Hauptamt braucht Ehrenamt – und umgekehrt
Zwischen März und Mai 2023 gab es im Auftrag des Deutschen Caritasverbandes eine qualitative sozialwissenschaftliche Untersuchung, die nach dem synergetischen Zusammenwirken von freiwillig und beruflich Engagierten in Caritas-Einrichtungen fragte.1 In zehn mehrstündigen Gruppenwerkstätten haben wir, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Delta-Instituts, mit Ehren- und Hauptamtlichen über ihre Einstellungen und Erfahrungen, ihre Motive und Haltungen, ihre Alltagspraxis miteinander und mit bestehenden Strukturen diskutiert. Exemplarisch wurden fünf Tätigkeitsfelder ausgewählt, aus denen die freiwillig und beruflich Engagierten kamen: Stationäre Altenhilfe (Altenheim, Pflegeheim); youngcaritas, Flüchtlingshilfe, Wohnungslosenhilfe; Gemeindecaritas/Quartiersarbeit. Die befragten Ehren- und Hauptamtlichen sind die Auskunftsquelle für das Thema der Untersuchung: ihr arbeitsteilig-teamhaft-synergetisches Zusammenwirken, bei dem "mehr" entsteht als das, was caritativ motivierte Individuen jeweils allein erreichen könnten. Dieses Strukturen erzeugende und Menschen in Not helfende Prozesshandeln (innerhalb) der Organisation geht über arbeitstechnische, organisatorische und betriebsklimatische Betrachtungsweisen hinaus. Es fokussiert auf das, was durch die Zusammenarbeit von freiwillig und hauptberuflich Engagierten entsteht und durch keine der beiden Gruppen allein bewirkt werden kann.
Die Leistung für ihre Klient:innen, die die Caritas in ihren Tätigkeitsfeldern erbringt, basiert elementar auf dem Zusammenwirken von hauptamtlichen Fachkräften und ehrenamtlich Engagierten. Beide stehen in einem asymmetrischen Kompetenz-, Verpflichtungs- und Zeitverhältnis zueinander, das (in der Regel) konstruktiv, produktiv und synergetisch ist. Keine der beiden Gruppen kann durch den je anderen Teil ersetzt werden.
Merkmale und Möglichkeiten der beiden Gruppen
So trivial all das auf den ersten Blick erscheinen mag, so folgenreich ist es: Freiwillig Engagierte haben in der Praxis meist weniger Entscheidungskompetenzen und weniger rechtliche Befugnisse als Hauptberufliche; außerdem meist weniger in Berufsqualifikationen erworbenes Fachwissen (insbesondere weniger Theoriekenntnisse) in Sozialarbeit/Sozialpädagogik sowie hinsichtlich aktueller rechtlicher Bestimmungen. Hier wollen und müssen sich freiwillig Engagierte darauf verlassen, dass diese Kompetenzen bei den zuständigen Hauptberuflichen beziehungsweise in der Einrichtung vorhanden sind und dass von deren Seite diese Verantwortung getragen wird.
Allerdings haben freiwillig Engagierte nicht notwendig weniger Erfahrungswissen als hauptamtlich Angestellte. Insbesondere langjährig Ehrenamtliche verfügen über ein breites Praxiswissen, das jenes der Hauptberuflichen, die erst seit kurzer Zeit im jeweiligen Hilfefeld tätig sind, übersteigt. Zudem ist ein Teil der freiwillig Engagierten aktuell oder früher in anderen Berufen, Branchen und Verantwortungen beschäftigt (gewesen) und verfügt daher über Wissen und Erfahrungen, die jene der Angestellten übersteigen und wertvolle Ressourcen für die Organisation und für Problemlösungen darstellen. Dieses Wissen und diese Erfahrungen können Wohlfahrtsverbände in der Regel nicht selbst in jener Fülle und Tiefe erzeugen und müssen - wenn man diesen Mehrwert schätzt und er für die Leistung erforderlich ist (zum Beispiel Straßenambulanz, Schuldnerberatung) - über das Engagement von Ehrenamtlichen aktiv hereingeholt werden.
Problematisch für das Zusammenwirken ist es in Fällen, die mancherorts Routine geworden sind,
- wenn es wenig Vertrauen von Hauptamtlichen in die Ehrenamtlichen gibt, sie ihnen Kompetenzen für technische oder praktische Entscheidungen nicht zugestehen, Ehrenamtliche administrativ gegängelt werden oder es zu Machtdemonstrationen hinsichtlich der Hierarchie kommt;
- wenn Hauptamtliche ihre eigene originäre Arbeit an Ehrenamtliche delegieren, "um ihren Schreibtisch freizuräumen";
- wenn Ehrenamtliche sich gezwungen sehen, ihre eigene Nachfolge zu organisieren.
Es braucht den bewussten Umgang mit den Unterschieden
Asymmetrien bestehen keineswegs nur im Gefälle von Hauptamtlichen gegenüber Ehrenamtlichen, sondern auch umgekehrt. So stehen Ehrenamtliche in keinem arbeitsvertraglichen Dienstverhältnis, bekommen kein Entgelt, ihr Engagement ist nicht erforderlich für ihre finanzielle Existenzsicherung. In dieser Hinsicht haben freiwillig Engagierte ein erhebliches Maß an Unabhängigkeit. Hingegen sind hauptamtlich Verantwortliche abhängig vom Engagement zahlreicher Nichtangestellter, ohne deren Mittun die Arbeit für Hilfesuchende nicht möglich wäre.
Das wichtigste "Bindemittel" der freiwillig Engagierten an die soziale Organisation ist ihre unentgeltliche Hilfe für die Menschen in Not und Bedrängnis. Es ist im Kern eine moralische Motivation für Menschen, ergänzt um das Motiv, der Gesellschaft etwas zurückzugeben.
In Zeiten des wachsenden Fachkräftemangels sind freiwillig Engagierte kostbare Ressourcen, nicht nur als Arbeitskräfte, sondern aufgrund ihrer Erfahrung (intern und extern) sowie aufgrund ihrer neuen Ideen und der anderen Perspektiven, die sie einbringen. Gerade wenn sie von außen kommen und nicht in der Wohlfahrtsorganisation berufssozialisiert sind, bringen sie Impulse und Kompetenzen hinein, die die Organisation selbst in diesem Maß kaum hervorbringen kann: Hier sind die zeitlichen und organisatorischen Räume der hauptamtlich Angestellten zu knapp. Die aus den unterschiedlichen Positionen von Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen eingebrachten Beiträge sind maßgeblich für die Emergenz eines Systems synergetischen Miteinanders (Herausbildung qualitativ neuer Eigenschaften und Kapazitäten infolge des Zusammenspiels seiner Elemente). Die Leistungsfähigkeit und Reichweite des Wohlfahrtsverbands lassen sich nicht auf das Engagement Einzelner zurückführen, sondern erst durch das Zusammenwirken vielfältiger Kompetenzen und Ressourcen mit einem hinreichenden Maß an Freiheitsgraden und Entscheidungshoheiten vor Ort wird jenes höhere Qualitätsniveau erreicht. Dabei sollte der Verband gerade nicht nur als effizienter Produktionsbetrieb von Leistungen verstanden werden oder sich selbst verstehen; vielmehr ist er auch ein Ort gemeinsamen fürsorgenden Wirkens für andere und stiftet selbst Gemeinschaft. Dafür ist Toleranz vonseiten der jeweils anderen Engagementformen (zum Beispiel youngcaritas versus Gemeindecaritas) erforderlich, aber nicht immer selbstverständlich; sind Empathie und Respekt gegenüber Klient:innen und Kolleg:innen unverzichtbar, aber nicht "angeboren", sondern immer wieder neu zu erringen.
Jene fruchtbaren Asymmetrien von freiwillig und beruflich Engagierten haben in den verschiedenen Arbeitsfeldern und einzelnen Einrichtungen eine je eigene Gestalt, bieten aber grundsätzlich einzigartige Ressourcen für jenes Zusammenwirken, das die Wohlfahrtsleistung ermöglicht und auszeichnet - organisatorisch, ökonomisch, kulturell.
Asymmetrien bergen aber auch Risiken, etwa von Machtmissbrauch, dem Schaffen einseitiger (persönlicher oder institutioneller) Abhängigkeitsverhältnisse, symbolischer und praktischer Ausgrenzung einer Person oder Gruppe oder deren Reduzierung auf ein funktionales Instrument für den Betriebsablauf. Diesen Risiken vorzubeugen, präventive Maßnahmen für eine tragfähige Einrichtungskultur einzurichten und im Bedarfsfall zu intervenieren, ist nicht nur eine Leitungsaufgabe, sondern die Verantwortung aller Mitarbeitenden.
Die sich durch die Asymmetrien bietenden Möglichkeiten synergetischen Zusammenwirkens sind kein Automatismus. Sie gelingen dort, wo das Potenzial von Freiwilligen/Ehrenamtlichen erkannt und genutzt wird. Das ist ein Balanceakt, der maßgeblich von Hauptamtlichen zu leisten ist beziehungsweise für den sie die formale Verantwortung haben (darin liegt eine weitere Asymmetrie): Einerseits gilt es, Impulse von Freiwilligen beziehungsweise Ehrenamtlichen nicht zu ersticken, sondern zu fördern; andererseits, sie nicht ungefiltert und ungerichtet aufzunehmen, sondern in die Prozesse zu integrieren.
Es wäre falsch, gefährlich und herabsetzend, würde man freiwillig Engagierte als "wertvolle Hilfskräfte" oder Ersatztruppe der hauptamtlichen Fachkräfte begreifen. Eine hierarchische Perspektive gehört der Vergangenheit an - sie ist nicht zukunftsfähig. Aus Sicht der Hauptamtlichen funktioniert das synergetische Zusammenwirken mit freiwillig Engagierten, wenn sich beide Seiten auf gleicher Augenhöhe begegnen, wechselseitig die je anderen Kompetenzen anerkennen und wertschätzen.
Wer ehrenamtlich Zuwendung einbringt, braucht sie auch selbst
Die Arbeit von freiwillig Engagierten bedarf der Organisation und persönlichen Zuwendung (das verlangt Zeit) durch die hauptberuflichen Fachkräfte. Deren Zeitkontingente sind vielerorts zu knapp - wegen Teilzeitstellen oder einer Überladung mit fachlichen und administrativen Aufgaben, von denen die Betreuung der Ehrenamtlichen/Freiwilligen nur eine von vielen ist. So zeigt sich, dass die überkommene Formel "Hauptamt braucht Ehrenamt" unbedingt (auch) der Umkehrung bedarf: Ehrenamt braucht (mehr) Hauptamt. Das erfordert Konsequenzen 1.) für die Personalausstattung der Organisation sowie 2.) für mehr finanzielle Ressourcen, über die hauptberufliche Fachkräfte für die Betreuung ihrer freiwillig Engagierten verfügen können.
Zeit ist das elementar knappe Gut. Das führt in vielen Tätigkeitsfeldern (zum Beispiel in der stationären Altenpflege, der Gemeindecaritas, der Flüchtlingshilfe) dazu, dass die ehrenamtlich Engagierten mehr Zeit mit den Klient:innen und Betroffenen verbringen als die hauptamtlichen Fachkräfte, deren zeitliche Ressourcen durch Organisation und Administration oft weitgehend absorbiert sind und die weniger flexibel und spontan auf Belange und Bedürfnisse reagieren können.
Das Zusammenwirken von freiwillig und beruflich Engagierten in der Unterstützung für Menschen in Bedrängnis hat reale Effekte für den sozialen Zusammenhalt, die über das hinausgehen, was andere wertvolle Formen bürgerschaftlichen Engagements leisten. Das caritative Zusammenarbeiten erzeugt und erneuert eine Haltung und eine Praxis für andere Menschen, die die Helfenden zunächst nicht kennen und mit denen sie keine Freundschaft suchen. So weitet das Engagement den Blick über die Zäune der eigenen Lebenswelt hinaus, führt zu Kontakt mit dem (und den) eigentlich Fremden und Unbehaglichen. Der Blick auf die Gesellschaft wird damit noch längst nicht ganzheitlich und vollständig - aber das Bewusstsein wird erhellt und geschärft für andere Existenzen und das Leben der anderen. Das erfordert und befördert Empathie und Respekt für Menschen, die nicht zur eigenen Lebenswelt gehören. Caritative Engagements hemmen Tendenzen zu sozialer Schließung und der Entfremdung der Lebenswelten. Insofern setzt soziales Engagement den zentrifugalen Strömungen der Moderne etwas entgegen. Das geschieht, weil die Gruppe der freiwillig Engagierten aus vielen sozialen Milieus stammt und in ihr keine Hierarchie besteht, sondern Wertschätzung: So entsteht reale Solidarität unter Verschiedenen. Und so wird die Utopie der moralischen Verbundenheit aller in der Gesellschaft symbolisch und normativ erzeugt.
Anmerkung
1. Die Finalisierung und eine geeignete Form der Publikation der Studie ist für Herbst/Winter 2023 geplant.
Ansprechpartnerin beim DCV ist Karin Vorhoff, E-Mail: karin.vorhoff@caritas.de
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