Arbeitsmarktpolitik 3D: Dekarbonisierung, Digitalisierung, demografischer Wandel
Trotz Eintrübung der Konjunkturaussichten hielt der Anstieg der Erwerbstätigenzahlen im Jahr 2023 an und führte nach coronabedingtem Rückgang 2020/21 zu neuen Rekorden. Diese Entwicklung wäre nicht möglich gewesen ohne Zuwanderung: Der Höhepunkt der Erwerbstätigkeit von Deutschen ohne Migrationshintergrund wurde bereits 2016 überschritten und ihre Zahl ist inzwischen deutlich niedriger. Ein Fünftel der heute Erwerbstätigen wurde nicht in Deutschland geboren, wobei Saisonkräfte, "entsandte" oder als Fahrpersonal mobil eingesetzte Arbeitskräfte, die keinen Wohnsitz in Deutschland haben, nicht mitgezählt sind.
In einer Welt voller Unvorhersehbarkeiten gehört die Demografie zu den in Grundzügen relativ einfach prognostizierbaren Gegebenheiten. Es bedarf keiner tiefen wissenschaftlichen Einsicht, um sich klarzumachen, dass alle Menschen, die im Jahre 2040 in Deutschland arbeiten sollen, heute schon geboren sein müssen. Die Frage ist dann, wo sie geboren sein werden. Würde man die Grenzen in beide Richtungen schließen, wäre die Bevölkerung in der erwerbsrelevanten Altersspanne von 20 bis 70 Jahren im Jahre 2040 um 12,5 Millionen kleiner als 2020. Anders gesagt: Wenn der Umfang der Erwerbsbevölkerung in etwa gleich bleiben soll, muss die Wohnbevölkerung wachsen, und das kann sie nur durch weitere Zuwanderung. Eine wachsende Wohnbevölkerung braucht aber mehr Wohnungen. Wohnraumknappheit, Stagnation des Wohnungsbaus und Verteilungskämpfe zwischen Bund, Ländern und Kommunen bezüglich der Unterbringungskosten von Geflüchteten führen derzeit in eine Migrationspolitik, bei der man sich gegen Fluchtmigration abschotten und stattdessen die Fachkräftemigration ankurbeln möchte. Dass die Asylmigration nicht der optimale Weg in den deutschen Arbeitsmarkt ist, hat die Erfahrung seit 2015 hinlänglich gezeigt. Aber die Umsteuerung auf Arbeitsmigration muss sich mit den gleichen Engpässen auseinandersetzen: Wohnungen, Kitaplätze und die Kapazitäten der Schulen. Das zu ignorieren läuft auf die Illusion hinaus, die gewünschten "Fachkräfte" wären unter den gleichen Bedingungen zum Arbeiten in Deutschland zu gewinnen wie seinerzeit die "Gastarbeiter".
Nettozuwanderung von 400.000 Personen pro Jahr
Für eine Stabilisierung des Erwerbspersonenpotenzials wäre nach Einschätzung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) eine Nettozuwanderung von 400.000 Personen jährlich erforderlich, was wegen vielfältiger Rückwanderungen jährlich 1,6 Millionen Zuzüge erfordern würde. Dafür ist Deutschland offensichtlich infrastrukturell und verwaltungstechnisch nicht gerüstet und politisch nicht bereit. Folglich werden der überlebensnotwendige Umbau hin zu einer klimaneutralen und ressourcenschonenden Produktionsweise - die vielbeschworene "Transformation" - sowie die Versorgung einer wachsenden Zahl pflegebedürftiger alter Menschen mit einer künftig deutlich abnehmenden Zahl von Arbeitskräften bewältigt werden müssen. Auch der positive Effekt der Zuwanderung auf die Altersstruktur - im Unterschied zu anderen EU-Ländern wurde das Durchschnittsalter der Bevölkerung in Deutschland seit 2016 auf hohem Niveau stabilisiert - wird sich abschwächen, so dass die anstehenden Herausforderungen nicht nur von weniger, sondern auch von im Durchschnitt älteren Arbeitskräften gemeistert werden müssen.
Das seit 2006 anhaltende Beschäftigungswachstum war strukturkonservativ, das heißt, die Erwerbstätigenanteile der Wirtschaftszweige haben sich nur geringfügig dadurch verschoben, dass das Wachstum hauptsächlich in den Dienstleistungen stattfand, während das Niveau der Industriebeschäftigung in etwa gleich blieb. Umfassende wissenschaftliche Projektionen der notwendigen Strukturveränderungen im Zuge der anstehenden Transformation liegen nicht vor. Es dürfte jedoch plausibel sein, anzunehmen, dass Erneuerung und Umbau der Infrastruktur zur Erzeugung und Verteilung von Energie und Wärme sowie zur Ermöglichung von Transport und Mobilität einen größeren Bausektor erfordern werden als derzeit, jedenfalls für einige Jahrzehnte. Die Anpassung der Land- und Forstwirtschaft an den Klimawandel und die Erhöhung des Anteils ökologischer Landwirtschaft werden dauerhaft mehr Arbeitskräfte auch hier erfordern. Der Pflegesektor wird aus demografischen Gründen weiter wachsen müssen, und die allgemeinen Fachkräfteengpässe werden ohne verstärkten Personaleinsatz im Bildungssektor einschließlich der frühkindlichen Bildung noch bedrohlicher werden - vom Personalbedarf der Bundeswehr für eine wirksame Landesverteidigung gar nicht zu reden. Wer angesichts dieses Szenarios Ängste vor "Deindustrialisierung" schürt und Exportüberschüsse sowie den durch sie stabilisierten Beschäftigtenanteil der Industrie mit Gießkannen-Subventionen erhalten möchte, gibt Anlass zu Zweifeln an der Beherrschung der Grundrechenarten. Bei mäßiger Zuwanderung und folglich sinkendem Erwerbspersonenpotenzial muss die Industrie künftig mit weniger Arbeitskräften auskommen. Das sollte möglich sein, wenn die immer wieder von neuem projizierten Potenziale der Ersetzung von Arbeit durch Digitalisierung endlich wenigstens teilweise Realität würden. Auch der Umstand, dass beispielsweise die Produktion von elektrisch angetriebenen Fahrzeugen weniger Arbeitsstunden erfordert als die von Verbrennern, ist dann kein Schreckensszenario mehr.
Transformation ist nichts anderes als gewollter und durch die politische Gestaltung der Rahmenbedingungen des Wirtschaftens und Konsumierens bewusst herbeigeführter Strukturwandel. Welche Widerstände Transformationspolitik auslöst, war im Jahre 2023 in aller Deutlichkeit und mit drohendem Vorzeichen für die kommenden Jahre zu beobachten. Hierzu trug bei, dass es bei manchen Vorhaben nicht gelang, sie vom angestrebten Ende her und aus der Perspektive der Machbarkeit und Verkraftbarkeit für die letztlich unmittelbar Betroffenen zu konzipieren und zu kommunizieren.
Nicht Passendes kann passend gemacht werden
Aufgabe einer transformativen Arbeitsmarktpolitik wäre es, die Transformation der Beschäftigungsstruktur und der individuellen Tätigkeiten unter dem Motto "Jede:r wird gebraucht - jede:r bekommt eine Perspektive" als eine machbare, nicht existenzbedrohende und zumindest in Teilaspekten sogar attraktive Perspektive zu gestalten. Dazu muss die reaktive, an bereits manifest gewordenen Bedrohungen ansetzende Logik der aktiven Arbeitsmarktpolitik überwunden werden. Die mehrfachen Veränderungen bei der Weiterbildungsförderung für Beschäftigte - § 82 SGB III - in den letzten Jahren weisen in diese Richtung und können für die Transformation im Betrieb genutzt werden.
Die Weiterbildung im bestehenden Arbeitsverhältnis bleibt jedoch gebunden an betriebliche Interessen und den betrieblichen Planungs- und Vorstellungshorizont. Es fehlt an einem Angebot für Beschäftigte, die von ihrem Betrieb aktuell gebraucht werden, deren wahrscheinliche Beschäftigungsperspektive im derzeitigen Betrieb aber voraussichtlich nicht bis zum Ruhestand reicht. Sie benötigen Information, Beratung und finanziell auskömmliche und attraktive Angebote, sich rechtzeitig für die Beschäftigung in einem anderen Betrieb und mit anderer Tätigkeit zu qualifizieren. Zur Wahrnehmung einer solchen Perspektive der "persönlichen Transformation" muss es möglich werden, ein Arbeitsverhältnis zu lösen, ohne mit einer Sperrzeit beim Arbeitslosengeld rechnen zu müssen; im Gegenteil müssen bereits vor dem Verlassen des bisherigen Betriebes der nahtlose Übergang in Weiterbildung und eine Übergangsperspektive in neue Beschäftigung verbindlich gesichert sein.
Trotz der anhaltenden Klage der Betriebe über den Mangel nicht nur an Fachkräften, sondern in vielen Bereichen auch an Helfer:innen machen nicht nur Langzeitarbeitslose, sondern auch Berufsrückkehrer:innen und neu Zugewanderte vielfach die Erfahrung, dass ihre Bewerbungen abgelehnt werden, wenn ihre Bewerbungsunterlagen nicht absolut "passgenau" sind. Das produziert Ausschlüsse und führt dazu, dass vorhandene Arbeitskraftpotenziale nicht voll mobilisiert werden können. Wo das verfügbare Angebot nicht nahtlos auf bestehende betriebliche Strukturen und Erwartungen passt, müssen die Betriebe lernen, ihre Aufgabenstrukturen an die "real existierenden" Arbeitskräfte anzupassen. Hierbei brauchen viele Betriebe offenbar Unterstützung von außen. Arbeitsvermittlung heißt in dieser Situation nicht nur, Passgenauigkeiten zu entdecken, sondern auch das zunächst nicht passend Erscheinende durch Veränderungen auf beiden Seiten passend werden zu lassen.