Go on! Queere Geflüchtete können sich öffnen
Das Psychosoziale Zentrum für Flucht und Trauma des Caritasverbandes Mainz (PSZ) gibt es seit 2015. Seitdem fanden hier viele Hundert Menschen Hilfe, die aus ihren Heimatländern fliehen mussten und die häufig mit schwersten Traumata belastet sind. Von Anfang an gehören auch queere Menschen zur Klientel des PSZ: lesbische, schwule, bisexuelle, nichtbinäre Personen und Transfrauen und -männer … LSBTIQ* aus vielerlei Herkunftsländern wie unter anderem Iran, Ägypten, Irak, Palästina, Saudi-Arabien, Nigeria, Sudan oder Armenien.1
Der aus Ägypten geflüchtete Khalid bringt die vielleicht wichtigste Botschaft an queere Klient:innen, die eine Psychotherapie in Deutschland beginnen, auf folgenden Punkt: eine akzeptierende "Go on!"-Botschaft vonseiten der Behandelnden aufzunehmen - die aktive Ermunterung des Menschen, der sich zögernd zu öffnen beginnt, weiterzusprechen, to go on talking, gerade wenn es um queere Themen geht.
Mehrere Ressourcen helfen der Psychotherapeutin dabei, authentisch und aus ganzem Herzen ihre queeren Klient:innen einzuladen zu Offenheit und Commitment2 in der Therapie: Rückenstärkung durch Personen und Organisationen vor Ort, die sich aus Menschenrechtsperspektive speziell für die Belange queerer Geflüchteter einsetzen; das Arbeiten im PSZ-Team gemeinsam mit Kolleg:innen aus der psychosozialen Beratung, die sich in Alltagsthemen wie Wohnen, Finanzen und Arbeit auskennen und Unterstützung anbieten; Sprechfähigkeit, wenn es um sexuelle Themen geht; sowie vor allem eine grundsätzlich bejahende Einstellung gegenüber der Diversität sexueller Orientierungen. Hintergrundwissen zum Umgang mit queerer Identität und queeren Lebensformen im jeweiligen Herkunftsland3 sind ebenfalls notwendig für das Verstehen der individuellen Fragestellungen, weil für queere Klient:innen in besonderem Maße gilt: "Das Private ist politisch!"
Beispiel einer Leidens- und Heilungsgeschichte
Alexandra, eine sehr gepflegt und geschmackvoll in Frauenkleidung auftretende, männlich gelesene (das heißt, von anderen meist als Mann wahrgenommene) Mittfünfzigerin, die sich selbst als homosexuell bezeichnet, kommt aus einem der Länder, in denen homosexuelle Handlungen mit der Todesstrafe belegt sind. Sowohl dort wie auch auf der langen Flucht über mehrere Länder war sie wiederholt massiv gewalttätigen Übergriffen und Todesgefahr ausgesetzt, obgleich sie gezwungenermaßen versuchte, ihre sexuelle Orientierung zu verbergen, was aber nicht durchgängig gelang. Nach Deutschland und in die Therapie kam sie mit starken körperlichen Beschwerden, einer erheblichen Angstsymptomatik, traumabedingten mentalen Abwesenheitszuständen und einer schweren Depression. Sie war verunsichert, was ihre sexuelle Identität betraf, und dachte über eine Transition nach, also eine geschlechtsangleichende Operation vom Mann zur Frau. Auch in Mainz war sie in der Flüchtlingsunterkunft zunächst Übergriffen ausgesetzt, obwohl sie dort in einer Wohnung speziell für queere Geflüchtete untergebracht war - ihre seelische Situation verschlimmerte sich. Wie geht es ihr mittlerweile? Alexandra sagt: "Das Wichtigste ist, dass ich mich wie neugeboren fühle … Meine persönliche Erfahrung … ist, dass ich mich selbst kennengelernt und Hoffnung für das Leben gewonnen habe. Sie haben mein Herz in allen Schwierigkeiten des Lebens beruhigt und einen großen Einfluss auf die Gesundheit gehabt." Wie konnte das PSZ diese positive Erfahrung ermöglichen? Vermutlich mit "bedingungsloser Akzeptanz" Alexandra als Person gegenüber - etwas, das viele queere Menschen in ihrer Biografie noch nicht erleben konnten.
Klient:innen benennen Gelingensfaktoren
Adam, ein geflüchteter Menschenrechtsaktivist, sagt: " … queer refugees often think their problems are due to the present and they underestimate the impact of the past."⁴ Ihm ist es ein Anliegen, dass sich queere Geflüchtete nicht nur auf ihre aktuellen, oft miserablen Lebensumstände fixieren wie Arbeitsverbot, mangelnde Deutschkurse und teils jahrelange Unterbringung in winzigen Mehrbettzimmern - oder auf die Behandlung extrem belastender Traumafolgesymptome wie Panikattacken, Verwirrtheit, Schmerzen, Schlafstörungen und Depression -, sondern dass sie auch eine Biografiearbeit angehen können, die Rücksicht nimmt auf ihr Aufwachsen in repressiven Gesellschaften.
Khalid, der mittlerweile offen schwul in Deutschland lebt, ergänzt dies um die Notwendigkeit, in der Therapie ausreichend Zeit zu haben. Von der Therapeutin durch unterschiedliche Phasen des Ankommens begleitet zu werden mache eine Therapie besonders "sustainable" (nachhaltig). In Bezug auf queere Fragen sagt Khalid: "Es ist gut, wenn Sie als Therapeutin nachfragen, wenn Sie etwas nicht wissen oder verstehen!"
Adam betont zudem die Wichtigkeit, als Einrichtung/Therapeutin ganz klarzumachen, dass man nichts mit Polizei, Gerichten und Ausländerbehörden zu tun habe. Nur so lasse sich der therapeutische Raum auch für seelische Nöte und Gesundheitsfragen öffnen, wenn eine queere Person zum Beispiel sexuellen Dienstleistungen nachgegangen sei oder nachgehe. Wichtig ist die "Neutralitätsklarstellung" auch deshalb, weil nicht wenige queere Geflüchtete auch nach ihrer Ankunft in Deutschland Opfer sexueller Übergriffe werden, wobei die Täter - leider nicht ganz unbegründet - davon ausgehen, dass ihre Opfer aufgrund ihrer Vorerfahrungen mit Staat und Polizei im repressiven Herkunftsland besondere Angst davor haben, das Schweigen zu brechen.
Last but not least: Wie lässt sich die Sprachbarriere in der Psychotherapie überwinden? Adam plädiert dafür, bei der Personalauswahl in den Psychosozialen Zentren vermehrt auf Kenntnisse von Fremdsprachen, zumindest des Englischen, zu achten. Gerade in der Therapie queerer Geflüchteter kann die Einbeziehung von Sprachmittler:innen problematisch sein, die aus dem - repressiven - Kulturkreis der Klient:innen stammen: Teilweise brechen Klient:innen sogar die Therapie ab und kehren erst zurück, wenn sie ausreichend Deutsch sprechen können. Andererseits kann eine psychotherapeutische Behandlung unter Einbeziehung eines Sprachmittlers aus der Herkunftskultur auch besonders heilsam sein, wenn ein vertrauensvolles Miteinander gelingt. Wie sich das aus Sicht des Sprachmittlers darstellen kann, beschreibt "Das wissbegierige Kind" (Selbstbezeichnung) wie folgt: "Als Dolmetscher in der … Therapie zu arbeiten hat mir einen tiefen Einblick in die Herausforderungen und den tapferen Kampf dieser Menschen um Selbstakzeptanz und authentische Identität gewährt. Jede Sitzung ist eine Reise durch persönliche Geschichten, geprägt von Mut, Schmerz und der Sehnsucht nach Verständnis. Es ist beeindruckend zu sehen, wie diese Menschen trotz der oft beispiellosen Hindernisse, mit denen sie konfrontiert sind, ihren Weg zur Selbstentfaltung finden. Die Therapie bietet einen sicheren Raum, in dem sie ihre Gedanken und Gefühle teilen können, während ich als Dolmetscher dazu beitrage, die Brücke zwischen ihnen und den Therapeuten zu schlagen … Die Arbeit in diesem Bereich erfordert Einfühlungsvermögen und Sensibilität, da jeder individuelle Weg einzigartig ist ... eine Reise, die ich dankbar miterleben darf."
1. Drei von ihnen sowie einen unserer Sprachmittler hat die Autorin gefragt, was aus ihrer Perspektive wichtig ist für eine gelingende Psychotherapie. Ganz herzlicher Dank geht an Adam, Alexandra, Khalid und "das wissbegierigen Kind" (Sprachmittler) für ihre bereichernden Hinweise! (Zum Schutz der Klient:innen-Identität werden hier durchgängig nur die Vornamen verwendet.)
2. Bereitwillige Mitarbeit im Therapieprozess.
3. Die staatlich sanktionierte Benachteiligung, Ausgrenzung und Verfolgung queerer Menschen ist in vielen Ländern der Welt Alltag. Die Todesstrafe für homosexuelle Handlungen gibt es zum Beispiel im Iran, in Uganda oder in Saudi-Arabien.
4. "Queere Geflüchtete führen ihre Probleme oft auf die schwierige Gegenwart zurück, doch dabei unterschätzen sie den Einfluss der Vergangenheit."