Wertekonsens ist bedroht
Die derzeitige Flüchtlingssituation stellt nicht nur unsere Gesellschaft vor eine politische Herausforderung, sondern auch die kirchliche Caritas selbst, die sich sogar biblisch begründen lässt. Einerseits: "Ich war fremd und obdachlos…" Heute würde Jesus in der Gerichtsszene bei Mt 25 vielleicht sagen: "Ich war ernsthaft in Sorge um unsere kulturellen Standards … nicht populistisch, sondern aufrichtig mit Blick auf unsere Werte … und ihr habt mir zugehört."
Die reine Willkommenskultur auf der einen und die Gegenbewegungen auf der anderen Seite führen in der politischen Debatte zu bislang nicht geahnten Vorschlägen wie neuerdings der Schließung der Landesgrenzen und dem Schusswaffengebrauch.
Herabgelassene Schlagbäume sind nicht nur rechtlich umstritten, sondern auch praktisch und ökonomisch. Wir hätten an den Grenzen immer weiter nach außen verschobene humanitäre Zustände, die der europäischen Wertekultur nicht würdig sind und den brüchigen Wertekonsens in Europa weiter bedrohen. Der freie Verkehr von Personen, Dienstleistungen und Gütern würde so eingeschränkt, dass am Ende die Gefährdung von Lebensstandards und der eigenen Wirtschaft politisch kaum haltbar wären.
Aber Grenzschließungen sind vor allem aus grundsätzlichen Erwägungen fragwürdig. Menschenrechte gelten im Gegensatz zu den sogenannten Deutschenrechten universal, sind unteilbar und richten sich nicht nach Tageskontingenten. Zwar muss die Politik reagieren, aber das Konzept der universalen Menschenrechte würde im Kern nach politischer Aktualität bewertet.
Die mit dem Vorschlag der Grenzschließungen verbundenen Folgen hinterfragen das deutsche und europäische Wertesystem im Fundament. Etwas für absolut Gehaltenes wie Menschenrechte und Menschenwürde wird relativiert.
So schwer das ist: Es muss gesamteuropäische und Fluchtursachen bekämpfende Lösungen geben. Die scheinbar unversöhnlichen Gegensätze zwischen vorbehaltlosem "Willkommen" und "Die Schotten dicht!" müssen in der politischen Debatte gleichsam dialektisch der nüchternen Erkenntnis weichen: Unsere (europäische) Gesellschaft wird sich verändern, sie wird bunter, vielfältiger, kontroverser und: Ja, unsere abendländischen Werte werden herausgefordert. Auch unsere Caritas wird sich verändern. Nicht nur, weil wir uns noch intensiver um die Flüchtlinge kümmern, sondern weil von ihnen Interesse an einer Mitarbeit in unseren Diensten und Einrichtungen ausgehen wird. Wir erleben bei den Hierbleibenden Hilfesuchende, die die gleichen Bedarfe haben wie die Einheimischen: von der Kindertagesstätte über die Eingliederungshilfe und die Beratungsstellen bis hin zur Altenhilfe.
Unser biblisches Fundament mahnt uns zu klugem und ausgleichendem Handeln, das die Fremden und Heimatsuchenden wie die aufrichtig Besorgten gleichermaßen im Blick hat.