Anschluss an die Dorffamilie
Was unsere gruppe am Laufen hält, sind die Mails. Fast täglich senden wir uns Botschaften. "Wir haben Kindersitze und ein Kinderfahrrad angeboten bekommen", schreiben wir oder: "Die Gemeinde kann eine gebrauchte Waschmaschine besorgen und aufstellen" oder: "Ich wollte euch kurz über den derzeitigen Stand des Deutschunterrichts informieren". Die wichtigsten Botschaften aber kommen vom Amtsleiter der Gemeinde. In regelmäßigen Abständen schickt er sie an die beiden Sprecherinnen der Gruppe, und sie klingen immer gleich: "Sehr geehrte Damen, zu Ihrer Information: Donnerstag bekommen wir die nächsten Flüchtlinge zugewiesen. Es handelt sich um…"
Siebenmal gab es diese Botschaft in den vergangenen beiden Jahren. Jedes Mal wurde sofort geklärt, woher die angekündigten Flüchtlinge kommen, welche Sprache sie sprechen, wo sie wohnen werden, wer sie empfängt, wer für sie den ersten Einkauf macht und wer mit ihnen zum Landratsamt fährt, um das erste Unterstützungsgeld zu sichern. Für unsere Gruppe - den "Integrationskreis" - ist das fast schon Routine.
Wir sind gefordert, aber noch nicht überfordert. In unserem Dorf Bollschweil nahe Freiburg leben knapp über 2000 Einwohner. Zurzeit beherbergt der Ort 23 Flüchtlinge - vier Familien, zwei Ehepaare und zwei alleinstehende Männer -, um die sich 22 Helfer(innen) kümmern.
Es hat vor zwei Jahren begonnen, vor dem Neujahrsempfang des Bürgermeisters im Januar 2014. Damals wohnten bei uns im Dorf nur drei Afrikaner. Sie waren in einem ehemaligen Gasthaus untergebracht. Nun sollten sie beim Neujahrsempfang dabei sein, um für alle "sichtbar" zu werden. Bei diesem ersten Kennenlernen haben wir uns noch vorsichtig beäugt. Was wollen die von uns, dachten sich vielleicht die Afrikaner. Was werden die von uns wollen, dachte sich der eine oder die andere Bollschweiler(in). Wir sprachen Englisch. Inzwischen reden wir mit "unseren" Afrikanern nur deutsch - eine von vielen kleinen Erfolgsgeschichten.
Bürgerschaftlich Engagierte weiten ihre Aufgaben aus
Unsere Initiative in Bollschweil kam nicht durch einen Sprung ins kalte Wasser zustande. Schon über zehn Jahre zuvor hatten sich unter dem Namen "Agenda 21" Bürger(innen) zusammengefunden, die mitreden, die das Dorf lebendiger machen wollten. Als vom Landratsamt Ende 2013 die ersten Alarmmeldungen über steigende Flüchtlingszahlen kamen, war diesen bereits engagierten Bürgern schnell bewusst, dass sie sich auch darum kümmern müssen.
Wir hatten viel guten Willen, aber wenig Erfahrung mit der Bürokratie oder den Feinheiten des Asylbewerberleistungsgesetzes. Zunächst ging es darum, "unseren" Afrikanern Arbeit zu besorgen. Einer der drei hatte sich schon selbst darum gekümmert. Er hatte einen Job bei McDonalds und war außerdem dabei, seinen Hauptschulabschluss zu machen. Den beiden anderen konnten wir eine Tätigkeit als Zeitungsausträger vermitteln.
Von diesen drei Nigerianern lebt mittlerweile nur noch einer in Bollschweil. Er hat inzwischen andere Jobs und konzentriert sich darauf, sein Deutsch zu verbessern, um seinem großen Berufsziel - Elektriker - näherzukommen. Eine unserer Helferinnen unterstützt ihn im Umgang mit Behördenbriefen, gibt ihm wöchentlich Unterricht und sorgt dafür, dass er in weitere gute Sprachkurse kommt.
Ein anderer der drei Nigerianer wird von einer Helferin unterstützt wie ein Familienmitglied. Mit ihrer Hilfe hat er eine Wohnung im Nachbarort gefunden und eine Lehrstelle bei der Firma Hekatron angetreten. Der Dritte war immer eigenwillig, "schwer zu fassen". Er kämpft sich jetzt auf eigene Faust voran.
Unsere erste Aktion war eine der wichtigsten: Kurz nach unserer "Gründung" als Integrationskreis luden wir Robert Klebes vom Migrationsdienst des Caritasverbandes für den Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald zu uns ein. Wir suchten die Einbettung in eine professionelle Hilfestruktur, denn uns war bewusst: Wer hilft, dem muss auch geholfen werden. Wir bekommen von der Caritas wertvolle Orientierung. Seit einem Jahr arbeitet auch eine Caritas-Sozialarbeiterin direkt für Bollschweil.
Anschluss an professionelle Hilfen bewährt sich
Wie wichtig dieser Kontakt ist, wurde schon nach wenigen Wochen klar: Wir bekamen einen jungen Mann aus Gambia "zugewiesen". Er war schwer krank, zwei Operationen waren nötig. Davon hatte er eine noch vor sich, danach würde sich der Aufenthalt in einer Rehaklinik anschließen. Mit seinem Schicksal kam eine Flut neuer Fragen: Wer bringt ihn in die Rehaklinik mitten im Schwarzwald und holt ihn dort wieder ab? Wer kümmert sich um die Verlängerung seiner Duldung, wenn er im Krankenhaus ist? Wie funktionieren die Anschlussbehandlungen, wer stellt den Krankenschein aus?
Viele dieser Fragen konnten mit Hilfe der Caritas beantwortet werden. Der junge Afrikaner besucht inzwischen eine Freiburger Schule und hat zudem einen Küchenjob in einem Bollschweiler Gasthaus gefunden.
Das Schöne ist: wie aus dem Dorf Energie wächst, um mitzuhelfen. Unsere Arbeit wurde bekannt und immer mehr meldeten sich. Wir legten ein Lager an, für gespendete Möbel und Geschirr, für vieles, das Flüchtlinge brauchen könnten. Wir richteten ein Spendenkonto ein. Wir helfen den Flüchtlingskindern bei den Hausaufgaben. Wir veranstalten regelmäßig öffentliche Stammtische, um Bollschweiler mit Flüchtlingen zusammenzubringen. Es könnten aber noch mehr sein aus dem Dorf, die mithelfen, und leider sind es weiter vorwiegend Frauen, die aktiv sind.
Unsere Struktur baut auf Bezugspersonen auf. Zu jeder Familie, jedem Flüchtling gehört eine Person, die alle wichtigen Informationen bündelt, die Hilfen koordiniert, soziale Kontakte schafft und als erster Ratgeber zur Verfügung steht. Das funktioniert, weil die meisten der Helfer(innen) sich viel Zeit für ihr Engagement nehmen. Neben einem Vollzeitjob wären manche Aufgaben und der dazugehörige Papierkram kaum zu schaffen, etwa, wenn eine Familie eine Aufenthaltsgenehmigung bekommt und sich nun nicht mehr beim Ausländeramt, sondern beim Jobcenter melden muss, mit vielen neuen Auflagen und Verpflichtungen.
Zwischen Helfer(in) und Flüchtling gibt es auch Spannungen. Die Syrer leben ihre Kultur mit der besonderen Rolle der Frauen. Was muss man als Privatsache akzeptieren, wo hört das Verständnis auf? Dieser Zwiespalt beschäftigt uns. Mitunter irritieren uns auch die unrealistischen Vorstellungen mancher Flüchtlinge. Sie hätten gerne eine Wohnung beziehungsweise eine größere Wohnung. Wir sagen ihnen, dass in diesem reichen Land, das ihnen hilft, auch viele Deutsche keine geeignete Wohnung finden.
Forderung: Mitspracherecht für Engagierte
In diesem Jahr werden wir vielleicht unsere erste Abschiebung verkraften müssen. Das macht uns schon jetzt traurig und wütend. Wie Hunderte von Helferkreisen in ganz Deutschland sorgen wir mit vielen Stunden ehrenamtlicher Anstrengung dafür, dass der Staat unter dem Andrang der Flüchtlinge nicht kollabiert. Und deshalb erwarten wir, dass der Staat uns anhört, wenn er Menschen, in deren Zukunft wir Zeit, Geld und Gefühle investiert haben, wieder wegschicken will. Wir Helfer(innen) wollen gehört werden und Einspruch erheben. Dieses politische Ziel werden wir uns in diesem Jahr zusätzlich vornehmen.
Erst wenn die Not sehr groß ist...
Wertekonsens ist bedroht
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