Gehe in das Gefängnis
Rolf war schon lang nicht mehr auswärts. Er sitzt seit über 30 Jahren im Gefängnis, jetzt in der Justizvollzugsanstalt Bochum. Seine Eltern, beide über 80 Jahre alt, sind die einzigen Angehörigen von Rolf (der in Wirklichkeit einen anderen Namen trägt). Seine Geschwister haben den Kontakt längst abgebrochen. Kein Wunder, Rolf hat jemanden umgebracht. Wenn jetzt, im heißen Sommer, der Weg für die Alten von Dortmund nach Bochum zu beschwerlich wird, wer schaut dann mal nach Rolf?
Das tut Hubert Haarmann, 67, dienstags ein, zwei Stunden. „Das ist mein Knast-Tag. Rolf betreue ich jetzt vier Jahre in Einzelbetreuung. Da hat sich auch ein partnerschaftliches Gefühl entwickelt. Ich gebe auch etwas Privates preis. Er weiß, ich bin verheiratet, habe zwei Töchter.“ Das ist genug. Rolf kennt aber keine Adresse und keine Telefonnummer. „Das Einzige, was er immer will: ‚Ich bin ehrlich und Sie auch. Also nicht, dass Sie mir was vormachen.‘ Und das habe ich die ganze Zeit erlebt. Bevor er lügt, sagt er gar nichts.“
Fischertechnik hilft, mindestens einmal pro Woche. Alles aus der Welt der Technik kann man damit nachbauen, darstellen, miniaturisieren. Und das ist notwendig für Rolf, Hubert Haarmann und die Technikgruppe der Justizvollzugsanstalt Bochum. Denn zu Jacques Piccards Tauchglocke auf dem Meeresgrund oder auf Sohle 7 der Zeche Prosper-Haniel ist der Weg derzeit versperrt. Und dabei bleibt es für viele Technik interessierte hier noch ein paar Jahre. Damit es hinter Gittern nicht langweilig wird und Freizeit auch Erholung bedeutet, kommt Hubert Haarmann vorbei oder einer von den ehrenamtlichen Kolleginnen und Kollegen.
Zwei Stunden Spannung die Woche
Haarmann war bei einem Unternehmen der Ruhrkohle beschäftigt. Er wurde mit 56 Jahren outgesourct, zu Hause bleiben wollte er nicht. Also hat er versucht, ob er sein Wissen als Ingenieur weitertragen könnte. „Ich kam auf die Idee, eine Technikgruppe in der JVA Bochum aufzubauen“, berichtet Haarmann. „Ich hatte sehr viel Material, Messgeräte, alles Mögliche, aber alles noch bei mir zu Hause, und wie bekomme ich das in die Anstalt rein?“ In Bad Honnef traf er bei einer Tagung für Ehrenamtliche in der Straffälligenhilfe die damalige Justizministerin Müller-Piepenkötter und sprach sie an: „Ich könnte mir eine Technikgruppe vorstellen, die gibt es noch nicht in der JVA Bochum.“ „Sie hatte immer eine Kladde dabei und hat sich alles notiert. Montags drauf rief man in der Vollzugsanstalt an und sagte: Bei Ihnen gibt es eine Technikgruppe – und dann musste das alles ganz schnell gehen. Ich habe mit dem Freizeitkoordinator gesprochen und einige Zeit später die Sachen ins Gefängnis mitgenommen. Mit der Abteilung Sicherheit und Ordnung der Vollzugsanstalt habe ich alles besprochen, und es wurde kontrolliert, welche Sachen in der Anstalt bleiben konnten und welche nicht. Auch meinen privaten Laptop mit Programmen, mit denen ich etwas darstellen und zeigen wollte, durfte ich mitnehmen.“
Seitdem ist Hubert Haarmann jeden Dienstag im Wechsel bei einer Gruppe von bis zu zehn Untersuchungshäftlingen und bei zu langen Haftstrafen Verurteilten: Hier sind vier Teilnehmer schon viel. Dann entdeckte er Fischertechnik. „Damit kann ich ganze Produktionsstraßen nachbauen. Das habe ich mir dann alles zusammengesucht oder auch vom SKM Bochum oder der JVA Bochum finanzieren lassen und habe gesagt: ,Das möchte ich alles mitnehmen und damit mit den Teilnehmern bauen. Dort sind ja auch Inhaftierte, die sind zum Beispiel Ingenieure, Elektriker, die können das, aber auch andere mit nur Wissbegierde.‘“ Sogar für ein leidiges Problem des alten Bochumer Gefängnisses hat die Technikgruppe eine Fischertechnik-Lösung ersonnen: ein Klo mit einer Belüftung, bei dem der Ventilator nach dem Lichtlöschen noch etwas nachläuft.
Resozialisierung in der Praxis
Saskia Kirschke, 25, begleitet Haarmann in die beiden Gruppen. Was hat sie bewegt? „Ich studiere Jura im elften Semester. Kriminologie gehörte zum Pflichtfach dazu und es kam ständig das Wort Resozialisierung.“ Diese Aufgabe nimmt Saskia Kirschke ernst. Nach ihrem Studienabschluss möchte sie zur Staatsanwaltschaft gehen oder Strafverteidigerin werden. Ob sie dann ihr Engagement fortsetzen kann, das ist noch offen.
Aber heute drohen keine möglichen Interessenkonflikte. „Wenn ich reinkomme in die Gruppe, frage ich nicht: Und, was hast du gemacht? Die Delikte, die die begangen haben, kenne ich nicht. Es gab mal eine Situation, da wurde darüber gesprochen, da habe ich gesagt: Stopp. Da mischten sich dann alle ein, aber es ist nicht unsere Aufgabe, darüber zu urteilen, was da war und ob der Betreffende schuldig ist oder nicht. Dafür sind wir Ehrenamtlichen nicht zuständig.
In unserer Gruppe geht man respektvoll miteinander um. Ich bin die einzige Frau und eine der jüngsten Ehrenamtlichen. Man kriegt da ab und zu mal einen Spruch, aber das passiert mir auch am Wochenende, wenn ich über die Straße laufe. Ich bin auch nicht da, um Kaffee zu kochen. ,Und Sie kochen den Kaffee?‘ Ich sage: ,Nein, ich kann Ihnen einen Kaffee kochen, aber Sie können das auch selber.‘ Es gibt keine Hierarchien, dass man sagt: Der Kinderschänder ist ganz unten, der Betrüger ganz oben. Das gibt’s in unserer Gruppe nicht.
Viele ältere Herren sind da, sehr gebildet, alle Schichten vertreten: Handwerker, Ärzte, Informatiker, Juristen. Man lernt viele Sachen dazu, man hört Geschichten von Reisen, Informationen, die mir tagtäglich gar nicht zugänglich sind. Das erweitert meinen Horizont."
Gefängnis finden alle spannend
Saskia Kirschke hält das Engagement in der Straffälligenhilfe für eine gute Sache, aber was meinen die Kommilitonen an der Uni dazu? "Alle finden das Gefängnis super mysteriös, spannend! ,Erzähl mal coole Geschichten. Wir wollen das auch machen!‘ Aber es macht halt keiner. Und oft höre ich: ‚Warum machst du das, was willst du da? Die soll man noch länger einsperren.‘ Aber irgendwann müssen die Menschen ja wieder raus."
Walter Fassbender, 82, hat der Pfarrer gefragt, ob er sich vorstellen könnte, im Gefängnis mitzuarbeiten. "Konnte ich eigentlich nicht. Dann hat er mir den guten Tipp gegeben – ich bin pensionierter Grundschulrektor: ,Ein Kollege von Ihnen macht schon viele Jahre mit U-Häftlingen einen Gesprächsabend. Gehen Sie da doch mal mit.‘ Und ich war sehr angetan und bot Deutschunterricht für Ausländer an. ,Nee, lassen Sie sich mal was anderes einfallen‘, hieß es da. ,Was passiert in der Welt? Und was haben wir damit zu tun? Themen in der Zeitung, was bewegt die Menschen heutzutage?‘ Es gibt ja auch draußen ziemliche Verbrechen, und die wirklich Verantwortlichen werden nicht zur Rechenschaft gezogen. Nur hier die Drogenkuriere sind erwischt worden und werden bestraft. Ich lasse mir Themen einfallen; manche sind sehr interessiert, andere hören nur zu. Und ich mache zur Entlastung Gehirntraining. Ich habe zu Hause einen Kalender, da stehen alle möglichen Aufgaben drin wie: Was ist der Unterschied zwischen einem Fußgänger und einem Fußballspieler? Der Fußgänger geht bei Grün, der Fußballer geht bei Rot."
Einer fasst draußen wieder Fuß
Was nimmt Walter Fassbender an Positivem mit? „Was als Reaktion kommt, ist, dass die Gefangenen sagen: Ich bin froh, dass ich hier zwei Stunden mit jemandem, der von außen kommt, der nicht eingebunden ist, mal reden kann und ich auch meine Sorgen loswerden kann. Einer aus meiner Gruppe wurde entlassen, der hatte keine Anbindung und war erst im Übergangswohnheim. Den traf ich bei uns draußen, da ist ein Altenheim und ein Supermarkt. Da sagte er: ,Ich mache hier Sozialstunden. Die sind hier ganz froh, dass sich jemand mit dem Einkaufen um die alten Leute kümmert.‘ Wenig später traf ich ihn wieder mit dem Fahrrad. Da fragte ich ihn: ,Trainieren Sie?‘ – ,Nein, ich habe in Hattingen einen Job und bin bei einer Sicherheitsfirma angestellt. Wenn das Wetter so schön ist, fahre ich mit dem Fahrrad hin. Ich habe jetzt eine Wohnung und ein Handy. Ich habe hier wieder Fuß gefasst.‘ Das war für mich ein positives Beispiel.“
Und Walter Fassbender gibt offen zu: „Hätte ich Pech gehabt im Leben, hätte ich hier möglicherweise auch eine Zeit lang zubringen müssen. Mein Schwager war alkoholsüchtig und gewalttätig, seine Frau war schon weggegangen, zu uns und zur Schwiegermutter. Als der da ankam, hab ich gesagt: Stopp, hau hier ab. Da ging er auf seine Frau los. Ich habe den zusammengeschlagen, bis jemand die Polizei rief. Wäre der mit dem Kopf irgendwo gegengefallen, wäre das nicht Selbstverteidigung gewesen, sondern Totschlag.“