gestört werden", berichtet Jasmin Becker. Das gehört zu ihrer Lebensqualität. "Wir möchten, dass unsere Bewohnerinnen und Bewohner Lebensfreude und Glück erleben können. Deshalb berücksichtigen wir ihre Wünsche und erfüllen sie, wenn möglich", so Jasmin Becker. Dazu gehört ein geschützter Raum, in dem sie ihre Sexualität leben können, wie sie es möchten.
Es gibt auch immer wieder Bewohnerinnen und Bewohner, die sich im Seniorenheim verlieben, eine neue Beziehung aufbauen und zärtlich miteinander umgehen. Ihnen wird die Möglichkeit eröffnet, ihre Gemeinsamkeit zu leben. Wenn sie das wollen, dürfen sie in ein Zweibettzimmer ziehen. "Wir stellen auch die Betten nebeneinander, wenn sie das möchten", sagt sie. Das seien sehr schöne herzerwärmende Geschichten, über die sich auch die Pflegekräfte freuen.
Mitarbeitende brauchen Konzepte zum Umgang mit Sexualität
Die Marienhaus Stiftung und die Hildegard Stiftung haben schon 2017 ein Konzept zum Thema "Sexualität leben" in den Seniorenheimen entwickelt, in dem die Thematik aus den verschiedenen Blickwinkeln betrachtet wird. Das Konzept bietet einleitend wissenschaftlich fundierte Informationen zum Thema Sexualität im Alter und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen Überblick über den rechtlichen Rahmen, in dem sie sich bewegen. Der sich anschließende Leitfaden zeigt Optionen und Empfehlungen auf, wie die Pflegenden bestimmten Situationen in ihrer täglichen Arbeit begegnen sollten und wie sie die für alle Beteiligten beste Lösung finden können. Denn sie werden häufig auch mit schwierigen oder sogar herausfordernden Situationen konfrontiert.
Da verliebt sich beispielsweise eine demenzkranke Frau in einen Mitbewohner und turtelt in aller Öffentlichkeit mit ihm. Der Ehepartner, der zu Besuch kommt, ist zutiefst verletzt und fordert von den Mitarbeitenden, den Kontakt sofort zu unterbinden. Andere Bewohnende rümpfen die Nase über das Paar. Die Frischverliebten fühlen sich jedoch sichtlich wohl. Durch die Demenzerkrankung erinnert sich die Frau nicht mehr daran, dass sie verheiratet ist.
Gerade wenn Bewohnerinnen und Bewohner an einer demenziellen Erkrankung leiden oder eine psychiatrische Diagnose haben, kann es sein, dass sie ungehemmt und ohne Scham in der Öffentlichkeit sexuell aktiv werden. Bei ihnen ist oftmals das Zwischenhirn und das limbische System weniger zerstört als andere Hirnareale, die die Denkstrukturen steuern. Deshalb können im Verlauf der Demenzerkrankung sexuelle Bedürfnisse erhalten bleiben oder sich sogar steigern. Bei einer sogenannten frontotemporalen Demenz tritt häufig eine sexuelle Enthemmung auf, weil die Gewissenskontrolle im Stirnhirn versagt und gesellschaftliche Regeln vergessen werden.
Wie umgehen mit herausforderndem Verhalten?
"Wir haben schon erlebt, dass sich Bewohner mit Demenz entblößt haben und nackt im Foyer umhergelaufen sind", berichtet Jasmin Becker. Die Pflegenden holten die Person dann ab, legten ihr eine Jacke um und brachten sie in ihren Wohnbereich. "Dabei ist es wichtig, dass sie nicht beschämt oder beschimpft werden, denn ihr Verhalten ist ein Symptom ihrer Erkrankung", sagt sie.
Ebenfalls herausfordernd sei ein demenziell erkrankter Bewohner gewesen, der regelmäßig im Speisesaal während des Mittagessens masturbierte. Es war sein Ritual. Er durfte das beibehalten. Ihm wurde sein Mittagessen jedoch in seinem Zimmer serviert. Er hat dann nicht mehr in der Gemeinschaft gegessen. Dabei geht es um den Schutz der anderen Bewohnenden, die sich diese sexuelle Handlung nicht anschauen möchten. Denn das Recht, die eigene Sexualität auszuleben, stößt dort an Grenzen, wo andere Menschen belästigt oder bedrängt werden. Aber auch der Betroffene muss geschützt werden, denn er wird mit diesem Verhalten von den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern abgelehnt und aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen. "Das wollen wir verhindern, denn er soll sich weiterhin in unserer Einrichtung wohlfühlen", betont die Einrichtungsleiterin.
Die Pflegenden wissen, wie sie mit herausforderndem Verhalten einzelner Bewohnerinnen oder Bewohner umgehen. Sie lernen das in ihrer Ausbildung. Pflegende werden häufig selbst mit sexuellen Übergriffen konfrontiert. Durch die Pflegesituation entsteht eine körperliche Nähe zu den Bewohnenden, die von diesen fehlinterpretiert werden kann. Jasmin Becker hat es selbst erlebt, dass ihr ein Bewohner über den Rücken gestreichelt und ihre schönen blonden Haare bewundert hat. "Ich habe mich dann dafür bedankt, dass ihm meine Haare gefallen, und bin zu einem anderen Thema übergegangen", erinnert sich Jasmin Becker. Es gehe darum, die Distanz zu wahren und Grenzen zu setzen, ohne den Bewohner zu beschämen.
Auch Pflegende müssen vor Übergriffen geschützt werden
Es gibt aber auch die Situation, dass einzelne Mitarbeitende bestimmte Bewohnende nicht versorgen möchten, weil diese ihnen immer wieder zu nahekommen. "Darauf gehen wir selbstverständlich ein, denn auch die Pflegenden müssen vor Übergriffen geschützt werden", sagt sie. "Wir haben immer mal wieder den Fall, dass Bewohnende Pflegekräfte an der Brust berühren und in den Schritt fassen." Wenn sie das nicht unterlassen, weil sie beispielsweise unter Demenz leiden, kann es dazu führen, dass sich die Mitarbeitenden weigern, diese Person zu pflegen. "In solchen Situationen suchen wir eine individuelle Lösung", so Jasmin Becker. Es kann sein, dass dem Bewohner Medikamente verordnet werden, die die sexuellen Triebe dämpfen. Im Einzelfall kann auch mal der Pflegevertrag gekündigt werden, wenn für die betreffende Person das Seniorenheim nicht die richtige Einrichtung ist.
Grundsätzlich ist die tägliche Arbeit der Pflegekräfte geprägt von einer toleranten, akzeptierenden und respektvollen Grundhaltung im Umgang mit den Bewohnerinnen und Bewohnern. Das ist neben einer fundierten Ausbildung und professionellem Handeln die zentrale Voraussetzung für eine erfolgreiche Pflege und Betreuung, mit der es sowohl den Pflegenden als auch den Bewohnerinnen und Bewohnern gut geht.