Zeitweise müssen Hilfen eingestellt werden, um Mitarbeitende nicht zu gefährden
Als am 24. Februar 2022 die ersten Meldungen vom russischen Angriff auf die Ukraine in Deutschland eintrafen, war das Unvorstellbare tatsächlich eingetreten: Es herrscht wieder Krieg in Europa. Das Entsetzen darüber war groß. Das Wort Zeitenwende machte einige Tage später Karriere und markiert nur zu deutlich auch ein neues, umfangreiches Kapitel humanitärer Hilfe von Caritas international (Ci).
Wer dieser Tage mit Gernot Krauß von Ci sprechen möchte, braucht entweder viel Glück oder Geduld. Manchmal auch beides. "Ich kann gerade nicht, bin in einer Videokonferenz. Melde mich." So oder so ähnlich werden Gesprächsanfragen vom Leiter des Ukraine-Teams bei Ci häufig kurz und bündig beschieden - mittlerweile seit einem Jahr.
Denn mit den schockierenden Ereignissen begann die Ukraine-Nothilfe von Caritas international, die Krauß wegen ihrer Dimension bereits historisch nennt: "So groß angelegt und umfangreich haben wir bislang noch nie Not- und Katastrophenhilfe geleistet." Er kann das mit Fug und Recht sagen, denn er hat schon die Hilfen während des Krieges auf dem Balkan in den 1990er-Jahren, nach dem verheerenden Erdbeben von 2010 auf Haiti und den beiden Flutkatastrophen in Ostdeutschland 2002 und 2013 mitorganisiert. Er war im Krisenstab zum Tsunami in Südostasien von 2004, als er die Hilfen für die Opfer koordinierte.
Zuletzt war Krauß 2021 nach den Überschwemmungen in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen gefordert, um im Inland gemeinsam mit den Kolleg:innen der betroffenen Caritas-Diözesanverbände Hilfe zu organisieren. Nun, fast übergangslos, hat Ci mit dem Ukraine-Krieg die nächste Großkatastrophe ereilt, die trotz aller Anzeichen im Vorfeld dann doch überraschend kam. Man habe, so Krauß, im Team zwar die Möglichkeit der Eskalation des Krieges erörtert und auch dafür geplant. Aber gedanklich habe man versucht, diesen Fall auszuschließen.
Eine Krisensitzung folgt der nächsten
Die Realität hat diesen Optimismus auf brutale Weise beendet. Von dem einen auf den anderen Tag war die Organisation umfassender Nothilfe vonnöten. Seitdem folgt eine Krisensitzung der nächsten. Ci ist permanent mit der Hauptpartnerorganisation, der Caritas Ukraine, im Gespräch. Nur so ist die Nothilfe effektiv zu leisten.
Bei Ci arbeitet ein engagiertes Team, das sich sehr schnell erweitert und neu aufgestellt hat. Im westukrainischen Lwiw sind die beiden Auslandsfachkräfte Henrike Bittermann und Hannah Kikwitzki tätig, die im direkten Austausch mit der Caritas Ukraine stehen. Die beiden koordinieren und justieren die Hilfen vor Ort. "Ohne sie ginge das nicht halb so gut", sagt Laila Weiß, die als Referentin gemeinsam mit Daniel Apolinarski das Ukraine-Team in Freiburg unterstützt. Weitere Kolleg:innen haben die Zahlen, Abrechnungen und Überweisungen im Blick. Denn auch das Spendenaufkommen ist auf historischem Höchststand. Mehr als 74 Millionen Euro wurden im ersten Jahr des Ukraine-Krieges an Ci für Hilfsmaßnahmen gespendet. Damit wurden die Spendenrekorde nach dem Tsunami von 2004 (52 Millionen Euro) und der Flutkatastrophe 2021 in Deutschland (49,5 Millionen Euro) deutlich übertroffen.
Die Spendengelder werden für die Versorgung von Millionen Binnenflüchtlingen mit Lebensmitteln, Hygieneartikeln und medizinischer Hilfe eingesetzt. Insgesamt 2000 ukrainische Kolleg:innen sowie zahlreiche Freiwillige setzen sich trotz der eigenen angespannten Lage für die Kriegsvertriebenen ein. "Wir haben sehr großen Respekt vor dem Engagement unserer ukrainischen Kolleginnen und Kollegen, denn man stelle sich deren Situation einmal vor, ihre Sorgen um die eigenen Angehörigen und um diejenigen, denen sie konkret helfen", sagt Laila Weiß. "Das kann einen zerreißen. Wir sind für ihren Einsatz unendlich dankbar."
Die Angst als ständige Begleiterin bei der Arbeit
So erzählen beispielsweise Nathaliya Voloshyn und Yulia Kormosh aus Lwiw, die sich beide um alte und kranke Menschen in der häuslichen Pflege kümmern, von der Angst, die sie während ihrer Arbeit ständig begleitet. Selbst wenn man sich überhaupt nicht danach fühle, gehe es doch darum, Zuversicht auszustrahlen. Also komme sie mit einem Lächeln zu den Leuten und heitere sie auf, so gut sie eben könne, beschreibt Nathaliya Voloshyn ihre Zerrissenheit beim Einsatz. Ihre Arbeit wird mit der Ausweitung des Krieges auf die Energieversorgung immer risikoreicher. Kam es im Westen der Ukraine nur in der ersten Phase des Krieges zu Luftalarmen, so sind diese nun auch dort Teil des Alltags. Auch die beiden Auslandsfachkräfte Bittermann und Kikwitzki müssen zuweilen ihre Arbeit in einen Luftschutzkeller verlegen.
Wie gefährlich die Arbeit sein kann, zeigt der russische Angriff auf das Sozialzentrum der Caritas in Mariupol, bei dem zwei Caritas-Mitarbeitende und fünf Angehörige ums Leben kamen. Das Zentrum wurde total zerstört. Mittlerweile kennen alle Caritas-Mitarbeitenden der Ukraine in ihrem persönlichen Umfeld Menschen, die durch den Krieg umgekommen sind.
Zwei Caritas-Sozialzentren wurden wegen Frontnähe aufgegeben
Die Kolleg:innen aus Mariupol arbeiten inzwischen von Cherkasy aus. Von den landesweit insgesamt 42 Caritas-Sozialzentren, die mit Hilfe des Deutschen Caritasverbandes, des internationalen Caritas-Netzwerks und von Caritas Ukraine seit der russischen Besetzung der Ostukraine 2014 aufgebaut wurden, musste neben Mariupol auch Kramatorsk aufgrund seiner Frontnähe aufgegeben werden. Das ist besonders schmerzlich, weil durch die Sozialzentren lebenswichtige Arbeit und Hilfen für die Menschen in der Region ermöglicht wurde. Diese Unterstützung ist nun weggebrochen, worunter vor allem alte und kranke Menschen leiden, die nicht so einfach fliehen können und auf Hilfe angewiesen sind.
Ein Ort, wo Kinder behütet spielen können
Die verbliebenen Sozialzentren sind für die Caritas-Hilfen in diesem Krieg enorm wichtig. Dort werden die ankommenden Kriegsflüchtlinge mit Lebensmitteln und medizinischen Hilfen versorgt und zum Teil auch untergebracht. Kinder können dort behütet spielen, vom Krieg traumatisierte Menschen erhalten psychologische Hilfen. Auch die von den Sozialzentren organisierte häusliche Kranken- und Altenpflege geht weiter - sofern es das Kriegsgeschehen zulässt. "Die Sicherheitslage beeinflusst unsere Arbeit stark", sagt Laila Weiß, "zeitweise müssen die Hilfen eingestellt werden, um das Leben der Caritas-Mitarbeitenden nicht zu gefährden."
Doch die Dichte der Sozialzentren soll besonders im Westen des Landes erhöht werden, weil man in längeren Zeiträumen denken müsse. "Wenn hoffentlich bald kein Schuss mehr fällt und keine Nothilfe mehr nötig sein wird, bleibt doch die Notwendigkeit, den Menschen bei der Bewältigung der Kriegsfolgen zu helfen", so Krauß, der Leiter des Ci-Ukraine-Teams.
Derzeit konzentriert sich alles auf die Winterhilfe: Mit Hilfsgeldern wurden und werden die Menschen dabei unterstützt, Wohnungen und Häuser winterfest zu machen und Brennmaterial wie Holz zu besorgen. Die Caritas versorgt die Menschen zudem mit Decken und warmer Kleidung. Die Hilfen der Caritas Ukraine haben in diesem ersten Kriegsjahr mehr als 2,15 Millionen Menschen erreicht. Etwa 17,7 Millionen Ukrainer:innen sind laut Vereinten Nationen auf Hilfe angewiesen, 6,5 Millionen wurden durch den Krieg innerhalb des Landes vertrieben.
Es wird versucht, die Hilfsgüter in der Ukraine oder in den Anrainerstaaten zu beschaffen, um die lokalen Wirtschaftskreisläufe zu stärken. Hilfen leistet Ci auch in den Nachbarstaaten Polen, Rumänien, Tschechien, Slowakei und Moldau, weil diese zuallererst durch die ukrainischen Flüchtlinge gefordert sind. Knapp acht Millionen Menschen aus der Ukraine sind ins Ausland geflohen.
Engagierte Hilfe kommt auch aus den Caritasverbänden in Deutschland, die die Versorgung und Integration der Flüchtlinge hierzulande unterstützen und mit Nahrungsmittelpaketen den Menschen in der Ukraine helfen. Von Ci wurden fünf Millionen Euro aus Spendenmitteln für die Flüchtlingshilfe in Deutschland bereitgestellt (Förderprogramm "Caritas4U", S. Beitrag auf S. 9 ff.). Dieser Einsatz sei toll. Das Netzwerk der Caritas arbeite im Ukraine-Krieg sehr konzentriert zusammen, sagt Gernot Krauß. Das ist auch notwendig, denn der Krieg und seine Folgen werden die Caritas noch sehr lange beschäftigen.
Lehrtätigkeit als abhängige Beschäftigung
Caritaswissenschaft – ein Begriff, viele Wege
Wertvolle Orte, um anderen zu begegnen und sich zu informieren
Krieg in der Ukraine – Kitas am Limit
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