Aktuelle migrations- und integrationsrechtliche Vorhaben der Bundesregierung
Die Regierungskoalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP hat sich mit ihrem Koalitionsvertrag vom Dezember 2021 in der Migrations- und Integrationspolitik viel vorgenommen und einen Paradigmenwechsel zum Ziel gesetzt. Bei genauerem Hinsehen bleibt zumindest das Migrationsrecht aber weitgehend ordnungsrechtlich ausgerichtet: Irreguläre Migration soll reduziert werden und reguläre Migration vor allem dazu dienen, Arbeitskräftebedarfe zu stillen. Flüchtlingsschutz soll gewährleistet werden, soweit es dazu rechtliche Verpflichtungen gibt. Impulse, mehr Verantwortung zu übernehmen - insbesondere in der Asylpolitik der EU -, sind kaum erkennbar, ebenso wenig Anstöße für eine diversity- und teilhabeorientierte Integrationspolitik. Die einzelnen Vorhaben werden seit Sommer 2022 schrittweise umgesetzt, wobei leicht der Überblick verloren gehen kann. Im Folgenden wird kurz dargestellt, welche Änderungen bereits beschlossen wurden und was kurz- und mittelfristig zu erwarten ist.
Immer wieder ist in der politischen Debatte zu hören, dass die Regierungskoalition Asyl und Arbeitsmigration vermischen würde. Tatsächlich wird aber die aus dem geltenden Recht bekannte Trennung zwischen den Zugangswegen bei allen Vorschlägen, die bislang bekannt wurden, beibehalten. So gilt auch der Grundsatz unverändert weiter, dass bei Nicht-EU-Bürger:innen, sofern es sich nicht um Fluchtmigration handelt, in einem Visumsverfahren vor der Einreise geprüft wird, ob die Voraussetzungen für einen längeren Aufenthalt vorliegen. Es sind auch keine Erleichterungen für einen späteren Wechsel des Aufenthaltsgrunds vorgesehen.
Was ist bereits in Umsetzung?
Die erste und wichtigste migrations- und integrationspolitische Herausforderung des Jahres 2022 war ungeplant: Es wurden über eine Million Menschen aufgenommen, die die Ukraine aufgrund des am 24. Februar 2022 begonnenen Krieges verlassen haben. Erstmals wurde in der EU die sogenannte Massenzustromrichtlinie 2001/55/EG aktiviert.1 Ukrainische Staatsangehörige erhalten eine befristete Aufenthaltserlaubnis und haben nach entsprechenden Gesetzesänderungen Zugang zu regulären Grundsicherungsleistungen, Integrationskursen, Unterstützung bei der Arbeitsmarktintegration sowie Eingliederungshilfe nach dem SGB IX.2 Das gilt auch für Ausländer:innen, die sich zu Beginn des Krieges mit unbefristetem Aufenthaltsrecht in der Ukraine aufgehalten haben. Für andere, wie zum Beispiel internationale Studierende, die aus der Ukraine nach Deutschland geflohen sind, müssen im Einzelfall Lösungen gefunden werden.
Im Juni legte das Bundesministerium des Inneren und für Heimat (BMI) einen ersten Entwurf für ein Gesetz zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts (ChAR-Gesetz) vor, das am 31. Dezember 2022 in Kraft getreten ist.3 Dieses ermöglicht Geduldeten, bei denen die Voraussetzungen für die bestehenden Bleiberechte (noch) nicht vorliegen, für 18 Monate die neue Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Ziel ist, dass sie in dieser Zeit die Voraussetzungen für ein Bleiberecht (unter anderem überwiegende Sicherung des Lebensunterhalts, Kenntnisse der deutschen Sprache, Identitätsnachweis) erfüllen. Voraussetzung ist unter anderem ein rechtmäßiger oder geduldeter Aufenthalt von fünf Jahren am Stichtag 31. Oktober 2022. Von dieser Regelung sollen rund 137.000 Personen profitieren. Darüber hinaus werden mit dem Gesetz Änderungen an den bestehenden Bleiberechtsregelungen für Langzeitgeduldete vorgenommen und insbesondere die Fristen für den notwendigen Voraufenthalt verkürzt. Weiter erhalten durch das Gesetz Asylsuchende unabhängig von der Bleibeperspektive Zugang zu Integrationskursen im Rahmen verfügbarer Plätze. Um die Zahl der Abschiebungen zu steigern, wird Abschiebungshaft ermöglicht, auch wenn eine Abschiebung nicht in den nächsten drei Monaten absehbar durchgeführt werden kann. Wie weit die neue Regelung greifen wird, wonach anerkannte Flüchtlinge und Schutzberechtigte aus zwingenden Gründen auch generalpräventiv ausgewiesen werden können, muss die Praxis zeigen. Ohne sachlichen Zusammenhang wurde mit dem ChAR-Gesetz der Familiennachzug zu Fachkräften vereinfacht, indem die Gatt:innen und die nachziehenden über 16-jährigen Kinder von der Pflicht befreit werden, deutsche Sprachkenntnisse nachzuweisen.
Zeitgleich mit dem ChAR-Gesetz wurde das Gesetz zur Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren beschlossen, das am 1. Januar 2023 in Kraft trat.4 Asylanhörungen und die Hinzuziehung von Sprachmittler:innen sollen per Videokonferenz durchgeführt werden können. Die obligatorische Prüfung von Anerkennungsbescheiden nach drei Jahren wurde gestrichen und Entscheidungen im schriftlichen Verfahren wurden erleichtert. Um die asylrechtliche Rechtsprechung zu vereinheitlichen, erhält das Bundesverwaltungsgericht neben der revisionsrechtlichen auch die Rolle einer Tatsacheninstanz. Es wird eine flächendeckende, behördenunabhängige Asylverfahrensberatung eingeführt, an der sich auch der Deutsche Caritasverband beteiligen wird.
Was ist in Planung für 2023?
Es hätte nahegelegen, mit dem ChAR-Gesetz auch die im Koalitionsvertrag angekündigte Neuordnung der Duldungstatbestände und die Abschaffung der sogenannten "Duldung light" vorzunehmen. Dies ist aber auf 2023 verschoben worden und soll mit dem sogenannten zweiten Migrationspaket kommen. Nach den bislang bekannt gewordenen Überlegungen ist wohl keine vollständige Abschaffung der Einschränkungen durch die "Duldung light" geplant wie Arbeitsverbote oder Ausschluss aus den Bleiberechten für Personen, die angeblich oder tatsächlich über ihre Identität täuschen und/oder andere Mitwirkungspflichten verletzen. Das wird genau zu beobachten sein.
Es ist mittlerweile weitgehend unstrittig, dass Deutschland Zuwanderung auf allen Qualifikationsstufen benötigt. Da seit einigen Jahren, unter anderem wegen der auch dort wirkenden demografischen Effekte, weniger Arbeitskräfte aus anderen EU-Staaten kommen, muss die Einwanderung aus Nicht-EU-Staaten forciert werden. 2020 wurde deshalb das Bildungs- und Arbeitsmigrationsrecht mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz grundlegend überarbeitet. Trotzdem bleiben die Zahlen weit hinter den Bedarfen zurück. Anfang 2023 legten das BMI und das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) nun einen Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung vor. Es soll künftig unter anderem bei Vorliegen eines Arbeitsplatzangebotes die Zuwanderung von Geringerqualifizierten wie Pflegehelfer:innen und von Arbeitskräften ohne formelle Anerkennung des Berufsabschlusses möglich sein. Anerkennungsverfahren für ausländische Berufsabschlüsse sollen vereinfacht und beschleunigt werden. Weiter soll eine Chancenkarte für einen Aufenthalt zur Arbeitssuche auf Basis eines Punktesystems eingeführt werden. Die angekündigte Etablierung einer Willkommens- und Anerkennungskultur findet sich in dem Gesetzentwurf nicht. Es fehlt an konkreten Hinweisen, dass die Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer (MBE) und der Jugendmigrationsdienst für junge Menschen (JMD) bedarfsgerecht ausgebaut werden. Das Programm "Faire Integration"5 soll eine gesetzliche Grundlage erhalten.
Visumsvergabe muss beschleunigt werden
Ein wesentlicher Grund für die bislang nicht zufriedenstellende Zahl einwandernder Arbeitskräfte sind die schleppenden, überlangen Visumsverfahren. Es gibt aber bisher kaum erkennbare Anstrengungen, die Visavergabe (unter anderem durch Digitalisierung und Vereinfachung der rechtlichen Vorgaben) zu beschleunigen. Auch für die Überlastung der Ausländerbehörden müssen Lösungen gefunden werden, wenn wirklich eine Erhöhung der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt gewünscht ist.
Der Koalitionsvertrag sieht vor, dass beim Ehegattennachzug Kenntnisse der deutschen Sprache künftig nicht mehr vor der Einreise nachgewiesen werden müssen. Das soll im sogenannten Migrationspaket II umgesetzt werden. Besser wäre es aus Caritas-Sicht, wenn es gleich zu einer vollständigen Abschaffung der Sprachnachweise im Kontext des Familiennachzugs käme, sowohl beim Ehegattennachzug als auch für die nachziehenden Kinder zwischen 16 und 18 Jahren. Mit dem Migrationspaket II wird voraussichtlich auch die von der Caritas seit langem geforderte Gleichstellung des Nachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten mit dem Nachzug zu Flüchtlingen und der Geschwisternachzug zu unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen kommen.
Die Meldepflichten von Menschen ohne Papiere sollen laut Koalitionsvertrag überarbeitet werden, damit Kranke nicht davon abgehalten werden, sich behandeln zu lassen. Wie dieses aus Sicht der Caritas wichtige Vorhaben umgesetzt werden soll, ist derzeit noch offen. Das angekündigte unabhängige Aufenthaltsrecht für Opfer von Menschenhandel soll erst 2024 kommen.
Änderungen im Staatsangehörigkeitsrecht sind angedacht
In der politischen Diskussion sind auch Pläne aus dem BMI zur Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts. Mehrfachstaatsangehörigkeit soll generell zugelassen und die Voraufenthaltszeit für die Anspruchseinbürgerung auf fünf, bei besonderen Integrationsleistungen auf drei Jahre verkürzt werden. Bei älteren Migrant:innen soll berücksichtigt werden, dass der Erwerb von schriftlichen Deutschkenntnissen oft nicht möglich war. Die geplante Abschaffung der Optionspflicht von Kindern ausländischer Eltern, die die deutsche Staatsangehörigkeit durch Geburt in Deutschland erworben haben, und die Verkürzung des Voraufenthalts der Eltern auf fünf Jahre wäre sehr zu begrüßen und würde die Diversität in einem Einwanderungsland abbilden.
Viele der mit dem Koalitionsvertrag angekündigten migrations- und integrationspolitischen Vorhaben warten also noch auf Verwirklichung. Es bleibt zu hoffen, dass die noch ausstehenden Gesetzesinitiativen und Maßnahmen von Verantwortung für humanitäre Verpflichtungen sowie Realitätssinn geprägt sein werden und einen mutigen Beitrag zu einem integrativen, modernen Einwanderungsland leisten.
Anmerkungen
1. Beschluss des Rates vom 4. März 2022, Amtsblatt EU Nr. 71 vom 4.3.2022, S.1 ff.
2. Sogenannter Rechtskreiswechsel: BGBl. I Nr. 17 vom 27.5.2022, S.760 ff.
3. BGBl. I 2022 Nr. 57, S. 2847 ff.
4. BGBl. I 2022 Nr. 56, S. 2817 ff.
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