Erst wenn die Not sehr groß ist...
Sanya (17) besucht die zehnte Klasse Realschule. Ihre Eltern sind vor 19 Jahren aus dem Irak geflohen. Aber Sanya kennt die Heimat ihrer Eltern nicht. Sie und zwei ihrer jüngeren Geschwister sind hier in Deutschland geboren. "Deutschland ist meine Heimat, auch wenn meine Eltern das nicht so sehen", erklärt Sanya nachdenklich, aber bestimmt.
Die Mitarbeiterin von "Yasemin" lernt Sanya bei einer Veranstaltung der Beratungsstelle an Sanyas Schule kennen. Sehr lebhaft diskutiert das Mädchen mit den Klassenkameradinnen, welche Wünsche sie für ihre berufliche Zukunft hat. "Ich möchte so gerne als Tierpflegerin arbeiten", erzählt sie. Sanya schildert freudestrahlend ihre Eindrücke, die sie während eines Praktikums beim Tierarzt gesammelt hat. Ihre Zuneigung zu Katzen und Igeln ist in den Erzählungen besonders spürbar.
Die Mädchen träumen von einer guten Zukunft
Die jungen Frauen lachen miteinander und fangen an zu schwärmen. Sie erzählen, wie sie sich ihr künftiges Leben vorstellen. "Erst kommt die Berufsausbildung und ich verdiene mein eigenes Geld. Ich gehe mit meinen Freundinnen aus, kaufe mir schöne Kleider und genieße mein Leben. Später heirate ich vielleicht meinen Freund und bekomme Kinder", schildert eine Freundin fröhlich ihre Vorstellungen. "Ich will gar nicht heiraten, nur mit meinem Freund zusammenleben und mein eigenes Geld verdienen", ruft eine andere junge Frau selbstbewusst in die Runde.
Während der Diskussion verändert sich Sanyas Verhalten. Sie nimmt nicht mehr am Gespräch teil. Ihr Gesichtsausdruck wird traurig. "Ich will auch nicht heiraten. Vor allem nicht einen Mann, den mir meine Eltern aussuchen", sagt Sanya auf einmal sehr leise. Tränen laufen ihr über das Gesicht. Sie erzählt, dass sie vor zwei Jahren verliebt war. Wie schön die "Schmetterlinge im Bauch" sich angefühlt haben. Aber ihre Eltern haben ihr den Kontakt zu diesem Jungen verboten. Sie schildert, wie sie mehr und mehr verpflichtet worden ist, im Haushalt mitzuhelfen und auf ihre Geschwister aufzupassen. "Ich darf mich seitdem nicht mal mehr mit meinen Freundinnen treffen", erzählt Sanya deprimiert. "Sag deinen Eltern doch einfach, dass du nicht heiraten möchtest", schlägt eine Klassenkameradin vor. "Mein Wunsch ist nicht wichtig", erklärt Sanya. "Die Wünsche der Familie stehen im Vordergrund. Vor allem muss ich das tun, was meine Eltern von mir verlangen." Sanya spricht bedrückt weiter: "Ihre Tradition ist ihnen wichtiger, als ich es bin. Meine Ohren hören zwar, dass sie mich lieben, weil sie es sagen. Aber mein Herz fragt, wie sie mich gegen meinen Willen verheiraten können, wenn sie mich lieben. Ich bin hier geboren und aufgewachsen und ich träume davon, mein eigenes Leben zu leben. Ich will einen Beruf erlernen, Geld verdienen und vielleicht den Mann heiraten, den ich liebe. Ich wünsche mir so sehr, dass meine Eltern das akzeptieren. Und ich wünsche mir so sehr, dass sie mich trotzdem lieben." Sanya klingt resigniert.
"Wie können wir Sanya helfen?", fragt eine junge Frau bedrückt. Die Mädchen und die Mitarbeiterin von "Yasemin" diskutieren über Traditionen und Bräuche in unterschiedlichen Ländern und über das Leben in Deutschland. Dazu gehört, die jungen Frauen über ihre Rechte aufzuklären. Sie erarbeiten Lösungsmöglichkeiten mit Sanya, die es ihr ermöglichen, mit der Konfliktsituation umzugehen.
Zum Schluss bedankt sich Sanya bei allen. "Es hat so gutgetan, darüber zu sprechen. Obwohl ich noch nicht weiß, wie es weitergeht, weiß ich jetzt, dass ich nicht alleine bin. Und ich weiß, wo ich mir Hilfe holen kann."
Frauen mit Migrationshintergrund werden unterstützt
Zu den Themen Gewalt im Namen der Ehre und Zwangsverheiratung berät, informiert und sensibilisiert "Yasemin"1 landesweit. Die mobile Fachberatungsstelle sucht die jungen Frauen in ihren Lebenswelten auf. Seit dem Jahr 2007 beraten die Mitarbeiterinnen Mädchen und junge Frauen im Alter von zwölf bis 27 Jahren mit Migrationshintergrund, vereinzelt auch junge Männer oder Paare, die von Zwangsverheiratung bedroht sind. Zur Zielgruppe gehören auch vertraute Dritte: Freunde und Freundinnen, Lehrer(innen), soziale Fachkräfte und Behördenmitarbeitende.
Viele junge Frauen, die von Gewalt im Namen der Ehre betroffen oder von Zwangsverheiratung bedroht sind, kommen aus patriarchal strukturierten, stark traditionell orientierten Familiensystemen. Zwangsverheiratungen sind weltweit in vielen Gesellschaften verbreitet. Dies ist kein religiöses, sondern ein kulturelles Phänomen, welches in der Struktur der Familie begründet ist. In diesen Familien trifft das Familienoberhaupt, dies kann Vater, Mutter oder ein Verwandter sein, die Entscheidungen für die Familie. Damit ist für die Kinder eine individuelle Lebensplanung nicht möglich. Die kollektiven Werte in der Familie haben Vorrang - persönliche Bedürfnisse von einzelnen Individuen sind nachrangig. Das Wohlergehen der Familie geht meist einher mit dem Erhalt der Familienehre. Es gibt keine einheitliche Definition von Ehre, weil sie für jede Familie etwas anderes bedeutet. Der Ehrbegriff unterscheidet sich je nach Gesellschaft und Kultur. In vielen Fällen ist Ehre aber gleichzusetzen mit Ansehen, Respekt und Achtung vor Autoritäten, Gehorsam, Traditionen, Erhalt der Jungfräulichkeit und Zusammenhalt der Familie.
Die Anwendung von Gewalt wird dadurch gerechtfertigt, dass sie die Ehre in der Familie erhalten beziehungsweise wiederherstellen soll. Die jungen Frauen erleben jahrelange häusliche Gewalt in Form von emotionaler Erpressung, Bedrohung, Unterdrückung und körperlicher oder sexueller Gewalt. Die Zwangsverheiratung stellt dabei die Spitze des Eisberges dar.
Warum es Zwangsehen gibt
Motive für Zwangsverheiratungen oder arrangierte Ehen können sein,
- die Beziehungen in den Großfamilien zu vertiefen,
- die Traditionen aufrechtzuerhalten,
- ökonomische Aspekte,
- die Einwanderung nach Deutschland,
- die Tochter (manchmal auch den Sohn) versorgt und abgesichert zu wissen,
- die Tochter/den Sohn zu disziplinieren (zum Beispiel bei Homosexualität) und zu erziehen.
Gewalt im Namen der Ehre und Zwangsverheiratung können bei Familien mit Migrationserfahrung zur Handlungsoption werden, weil sie durch ihre Situation besondere Herausforderungen bewältigen müssen. Sie möchten den Anforderungen ihrer Herkunftskultur und denen der hiesigen Gesellschaft gerecht werden. Manche Migrant(inn)en erleben auch in der zweiten und dritten Generation noch große Unsicherheiten durch Regeln und Systeme, einen unklaren Aufenthaltsstatus, unzureichende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, fehlende soziale Netzwerke und den Verlust des vertrauten Umfeldes. Aus diesen Gründen werden die innerfamiliären Bindungen gefestigt, die Werte und Traditionen des Herkunftslandes an die Kinder weitergegeben. Familien mit Migrationsgeschichte reagieren in ihrer neuen Umgebung manchmal sogar stringenter in Bezug auf eigene Traditionen als in ihrem Herkunftsland. Insofern ist die Erfahrung der Migration und der Partizipation in der neuen Gesellschaft ein entscheidender Faktor für das soziale Gefüge in der Familie. Dies bezieht sich auch auf die zweite und dritte Generation.
Wer in die Beratung kommt
In der Beratung haben die Mitarbeiterinnen es mit vielen verschiedenen Herkunftsländern zu tun. "Yasemin" unterstützt junge Migrant(inn)en bei Schwierigkeiten mit der Familie und dem sozialen Umfeld, bei Konflikten, die im Zusammenhang mit ihrem traditionell-patriarchalen und kulturellen Hintergrund offenbar werden, bei Gewalt und der Bedrohung durch Zwangsverheiratung. Sie zeigen den betroffenen Mädchen und Frauen Wege aus ihren Notsituationen auf. Damit sollen sie befähigt werden, ein selbstbestimmtes und eigenständiges Leben zu planen und zu führen.
Die jungen Frauen wenden sich erst dann an die Beraterinnen, wenn die Bedrängungen schon sehr groß sind. Gründe dafür sind Schuldgefühle ihrer Familie gegenüber, wenn sie sich an jemand Außenstehendes gewandt haben. Sich einer Beratungsstelle oder Institution anzuvertrauen, kann innerhalb der Familie als Ehrverletzung betrachtet werden.
Nachdem sich eine junge Frau den Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle anvertraut hat, ist es wichtig, ihr Bewusstsein darüber, was ihre Rechte sind, zu stärken. Die Frau hat ein Recht auf ein gewaltfreies Leben und auf eine freie Partnerwahl. Um alle Ressourcen ihrer Situation zu erkennen, ist es erforderlich, einen individuellen Blick auf ihre Familie zu werfen: Es gibt nicht die typisch deutsche oder irakische Familie. Grundsätzlich ist die junge Frau als Expertin ihrer Familie anzusehen. Sie kann am besten einschätzen, wie die Angehörigen auf verschiedene Handlungen reagieren. Es werden in der Beratung keine Entscheidungen "über den Kopf hinweg" getroffen, da die Konsequenzen für die junge Frau sehr weitreichend sein können.
Im Jahr 2014 wurden von der Beratungsstelle "Yasemin" 197 Beratungsfälle dokumentiert. Die Kontakte sind entsprechend höher, da die jungen Frauen oder vertrauten Dritten nicht nur einmal beraten werden, sondern viele davon zwei- bis dreimal oder öfter und über einen längeren Zeitraum.
Prävention in Schulen
Das Angebot von "Yasemin" umfasst außer der kostenlosen Beratung - persönlich, per Telefon oder Mail - zwei weitere Bereiche: einmal die Präventionsarbeit in Schulen. Damit möglichst viele junge Menschen über das Beratungsangebot von "Yasemin" informiert werden, werden Veranstaltungen in Schulklassen in ganz Baden-Württemberg angeboten. Erfahrungsgemäß erleichtern diese Vor-Ort-Angebote den Mädchen und jungen Frauen den Zugang und die Kontaktaufnahme zu den Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle. Die Veranstaltungen richten sich an Schüler(innen) ab Klasse 7 und an Auszubildende. Ziel ist es, die jungen Menschen schon früh zu erreichen, sie für ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu sensibilisieren, sie zu stärken, ihr Selbstbewusstsein zu fördern, ihnen ihre Rechte aufzuzeigen und sie mit dem Beratungsangebot vertraut machen.
Außerdem informiert "Yasemin" in Fachgesprächen Lehrer(innen), Schulsozialarbeiter(innen) und Ausbilder(innen) zum Thema kultur- und migrationsspezifische Fragestellungen, Gewalt und Zwangsverheiratung.
Netzwerkarbeit - damit sich etwas ändert
Ein drittes Arbeitsfeld neben Beratung und Prävention ist die Vernetzung und Gremienarbeit. Diese findet im kommunalen Bereich in Arbeitsgruppen, Behörden und Beratungsstellen statt, auf Länderebene im Landesforum gegen Zwangsverheiratung, auf Bundesebene in der Bundesfachkonferenz gegen Zwangsverheiratung. "Yasemin" bietet Fachgespräche und Informationsveranstaltungen für soziale Fachkräfte, Behördenmitarbeitende und Lehrer(innen) an. Außerdem werden jedes Jahr Fachtage zum Thema Zwangsverheiratung für interdisziplinäre Berufsgruppen angeboten, um eine bessere Vernetzung in Baden-Württemberg zu erreichen.
Die Kombination der drei Arbeitsfelder Beratung, Prävention und Vernetzung hat sich bewährt: Damit betroffene junge Menschen in Krisensituationen schnell und adäquat unterstützt werden können.
Anmerkung
* Aus Sicherheitsgründen sind alle Namen geändert, auch die der Mitarbeiterinnen von "Yasemin".
1. Träger ist die Evangelische Gesellschaft Stuttgart, die die Beratungsstelle mitfinanziert. Den Hauptanteil der Finanzierung trägt das Ministerium für Integration Baden Württemberg. Für 2016 ist die Finanzierung der knapp 1,6 Stellen gesichert.
Anschluss an die Dorffamilie
Wertekonsens ist bedroht
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