Scham im Kontext von Pflege und Sexualität
Scham wird oft als eines der schmerzhaftesten Gefühle beschrieben. Keine andere Emotion wirft den Menschen so unausweichlich und unangenehm auf sich selbst zurück. Wer sich schämt, fühlt sich wertlos, nicht gut genug und möchte sich am liebsten verstecken. Dennoch: Schamgefühle sind wertvoll. Sie zeigen, dass persönliche Grenzen verletzt sind. Stephan Marks beschreibt sie deshalb als "Hüterin der Würde"1.
In der Pflege sind Schamgefühle unvermeidbar.2 Um konstruktiv damit umzugehen, muss Scham anerkannt werden, sowohl die eigene wie auch die der Bewohner:innen und der Angehörigen. Scham zu empfinden ist anerkennenswert, denn an diesem Gefühl erkennen wir unsere eigenen Werte und Normen. Deshalb ist es wichtig, zu verstehen: Welche zentralen Auslöser erleben Bewohner:innen, Pflegekräfte und Angehörige in einer Einrichtung der Altenpflege als schamauslösend? Welche Reaktionsweisen be- schreiben die jeweiligen Zielgruppen? Welche Rahmenbedingungen ermöglichen im pflegerischen Alltag einen konstruktiven Umgang mit der Thematik?3
Nicht alle Menschen schämen sich aus den gleichen Gründen. Das Empfinden ist abhängig vom Geschlecht, vom Lebensalter, der eigenen Lebensgeschichte und dem sozialen Kontext. So nehmen bestimmte Schamanlässe aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen ab (zum Beispiel uneheliche Kinder, Homosexualität) und andere zu (zum Beispiel nachlassende Leistungsfähigkeit und Hilfebedürftigkeit). Für den Pflegealltag hat dies zur Folge, dass man nicht wissen kann, wodurch sich Bewohner:innen, Kolleg:innen, Angehörige beschämt fühlen. Dennoch gibt die Forschung begründete Hinweise auf mögliche schamauslösende Momente.
Mögliche Auslöser für Scham und Schamlosigkeit
In Einrichtungen der Altenpflege lässt sich immer wieder "Schamlosigkeit" beobachten, die irritieren kann. Hierfür gibt es unterschiedliche Gründe: Schamlosigkeit kann eine Form der Abwehr sein (Maskierung der Scham) oder von demenziellen Veränderungen ausgelöst werden, die es den Betroffenen nicht mehr ermöglichen, selbstreflexiv die Bewertung einer Handlung/einer Situation vorzunehmen. Nicht zuletzt trägt das Heim Elemente von Familisierung. Deshalb werden in der Einrichtung oft Verhaltensweisen gezeigt, die sonst nur im privaten Umfeld intim und akzeptabel sind.
Wie auf Schamempfinden reagiert wird, ist sehr unterschiedlich. Welche Reaktionen hilfreich, welche unangemessen sind, lässt sich nicht eindeutig beurteilen. Für die Gruppe der Pflegekräfte stellt die Selbstwahrnehmung und -reflexion der eigenen Schamgefühle eine wichtige Grundlage für einen wertschätzenden Umgang mit der Emotion dar.
Individuelle Reaktionen reichen von Einsamkeit und Rückzug bis hin zu Erröten, Ironie, Wut, Aggression und Distanzierung. Interaktionelle Reaktionen wie beispielsweise humorvolle Kommentierungen, Überspielen oder Thematisieren können einerseits dazu beitragen, dass Schamgefühle konstruktiv abgewehrt und bewältigt werden. Sie können aber auch zu weiterer Beschämung oder beruflicher Belastung führen, wenn sie unreflektiert bleiben oder tabuisiert werden. Für die Enttabuisierung kommt der Organisation eine wichtige Rolle zu. Voraussetzung ist eine wertschätzende Organisations- und Ge- sprächskultur. Es braucht Vertrauen unter den Interaktionspartnern und konstruktive Rahmenbedingungen. Andernfalls wird Scham tabuisiert, im Informellen besprochen und entzieht sich einer hilfreichen Bearbeitung.
Im Zusammenhang mit Sexualität und Pflege schämen sich Bewohner:innen häufig, Fragen zu stellen. Diese Haltung beruht auf den Wertevorstellungen der Generation, die oft von Unterwürfigkeit, Gehorsam, Bescheidenheit und Entbehrung gekennzeichnet sind. Scham verhindert, dass Wünsche und Bedürfnisse gegenüber Pflegekräften geäußert werden - gerade dann, wenn es um
Pflege und Sexualität geht. Pflegekräfte beschreiben es als wichtige Kompetenz, Bewohner:innen einschätzen zu können. "Seine Körpersprache lesen und Blicke lesen", wie es eine Pflegekraft ausdrückt.
Der Verlust von Selbstständigkeit und das Angewiesensein auf Hilfe führt bei Bewohner:innen ganz allgemein zu Schamempfinden, die mit einer Selbstabwertung einhergehen. Attraktiv auszusehen stellt in unserer Gesellschaft einen hohen Wert dar. Schamgefühle stehen im Zusammenhang mit normativen Wertvorstellungen von Schönheit und Attraktivität. Eine Bewohnerin sagt hierzu: "Geschämt habe ich mich heute Morgen wieder, wo ich in den Spiegel gesehen hab. (...) Dass ich so fett werd. Ich war immer schlank." Pflegekräfte haben die Erfahrung gemacht, dass sich vor allem Frauen schämen, ihren Körper zu zeigen und das ganz besonders vor dem anderen Geschlecht.
Pflegekräfte sind mit eigener Scham konfrontiert
Besonders zu Beginn ihrer beruflichen Tätigkeit sehen sich Pflegekräfte bei Pflegehandlungen mit ihrer eigenen Scham konfrontiert: "Ich wollte am Anfang keine Männer pflegen. Die Intimpflege war mir unheimlich peinlich", sagt eine Pflegekraft. Eine andere: "... oder auch junge Männer, die dann bei alten Damen Intimpflege machen müssen oder den Oberkörper entkleiden, Brust waschen. Ich verstehe jeden, der da Berührungsängste hat, wenn die Röte ins Gesicht zieht." Intimpflege und Körperausscheidung stellen einen besonders sensiblen und damit schamanfälligen Bereich dar. Eine Bewohnerin sagt dazu: "Ich muss Ihnen sagen, das Schlimmste, was einem passieren kann, ist, wenn man nicht mehr selber den Hintern putzen kann."
Scham verdichtet sich, wenn der Körper der Natur ausgeliefert scheint und der Körper Natur und "nichts weiter als Natur ist"4. Körperausscheidungen, -gerüche und -geräusche zählen zu diesen Phänomenen. Schamauslösend ist nicht (nur) die Situation selbst, sondern vielmehr, wenn es "Zeug:innen" gibt. Pflegekräfte sind sich dieser schamauslösenden Momente bewusst: "Und ich merke das schon immer wieder, wenn’s dann - wenn Stuhlgänge sind, mit Durchfällen verbunden oder Stoma-Betreuung ist, dass sich die Personen da sehr schämen. Das merke ich schon."
Wie Pflegekräfte auf sexuelle Bedürfnisse reagieren
Sexualität, sexistisches Verhalten und sexualisierte Gewalt sind Themen, die im Pflegealltag häufig tabuisiert sind, und zwar bei Bewohner:innen, Angehörigen und Pflegekräften. So äußerte sich keine:r der Bewohner:innen zum Thema Sexualität. Es sind die Pflegekräfte, die Bedürfnisse wahrnehmen und, wenn möglich, angemessen darauf reagieren: "... haben uns darauf verständigt, dass wir so Pornoheftchen besorgen und Poster, damit er einfach in seinem geschützten Rahmen, in seinem Zimmer die Möglichkeit hat, sich zu befriedigen, und dies nicht dann eher nach außen trägt zu den anderen Bewohnern."
Auch bei Pflegekräften ist die Thematik schambesetzt. Eine Pflegekraft sagt dazu: "Das ist ein wichtiger Trieb, ein Sexualtrieb. Der wird ja nie besprochen. Aber der ist genauso wichtig wie essen und trinken." Warum ist es schwierig, sich mit den sexuellen Bedürfnissen der Bewohner:innen auseinanderzusetzen? Einerseits belegen Schamgefühle Schutz, Takt und Respekt vor der Sexualität der pflegebedürftigen Männer und Frauen, die es zu würdigen gilt. Andererseits bedeutet die Thematisierung immer auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität. "Und es ist ja auch interessant, wie jeder anders reagiert. Das hat ja auch ein Stückchen mit der eigenen Sexualität zu tun", sagt eine Pflegekraft.
Sexualisierte Gewalt, Übergriffe und unangemessenes Verhalten
Männer und Frauen, die im Gesundheits- und Sozialwesen beschäftigt sind, sind einem hohen Risiko ausgesetzt, sexuelle Übergriffe, Berührungen und verbale Attacken von Bewohner:innen zu erfahren. Unbewältigte Erfahrungen haben körperliche und seelische Folgen. Viele Pflegekräfte machen das Geschehen mit sich selbst aus, weil sie sich der Folgen nicht bewusst sind oder sie sich für die Übergriffe selbst schuldig fühlen.
Auch Angehörige schämen sich, wenn sie von sexuellen Übergriffen ihrer Familienmitglieder erfahren. Marks1 bezeichnet diese Form der Scham als empathische Scham. Sie wird stellvertretend für eine andere Person empfunden, die sich schamlos verhält. Eine Pflegekraft erzählt: "Damals, als der Übergriff war, letzte Woche … Das wurde auch mit der Ehefrau kommuniziert. Und es war ihr total peinlich, dass ihr Ehemann so etwas macht."
Sexualität wird in unserer Gesellschaft als ein lustvolles Vergnügen dargestellt, das allen zugänglich ist, wenn sie es nur richtig anstellen. Gleichzeitig werden damit Normierungen vermittelt, die sich zum Beispiel auf die sexuelle Orientierung beziehen oder auf Sexualität im Zusammenhang mit dem Lebensalter. Es scheint erforderlich, zu betonen, dass sexuelle Bedürfnisse im Alter "normal" sind.5 In der Folge führen beeinträchtigte sexuelle Ausdrucksmöglichkeiten wie Erektionsschwäche oder Inkontinenz zu einer Selbstabwertung, die sich darin äußert, sich nicht mehr als Mann oder Frau zu fühlen.
Die richtige Haltung für den Umgang mit Schamgefühlen
Schamgefühle im Zusammenhang mit Sexualität treten dann auf, wenn Grenzen überschritten werden, wenn Begehren nicht mehr lustvoll, sondern unwürdig für den einen oder die andere erlebt wird.5
So herausfordernd es im Pflegealltag auch ist, mit Schamerfahrungen umzugehen, so ist es doch notwendig. Ursula Immenschuh beschreibt diese Haltung als "verstehen statt verurteilen".6 "Verstehen" bezieht sich zunächst auf die Gefühle und Reaktionen der Pflegekräfte. Um das Ausdrücken dieser Gefühle zu ermöglichen, braucht es einen geschützten Raum, etwa in Form von Fortbildungen, Supervision oder Fallbesprechungen. Über die Äußerung und Bearbeitung kann die Schamdynamik aller Beteiligter besser verstanden werden. Werden solche Möglichkeiten verhindert - zum Beispiel aufgrund der Annahme, dass man Gefühle und erst recht Schamempfindungen "im Griff haben" müsse oder stets freundlich, nett und verständnisvoll zu reagieren habe, werden die entsprechenden Gefühle unterdrückt, abgespaltet und abgewehrt. Haben Gefühle wie Scham und Ekel keinen Platz im Pflegealltag, können sie sich in Aggression und Frustration zeigen und subtil weitergegeben werden.
Es gilt aber auch, die Scham der Bewohner:innen zu sehen. Oder wie Immenschuh6 es ausdrückt: "Werden die Maskierungen, hinter denen sich die Scham aller verbirgt, verstanden und entlarvt, erscheinen die Konflikte, die darin stecken, und können verstanden werden."
1. Marks, S.: Scham. Die tabuisierte Emotion. Ostfildern: Patmos Verlag, 2016.
2. Immenschuh, U.; Marks, S.: Scham und Würde in der Pflege. Frankfurt a. M.: Mabuse-Verlag, 2014.
3. Baatz-Kolbe, C.: Scham - die vernachlässigte Emotion in der stationären Altenpflege. 2019. Online verfügbar unter https://tinyurl.com/yh7wty2h
4. Gröning, K.: Entweihung und Scham. Frankfurt a. M.: Mabuse-Verlag, 1998.
5. Immenschuh, U.: Sexualität und Scham in der Pflege. Stuttgart: Georg Thieme Verlag, 2017.
6. Immenschuh, U.: Unerhörte Scham in der Pflege. Frankfurt a. M.: Mabuse-Verlag, 2020.