Suizidhilfe darf nicht schleichend zur Norm werden
Die durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vor drei Jahren angestoßene Debatte um die Neuregulierung der Suizidassistenz wird zunehmend schärfer geführt. Neben die Frage, wie der Gesetzgeber die Regulierung am besten ausgestalten sollte, stellen nun in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einige prominente Wissenschaftler die grundsätzlichere Frage, ob es überhaupt einer Gesetzgebung durch den Bundestag bedürfe.2
Tatsächlich gibt das BVerfG in seinem Urteil zur Suizidhilfe nicht ausdrücklich vor, eine neue gesetzliche Regelung zu schaffen. Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass das Gericht von einer baldigen gesetzlichen Regelung ausging. An verschiedenen Stellen gibt das Urteil vom 26. Februar 2020 konkrete Hinweise zur staatlichen Regulierungsaufgabe.3 Ausdrücklich verweist das BVerfG darauf, dass die Entscheidung, Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen, auf einen nicht unerheblichen Kreis mitbetroffener Menschen Auswirkungen hat, so dass der Schutz- und Regulierungsauftrag des Staates auch die Freiheitsrechte Dritter im Blick haben muss. »
Die Caritas erhebt in dieser Debatte ihre Stimme, denn sie weiß: Um Bedrängten wirksam zur Seite zu stehen, bedarf es eines gesetzlichen Rahmens, der die notwendigen Voraussetzungen sichert. Wir setzen uns dafür ein, dass Leben - einschließlich der Phase des Sterbens - auch für diejenigen Menschen gelingt, die arm, verlassen, krank und bedrückt sind.
Ihr sozialstaatlicher Auftrag und ihre Werte involvieren die Caritas
Als Wohlfahrtsverband hat die Caritas einen sozialstaatlichen Sicherstellungsauftrag, den sie aus einer besonderen Wertbindung heraus subsidiär erfüllt. Dies erfolgt - in allen Arbeitsfeldern - im Rahmen der geltenden Rechtsordnung, die die Handlungsmöglichkeiten der Einrichtungen beeinflusst. Deshalb ist es unabdingbar, dass der Gesetzgeber auch für Suizidhilfe und -prävention einen Rechtsrahmen definiert. Aus Sicht der Caritas ist Folgendes wichtig:
◆ Wir brauchen eine gesetzliche Regulierung mit klarer Positionierung des Gesetzgebers, zum Beispiel in Bezug auf die Frage, ab welchem Alter Suizidhilfe in Anspruch genommen werden kann.
Das BVerfG knüpft - anders als in Österreich oder in den Niederlanden - die rechtlich erlaubte Inanspruchnahme von Suizidhilfe ausdrücklich nicht an das Vorliegen schwerer Krankheit, die mit unerträglichen Schmerzen verbunden ist oder zeitnah zum Tode führt. Für eine gesetzliche Klarstellung, ab welchem Alter eine frei verantwortliche Entscheidung über den eigenen Tod als möglich angesehen werden soll, entsteht damit besonders dringlicher Bedarf.
◆ Wir brauchen eine gesetzliche Regelung, die Einrichtungen ihre institutionelle Nicht-Mitwirkungs- und Nicht-Duldungspflicht sichert. Dabei darf es keine Rolle spielen, ob es sich um konfessionell gebundene Einrichtungen handelt.
Es muss klar geregelt sein, dass Einrichtungen unabhängig von ihrer konfessionellen Bindung Suizidhilfevereinen untersagen dürfen, auf ihrem Gelände ein- und auszugehen. Die Caritas und die Deutsche Bischofskonferenz haben sich in ihren Positionierungen der vergangenen Monate bewusst nicht auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht bezogen: Der Kreis der Einrichtungen, die ein exkludierendes Schutzkonzept umsetzen wollen, soll nicht auf konfessionelle Träger eingegrenzt werden. Und im Spektrum der Wohlfahrtsverbände sollen die katholischen Träger fachlich mit der Vielfalt ihrer lebensdienlichen Konzepte überzeugen.
Die verbandliche Caritas tritt für den Schutz des Lebens ein, doch der Schutz lebensmüder Menschen ist kein exklusiver Auftrag katholischer Einrichtungen, sondern eine gemeinsame gesellschaftliche Aufgabe. Es geht also nicht um ein katholisches Sonderrecht, sondern um eine allgemeine institutionelle Nicht-Mitwirkungspflicht, die verdeutlicht, dass es religiöse wie nichtreligiöse Gründe gibt, die Mitwirkung und Duldung in Einrichtungen abzulehnen.
◆ Wir brauchen eine gesetzliche Regulierung, weil nicht alle, um die es geht, in Einrichtungen leben.
Selbst wenn man auf pflegebedürftige alte Menschen schaut - die nur eine Teilgruppe derer sind, für die das BVerfG grundsätzlich die Inanspruchnahme von Suizidhilfe unter zu klärenden Bedingungen als möglich beschreibt -, lebt von ihnen nur ein Drittel in Einrichtungen. Die übrigen werden in den eigenen vier Wänden versorgt. Der Barmer-Pflegereport 2021 geht davon aus, dass im Jahr 2030 knapp drei Millionen Pflegebedürftige zu Hause ausschließlich von ihren Angehörigen gepflegt werden. Auch für diese Menschen braucht es eine gesetzlich regulierte Orientierung zur möglichen Inanspruchnahme von Suizidhilfe.
◆ Eine gesetzliche Grundlage für Suizidprävention muss die Regulierung des assistierten Suizids ergänzen.
Suizidprävention braucht eine verlässliche Finanzierung, die ohne eine gesetzliche Grundlage nicht zu erwarten ist. Beratung, die dem assistierten Suizid vorgeschaltet wird, muss im bestehenden Beratungssystem gewährleistet werden, nicht in einer eigenen, ressourcenaufwendigen und spezialisierten Beratungsinfrastruktur der Suizidhilfe.
Aktuell haben wir in Deutschland eine maximal liberale Regelung. Die Erfahrungen zeigen, dass diese in der Praxis keineswegs überall und von allen Akteur:innen verantwortlich interpretiert wird. Im Gegenteil: Das Konzept von Suizidhilfevereinen beruht auf einem Kreis gleichgesinnter Ärzt:innen sowie Jurist:innen und Begleitpersonen, die ein juristisch gut abgesichertes Modell umsetzen, in das - ist erst einmal ein Vertrag mit ihnen geschlossen - Dritte nur noch schwer hineinkommen. Der juristisch einwandfreie Text, der die eigene freie Entscheidung dokumentieren soll, wird genauestens abgestimmt. Die Ärzt:innen, die das tödlich wirkende Mittel besorgen, sind andere als die, die den Sterbewilligen vorher begleiten und beraten, aber sie sind wie der beratende Arzt Teil des "Vereinsteams". Penibel wird darauf geachtet, dass der:die lebensmüde Vertragspartner:in sich das Mittel vor Zeug:innen selbst verabreicht, damit die Haftungsfragen geklärt sind. Danach wird die Polizei angerufen. Jener Aufwand im Vorfeld des Todes, den Kritiker:innen einer rechtlichen Regelung der Suizidassistenz zum Vorwurf machen, wird bei ausbleibender gesetzlicher Regulierung häufig im Anschluss an den Tod entstehen: Sofern plausible Zweifel an der Freiverantwortlichkeit im Raume stehen, wird die Polizei den Fall mit dem gebotenen Aufwand sorgfältig prüfen.
Deshalb setzt sich die Caritas mit Nachdruck für eine gesetzliche Regelung der Suizidassistenz und der Suizidprävention ein. Nur so kann lebensmüden Menschen geholfen und einer Normalisierung der Suizidassistenz entgegengewirkt werden. Dies ist dringlich, denn allein die Tatsache, sich mit Suizidhilfeangeboten auseinandersetzen zu müssen, schafft - auch vom BVerfG anerkannt - einen zumindest latenten Druck, vor dem die Menschen geschützt werden dürfen und müssen. Wenn ein einsamer älterer Mensch immer wieder Postwurfsendungen von Suizidhilfevereinen in seinem Briefkasten fände, würde er sich unweigerlich mit der Frage beschäftigen, ob sie nicht auch für ihn die richtige Lösung böten, gerade wenn der eigene Lebensmut vielleicht durch den Tod des Partners oder einer guten Freundin verlorenging.
Wer die Freiheit des Menschen zum Suizid umfassend respektiert, weil die Freiheit und Aufgabe, das eigene Leben zu leben, uns von niemandem abgenommen werden kann, muss noch lange nicht dafür sein, gewerbliche Suizidhilfe für alle und überall zuzulassen. Der Druck, dem sich Menschen ohne eine gesetzliche Regulierung der Suizidhilfe im vom BVerfG eröffneten liberalen Rahmen ausgesetzt sehen werden, ist zu groß, als dass wir über ihn hinwegsehen dürften.
Anmerkungen
1. Der Beitrag ist die gekürzte Fassung des Begrüßungsvortrags der Autorin beim Online-Austauschforum "Umgang mit dem assistierten Suizid" der Caritas am 9. Mai 2023 (Anmeldemöglichkeit zur CariNet-Gruppe unter: https://bit.ly/3zaPLzP).
2. Anselm, R.; Bausewein, C.; Dabrock, P.; Höfling, W.: Recht auf Leben, Rechte im Sterben. In: F.A.Z. vom 8.5.2023. Download per Kurzlink: https://bit.ly/3o3WB8m
3. BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020, Az.: 2 BvR 2347/15; Download per Kurzlink: https://bit.ly/3W7Rgti
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