„Hier müssen wir uns nicht erklären“
Caritasverband Düsseldorf
Wenn nach 46 Jahren der geliebte Partner stirbt, ist das ein Schock. So ging es Hans-Jürgen vor drei Jahren, mitten in der Coronapandemie. "Ich war schrecklich traurig, Fred war ein wundervoller Mensch und wir hatten eine sehr innige Beziehung", sagt er sichtlich bewegt. "Nach seinem Tod habe ich mich in mein Schneckenhaus zurückgezogen und bin kaum noch vor die Tür gegangen." Hans-Jürgen vereinsamte immer mehr. "Meine Nichte sagte dann irgendwann zu mir: Das geht so nicht mehr weiter, du musst was tun!"
Heute sitzt Hans-Jürgen in fröhlicher Männerrunde an einem gedeckten Tisch, auf dem zwei bunte Rosensträuße und ein Käsekuchen stehen. Die Gespräche sind kultiviert bis zotig, es wird viel gelacht. Mit seinen 80 Jahren ist Hans-Jürgen das älteste Mitglied der Demenzgruppe "Bleib Du", der sechs ausschließlich homosexuelle Männer angehören. "Hier habe ich wieder angefangen zu leben", sagt der schlanke, äußerst gepflegte Herr mit dem gelb gestreiften Hemd und dem buschigen Schnauzbart. Für Hans-Jürgen ist die Bleib-Du-Gruppe das Highlight der Woche. "Am liebsten käme ich jeden Tag hierher."
Eine Demenzgruppe nur für homosexuelle Männer - steht dieses Angebot nicht dem Anliegen von Inklusion und einem vielfältigen Miteinander entgegen? "Wir haben viel darüber diskutiert, ob es nicht doch eine gemischte oder zumindest eine queere Gruppe werden soll", erinnert sich Andrea Konkel, Leiterin soziale Altenarbeit beim Caritasverband Düsseldorf und Initiatorin von "Bleib Du". "Dass wir uns schließlich im ersten Schritt für eine homogene Gruppe entschieden haben, liegt insbesondere in der Biografie der Teilnehmer begründet."
Ein Safe Space, in dem auch Schmerz verarbeitet werden kann
Menschen mit Demenz sind "rückwärtig" orientiert. Sie erleben prägende Phasen ihres Lebens noch einmal neu und besonders intensiv. Die meisten der Bleib-Du-Teilnehmer haben extreme Diskriminierung bis hin zu verbaler und sogar körperlicher Gewalt kennengelernt. "Wenn diese teils weit zurückliegenden Erinnerungen demenziell bedingt nach oben gespült werden, ist es hilfreich, wenn dies in einem geschützten Rahmen geschieht", erklärt Konkel. "Darüber zu sprechen und die Ereignisse zu verarbeiten ist sehr viel einfacher, wenn man von der eigenen Peergroup mit einer ähnlichen Erfahrungswelt umgeben ist."
Andrea Konkel schließt nicht aus, künftig weitere Angebote für die LSBTIQ*-Community zu schaffen. "Dass es initial eine Gruppe für schwule Männer und nicht zum Beispiel für lesbische Frauen geworden ist, liegt daran, dass zufällig zur richtigen Zeit der perfekte Gruppenleiter vom Himmel fiel", erinnert sie sich an die Anfänge des Projekts. Der "perfekte Gruppenleiter" heißt Bernhard Bauer, ist Betreuungsassistent und ebenfalls homosexuell. Er ist sich sicher: "Die einsamen Wölfe, die zu uns kommen, würden wir mit einem anders gearteten Angebot gar nicht erreichen. Für sie ist ungeheuer wichtig, sich mit ihrer individuellen Biografie nicht erklären zu müssen und nicht erneut stigmatisiert zu werden."
Das bestätigt auch Bleib-Du-Teilnehmer Harald. Er war zuvor Mitglied in einer anderen Demenzgruppe und fühlte sich dort unwohl. "Es kamen Sprüche wie: ‚Da fangen die Schwulitäten an.‘ Hier in der Bleib-Du-Gruppe können wir ganz selbstverständlich wir selbst sein und müssen uns nicht rechtfertigen. Es tut gut, sich mit Menschen auszutauschen, die eine ähnliche Geschichte haben."
Biografiearbeit spielt bei der Arbeit mit Menschen mit Demenz - ganz gleich welchen Geschlechts und welcher sexuellen Ausrichtung - eine essenzielle Rolle. Ziel ist es, das Selbstbild zu stabilisieren. "Mit den Erinnerungen geht auch Stück für Stück die eigene Identität verloren", erklärt Andrea Konkel. "Wir setzen den Fokus auf diejenigen Erinnerungen, welche die Persönlichkeit konstruieren, und stärken sie." Konkret und bezogen auf "Bleib Du" kann das zum Beispiel bedeuten: Ein Teilnehmer, der vermeintlich wieder 20 ist, erlebt all die Strapazen seines Coming-outs, das Verstoßensein und die Einsamkeit erneut. Dass er in späteren Jahren in der Lage war, eine erfüllte Beziehung zu leben, ist ihm nicht mehr bewusst. Im lockeren, wertschätzenden Gespräch über gestern und heute lässt sich dieses Bewusstsein, zumindest auf emotionaler Ebene, wiederherstellen. So lassen sich positive Aspekte des eigenen Selbstbilds teilweise zurückgewinnen.
Erinnerungen in einem Bild festhalten
Identitätsstiftend wirken auch die Kreativangebote, die die Bleib-Du-Gruppe regelmäßig für sich organisiert. Zurzeit absolvieren die sechs Männer unter professioneller Anleitung einen Malkurs. Hans-Jürgen hat seinen verstorbenen Mann mit Acrylfarben auf Leinwand verewigt. Dass diesem noch das Gesicht fehlt, ist für Hans-Jürgen nebensächlich. "Dass ich mit Fred so viele Jahre verbringen durfte, erfüllt mich mit Dankbarkeit", sagt er und betrachtet sein Werk sichtlich stolz. Für ihn steckt das Bild schon jetzt voller guter, wertvoller Erinnerungen an seine große Liebe.