Den Heimalltag aktiv mitgestalten
Das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) hat Ende 2021 sein Konzept "Wohnen 6.0 - mehr Demokratie in der (institutionellen) Langzeitpflege" vorgestellt. Die enormen Funktionsstörungen in der stationären Pflege waren Anlass, noch einmal innezuhalten. Ein "Weiter so - nur mehr vom Althergebrachten" erschien und erscheint weder für die Menschen, die solcher Pflegewohnangebote bedürfen, noch für die Menschen, die dort arbeiten, die Lösung. In seiner Tradition, Impulse zur Weiterentwicklung der Heime zu setzen (siehe KDA-Heimtypologie der 1.-5. Heimgeneration1), wurde die Initiative "Wohnen 6.0" angeregt.
Das Konzept
"Wohnen 6.0" basiert auf zwei Säulen:
◆ Die enormen Pflegeaufgaben werden in Zukunft nicht mehr allein von den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen oder hauptverantwortlich von professionellen Leistungserbringern zu bewältigen sein. Es wird nur in gemeinsamer Verantwortung von Betroffenen, Angehörigen, der Zivilgesellschaft, professionellen Leistungsträgern sowie staatlichen Akteuren gehen. Jede:r muss ein Stück mehr Selbst- und Mitverantwortung tragen, denn Pflegebedürftigkeit ist kein individuelles Schicksal, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Es gilt in gemeinsamer Verantwortung sorgende Gemeinschaften in allen Pflegearrangements - sowohl im Quartier wie in Pflegeeinrichtungen - zu initiieren.
◆ Von wem mehr Verantwortung erwartet wird, der muss auch mehr mitwirken können, also mehr mitreden, mitbestimmen und mitgestalten. Nur dann wird er:sie bereit sein, dieses Mehr an Verantwortung zu tragen. Eine neue Verantwortungskultur in der Sorgearbeit erfordert eine neue Mitwirkungs- und Entscheidungskultur. Letztlich geht es darum, mehr Demokratie in der Sorgekultur - und speziell in institutionellen Wohnsettings - zu ermöglichen. Denn Demokratie bedeutet nicht nur, sich politisch zu beteiligen, sondern heißt, generell Menschen, die von Entscheidungen betroffen sind, in diese einzubeziehen.
Im Fachdiskurs
Das Konzept "Wohnen 6.0" hat das KDA im vergangenen Jahr auf zahlreichen Fachtagungen, in Artikeln, Broschüren sowie Podcasts vorgestellt und in verschiedenen Gremien diskutiert. Dabei wurden oft die Chancen hervorgehoben, die eine stärkere Demokratisierung der Sorge und Pflege mit sich bringt:
◆ Vertreter:innen von Betroffenen sehen in einer Demokratisierung die Chance, eine wirklich "personenzentriete Pflege" zu gewährleisten.
◆ Rechtlich Betreuende verweisen darauf, dass es ein Baustein sein kann, die Anforderungen des neuen Betreuungsrechts zu erfüllen, das den Wunsch/Willen der zu Betreuenden in den Fokus rückt. "Wir müssen uns mehr damit beschäftigen, die ,Wünsche‘ der Betroffenen zu lesen und zu berücksichtigen. Das kann am ehesten gelingen, wenn wir sie systematisch in Entscheidungen einbeziehen", so ein rechtlich Betreuender.
◆ Landesvertreter:innen, die sich um eine Reform der Heimmitwirkungsverordnungen bemühen, haben den Ansatz in ihre Diskussionen aufgenommen, um die formal gewährten, aber in der Praxis häufig wenig wirksamen Mitwirkungsrechte auf eine neue Grundlage zu stellen.
◆ Trägervertreter:innen sehen in der Stärkung von Selbstverantwortung und Beteiligung ihrer Mitarbeitenden vor allem eine Chance, die Arbeitszufriedenheit zu verbessern. Man habe Erfolge bei der Arbeitszufriedenheit bei einer flexiblen, mit den Mitarbeitenden ausgehandelten Arbeitsgestaltung erzielt, heißt es vonseiten eines Trägervertreters.
◆ Kommunale Vertreter:innen erhoffen sich, die aktuellen Krisen in der Pflege in gemeinsamer Solidarität besser bewältigen zu können.
Gemeinsam sieht man in "Wohnen 6.0" einen wichtigen Beitrag, um die Diskussion über eine stärker partizipative Haltung in der Sorgearbeit zu beleben. Man brauche aber mehr Erfahrungen, Methoden, Beispiele und Hilfen, wie eine Demokratisierung der Sorgestrukturen auch bei schwerem Pflegebedarf gelingen kann, heißt es aus der Fachwelt. Es bedürfe einer Ermutigungskampagne und man müsse sich auf die Suche nach zukunftsweisenden Demokratisierungsansätzen in der Pflege machen.
Die praktische Erprobung
Diese Erkenntnisse waren für das KDA der Anlass, "Wohnen 6.0" in ausgewählten Einrichtungen zu erproben und auf dieser Grundlage Hilfen für die Umsetzung zu entwickeln. Die Praxisphase ist gefördert vom Deutschen Hilfswerk (DHW) im Herbst 2021 angelaufen und dauert bis Sommer 2024. Ziel dieses Förderprojektes der Deutschen Fernsehlotterie ist
◆ die Konzeptionierung von "Wohnen 6.0" im Praxisdialog auszudifferenzieren (verschiedene Diskussionsforen);
◆ das Konzept in der Praxis zu erproben (in drei Pilot-Einrichtungen bei der Bremer Heimstiftung, dem Caritasverband Paderborn sowie der Evangelischen Heimstiftung, Stuttgart);
◆ eine Evaluierung zu sichern (Fallstudienanalysen in den Piloten);
◆ zu gewährleisten, dass die Erfahrungen verbreitet werden (Erstellen einer Arbeitshilfe).
In den Pilot-Einrichtungen wurden sogenannte Demokratie-/Teilhabemanager:innen eingesetzt, die in der Design-Thinking-Methode qualifiziert sind - eine spezielle Methode, um neue Wege zu testen. Die Aufgabe der Manager:innen ist, Mitwirkung zu fördern, indem Gelegenheiten dazu geschaffen werden, dazu befähigt wird und gemeinsam beschlossene Maßnahmen auch umgesetzt werden. Dabei ist die Transparenz für alle gesichert. Das KDA unterstützt durch Information, Beratung, Qualifizierung und einen regelmäßigen Erfahrungsaustausch fachlich die Arbeit der Piloten und führt eine prozessbegleitende Evaluierung durch.
Die Pilot-Einrichtungen arbeiten seit circa einem Jahr nach dem Konzept "Wohnen 6.0" und haben erste Erfahrungen gemacht, wie ein mehr an demokratischer Mitwirkung im Heimalltag möglich gemacht werden kann:
Mitreden, mitentscheiden, mitgestalten
Ein erstes Ziel von "Wohnen 6.0" ist, der Bewohnerschaft und den Mitarbeitenden mehr Gelegenheit zu geben, ihre Vorstellungen und Wünsche zur Gestaltung des Heimalltags einzubringen. Dazu wurden von den drei Piloten Gremien gebildet, in denen sich Bewohner:innen, Angehörige, Ehrenamtliche, Mitarbeitende aus Pflege, Betreuung und Hauswirtschaft regelmäßig austauschen. Auch kommunale Akteure und Seniorenbeiräte wurden in einigen Piloten eingeladen - also alle die, die sich als sorgende Gemeinschaft der Einrichtung verstehen. Für diejenigen, die sich nicht in diesen Gremien äußern können, sollen im Projektverlauf andere Formen und Methoden erprobt werden, um auch deren Vorstellungen berücksichtigen zu können.
Neben den Möglichkeiten der Mitsprache sollen auch die Mitentscheidungsmöglichkeiten verbessert werden. In allen drei Piloten war das Thema "Verbesserung der Verpflegung" ein besonderes Anliegen der Bewohnerschaft. Hier wünschten sie mehr Mitbestimmung. An einem Pilotstandort hat man beschlossen, eine Wünschebox für Essensanregungen in den Wohngruppen aufzustellen. An einem weiteren Standort haben die Bewohner:innen nun ein größere Menüauswahl. Andere bieten "Flying Buffets" an, um die Bewohnerschaft anzuregen, sich bei der Essengestaltung mehr einzubringen. Auch Mitarbeitende können nun die Arbeitsgestaltung mehr beeinflussen. In einem Piloten wurden Reinigungskräfte auf eigenen Wunsch hin speziell im Umgang mit demenziell Erkrankten fortgebildet.
In allen Piloten wünschten die Mitarbeitenden, die Dienstplangestaltung mehr zu beeinflussen. In einem Piloten haben sie als erste Maßnahme die "Erprobung einer eigenen Dienstplangestaltung" auf den Weg gebracht. Getestet werden soll auch die selbstverantwortliche Organisation der Wochenend-Rufbereitschaft.
Erste Erfahrungen
Die ersten Erfahrungen zeigen, dass die Demokratisierung in der (institutionellen) Langzeitpflege für alle sehr ungewohnt ist - auch weil die Mitwirkungskultur und die Mitwirkungskompetenzen in den Einrichtungen noch wenig ausgeprägt oder nicht auf die Bedarfe ausgerichtet sind. Systematisches Aktivieren sowie das stetige Einüben stärkt die Motivation, sich zu beteiligen. Das geht jedoch nicht ohne kontinuierliche Begleitung. Damit Beteiligungsprozesse gelingen, bedarf es großer Flexibilität. Einrichtungen müssen einen passenden Rhythmus finden, wie eine partizipative Haltung in der Sorgearbeit gelebt werden kann.
Anmerkung
1. Das KDA hat die Heimkonzepte in fünf Generationen typisiert: 1. Generation: Anstaltskonzepte (1950er-Jahre), 2. Stationskonzepte (1970er-Jahre), 3. Generation: Wohnbereichskonzepte (1980er-Jahre), 4. Generation: Hausgemeinschaftskonzepte (1990er-Jahre), 5. Generation: Quartiershauskonzepte (2000er-Jahre) (KDA Kuratorium Deutsche Altershilfe: Die 5. Generation: KDA-Quartiershäuser. Ansätze zur Neuausrichtung von Alten- und Pflegeheimen. Köln: Kuratorium Deutsche Altershilfe, 2013).
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