Leben mit Armut und Kindern
Luxus ist relativ. Für die einen sind es dicke Autos, goldene Armbanduhren oder glitzernde Juwelen. Für andere der Friseurbesuch oder mal ein Röschen auf dem Tisch. Stefanie Engel gehört zur letzteren Gruppe. Sie ist alleinerziehend und lebt mit ihren drei Kindern in Lichtenberg, einem der Berliner Stadtviertel, in dem die Dörfer senkrecht gebaut wurden.
Im Gegensatz zu vielen anderen von Armut Betroffenen versteckt sich Stefanie Engel nicht. Selbstbewusst betritt sie die Caritas-Beratungsstelle am Anton-Saefkow-Platz, die im ersten von 23 Hochhausgeschossen untergebracht ist. Vorsichtig schält sie die neun Monate alte Aicha aus dem Tragegurt, ihre große Tochter Samantha (12) hilft der Kleinen beim Ausziehen. Martina Nowak, Sozialarbeiterin bei der Caritas, holt Kaffee und ein paar Spielsachen. "Sie können meinen richtigen Namen in der Zeitschrift schreiben", sagt Stefanie Engel. In ihrem Blick liegt in diesem Moment keine Scham, sondern Stolz. Niemand weiß besser, wie es ist, jeden Cent umdrehen zu müssen. Es ist nicht leicht, aber sie kommen klar.
In Deutschland leben immer mehr Menschen in Armut. Die Auswirkungen der Coronapandemie und die Inflation verschärfen die Situation zusätzlich. Ein Fünftel der Bevölkerung in Deutschland ist von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht, das sind 17,3 Millionen Menschen. Laut Europäischer Union gilt das, wenn zum Beispiel das Einkommen unter der Armutsgefährdungsgrenze liegt, der Haushalt von erheblicher materieller und sozialer Entbehrung betroffen ist oder die Menschen in einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung leben.
Ohne Bildung keine gute Berufsausbildung
Hätte Stefanie Engel keine Lese-Rechtschreib-Schwäche, wäre ihr Leben höchstwahrscheinlich anders verlaufen. Aber in Zerbst, ihrem Heimatort in Sachsen-Anhalt, wurde das legasthenische Mädchen direkt auf die Sonderschule geschickt. Damit war ihr Schicksal besiegelt: ohne Bildung keine gute Berufsausbildung - ohne Qualifikation kein auskömmliches Einkommen. Zwar hat die 37-Jährige später den Hauptschulabschluss nachgeholt und eine hauswirtschaftliche Ausbildung gemacht. Aber in Kantinen und Schulküchen hat sie immer nur sehr wenig verdient. Mit drei Kindern kann sie nicht mehr arbeiten und ist auf staatliche Unterstützung angewiesen.
Sich im Antragsdschungel zurechtzufinden, dabei hat ihr die Beraterin Martina Nowak geholfen. Sie ist seit 2012 bei der Allgemeinen Sozialberatung der Caritas tätig und kennt alle Tücken und Details, die es zu beachten gilt. Beispielsweise hat die Mutter Anspruch auf einen Teppichboden für das Zimmer des Krabbelkindes - aber eben nur dort. Fehlt dieser konkrete Hinweis im Formular, wird der Antrag abgelehnt. Martina Nowak zieht die Schultern hoch und spreizt die Arme. Sie weiß, wie überfordert bedürftige Menschen sind, und verhilft ihnen gern und zugewandt zu ihrem Recht.
Seit Jahren gelingt es nicht, die Kinder- und Jugendarmut zu senken. Noch immer wächst in Deutschland mehr als jedes fünfte Kind in Armut auf, jeder vierte junge Erwachsene ist von Armut betroffen. Besonders trifft es Alleinerziehende und Familien mit drei und mehr Kindern. Sie haben ein Recht auf staatliche Hilfe.
Zwar hat die Bundesregierung seit dem 1. Januar 2024 den Kinderzuschlag erhöht. Doch nach Schätzungen des Bundesfamilienministeriums beantragen ihn nur etwa ein Drittel der Berechtigten - aus Scham, aus Unkenntnis, aus Überforderung.
Die Älteste will Erzieherin werden
Samantha setzt ihre kleine Schwester auf das Schaukelpferd, das in einer Ecke des Beratungsraumes steht, und zaubert der Kleinen ein Lachen ins Gesicht. Weil sie gut mit Kindern umgehen kann, ist für die Fünftklässlerin auch schon klar, was sie mal werden will: "Erzieherin in einer Kita", sagt sie, ohne zu zögern. Einen Schnuppertag hat sie in der Kita ihrer fünfjährigen Schwester Amina schon gemacht. Ihre Mama nickt, sie hofft, die Weichen so zu stellen, dass es ihre Kinder eines Tages aus der Armut raus schaffen.
Das gelingt längst nicht allen. Armut ist ein Teufelskreis: Kinder erleben aufgrund der prekären Lage Konflikte und Diskriminierung, wachsen mit Defiziten und geringem Selbstbewusstsein auf, werden ihrer Chancen beraubt und sind fürs Leben gezeichnet. Um aus dieser Spirale auszubrechen, braucht es vor allem gute, engagierte Lehrerinnen und Lehrer oder andere Bezugs- und Vertrauenspersonen. Für Samantha sind das neben ihren Freunden besonders ihre Tante, die Krankenschwester ist und mit ihrer Tochter in Berlin-Tempelhof wohnt. Die beiden haben beim Umzug mit angepackt, drucken für Samantha Bilder für Schulplakate aus, spendieren Anziehsachen und Schuhe oder helfen bei der Erfüllung von Geburtstags- oder Weihnachtswünschen. Auch ein Kinobesuch oder Ferienwochenende an der Ostsee sind mal möglich. Das ist für die Engels ein Glücksfall.
Auf die restliche Familie ist kein Verlass: Engels Vater hat sie, als er erfuhr, dass sie mit ihrem ersten Kind schwanger war, aus der Wohnung geworfen. Und der aus Nigeria stammende Vater ihrer Kinder ist suchtkrank. Immer, wenn er getrunken hatte, wurde er verbal aggressiv und hat noch von dem wenigen vorhandenen Geld geklaut. "Samantha hat leider viel mitbekommen", erzählt die Mutter, die sich inzwischen von ihm getrennt hat.
Um Hilfe zu bitten ist eine Stärke
Samantha atmet tief durch und nutzt den Moment der Stille, um von sich zu erzählen: "Ich hab’ einen Eselführerschein gemacht!", sagt sie stolz und strahlt. Außerdem geht sie tanzen und schwimmen, als Nächstes will sie das Silberabzeichen machen. Stefanie Engel beobachtet ihre Große und lehnt sich zurück, denn offensichtlich hat Samantha keine tiefen seelischen Wunden davongetragen.
"Wer wo wie und wann in welche Verhältnisse hineingeboren wird, ist pures Glück", wirft Sozialarbeiterin Martina Nowak ein. Deshalb fühlt sie sich berufen, wenigstens für ein bisschen mehr Chancengleichheit zu sorgen.
Stefanie Engel fällt es nicht leicht, um Hilfe zu bitten, aber sie überwindet sich, wenn es sein muss. Das ist ihre Stärke. So kam sie auch zur Caritas. Erst war es ein Anruf bei der Beratungsstelle. Dann hat sich Martina Nowak bei ihr gemeldet und ihr Mut gemacht, sie über ihre Rechte und Ansprüche informiert und ihr das Gefühl genommen, Bittstellerin zu sein.
Im Jahr 2025 soll die Kindergrundsicherung bürokratische Entlastung bringen. Doch Nowak hat keine hohen Erwartungen. "Ich finde den Gedanken, dass alles aus einer Hand bearbeitet wird, richtig gut", erklärt sie. Doch auch die Kindergrundsicherung sei derzeit so geplant, dass dies nur die Kinderleistungen betrifft. Die erwachsenen Familienmitglieder werden wie bisher von anderen Behörden bedient. "Es sieht also nach keiner Erleichterung aus", bedauert sie. Es bleibt ein bürokratischer Wirrwarr, den nur Fachleute durchblicken und die Familien viel Zeit und Nerven kostet. Auch Stefanie Engel muss von Behörde zu Behörde hetzen und dabei immer ihre Ausgaben im Blick behalten. "Das ist für die Betroffenen Stress pur", sagt die Beraterin.
Vorurteile aus Politik und Umfeld
Menschen wie Stefanie Engel werden oft mit Vorurteilen konfrontiert. Aus der Politik werden immer wieder Warnungen vor dem Missbrauch von Sozialleistungen laut, gerne aus dem konservativen Lager.
"Wenn ich sehe, dass meine Kinder glücklich sind, geht es mir gut", sagt Stefanie Engel und lächelt. Ihre eigenen Befindlichkeiten stellt sie zurück. Mal gönnt sie sich ein Bad in der Wanne zum Entspannen. Aber das grenzt für sie an Luxus.
Wie eine Politik aussehen kann, die Armut ernsthaft bekämpfen will, durfte Sozialarbeiterin Nowak vor einigen Jahren erleben: Im Bezirk wurden Gesundheitsfachkräfte an Schulen eingesetzt, das Mittagessen in Kitas und Schulen gab es umsonst, armutssensible Sprache in Behörden wurde diskutiert. "So sieht effektive Präventionsarbeit aus", sagt sie. Doch nach der nächsten Wahl kam der Rückschlag. Seither hat sich Berlin-Lichtenberg wieder eingereiht in die vom Bund geprägte Familienpolitik.
Trotz großer Wohnungsnot haben die Engels in ihrem Viertel eine neue Bleibe gefunden, reiner Zufall. Irgendwie hat die Mutter es geschafft, sich mangels Computer auf dem Handy ihrer Tochter durch die digitalen Formulare zu kämpfen. Doch das Glück währte nicht lange. Zurzeit macht ihr jemand im Haus das Leben schwer. Schon zum dritten Mal gab es einen anonymen Anruf beim Jugendamt - wegen angeblicher Kindeswohlgefährdung. "Ich weiß nicht, wer das ist", sagt sie. "Aber warum kommt so jemand nicht zu mir und redet mit mir?" Sie vermutet andere Beweggründe: "Meine Kinder haben eine dunkle Hautfarbe. Das passt hier nicht jedem", sagt sie.
Ein Urlaub ist nicht drin
Die Kleine knabbert an einem Keks und pupst gleich darauf die Windel voll. Samantha schnappt sie sich und wickelt sie. Nächstes Jahr im Sommer möchte sie gern mit ihrer Cousine eine Woche auf Ferienfreizeit fahren. Ihre Mutter will dafür Geld weglegen. Auch sie selbst würde gern mal ein paar Tage an die Ostsee, "aber das ist nicht drin". Die Sozialarbeiterin überlegt. Auf einem Zettel notiert sie: "Wohnungsgesellschaft wegen anonymer Anrufe beim Jugendamt" - "Urlaubsförderung" - und noch das Stichwort "Familienpass". Erst vor kurzem hat Stefanie Engel gehört, dass sie damit Unterstützung für Unternehmungen bekommen kann. Beim nächsten Termin wollen die beiden alles in Angriff nehmen.
Zum Abschied gibt die Beraterin Samantha noch einen Ableger von ihrer Büropflanze mit. Gerne drückt sie den Menschen ein Kärtchen mit aufmunternden Sätzen in die Hand. Damit sie auch außerhalb des Caritas-Schutzraumes stark bleiben und weiterkämpfen. Denn ein Kampf ist es allemal: Auch der Regelsatz, der ab dem 1. Januar 2024 erhöht wurde, reicht für gesellschaftliche Teilhabe bei weitem nicht aus. "Die größte Katastrophe entsteht, wenn die Waschmaschine kaputt ist, ein Geburtstag vor der Tür steht oder ein Kind um mehr als eine Kleider- oder Schuhgröße wächst", sagt Nowak. "Die Pflicht der Politik ist es, die Schere zwischen Arm und Reich zu verringern und strukturelle Armut zu bekämpfen. Aber jemand wie Finanzminister Christian Lindner hat offenbar keine Vorstellung, wie viel Kraft es kostet, jeden Tag den Kopf über Wasser zu halten."