Ein Gesamtkonzept tut not, um Fachkräfte zu finden und zu halten
Die Frühe Bildung ist ein Arbeitsfeld der Superlative: 2021 betreuten 699.962 pädagogisch Tätige 3,78 Millionen Kinder in 58.500 Einrichtungen.1 Die Frühe Bildung ist damit das mit Abstand größte Arbeitsfeld in der Kinder- und Jugendhilfe und einer der größten Teilarbeitsmärkte überhaupt.
Seit Beginn des U3-Ausbaus (Betreuung für unter Dreijährige in Kindertagesstätten) Mitte der 2000er-Jahre hat sich das pädagogisch tätige Personal fast verdoppelt. Häufig wurde die Befürchtung geäußert, dieser Personalaufwuchs ginge mit einer Dequalifizierung der Mitarbeiter:innenschaft einher. Doch bislang erweist sich das Personalgefüge als erstaunlich robust: Nach wie vor haben fast 70 Prozent der pädagogisch Tätigen eine Ausbildung auf Fachschulniveau absolviert, in der Regel als staatlich anerkannte:r Erzieher:in. Dies ist unter anderem dadurch gelungen, dass die Fachschulen für Sozialpädagogik ebenfalls erheblich ausgebaut worden sind, wenngleich sie mittlerweile an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen.2 So hat sich die Zahl der Fachschüler:innen im ersten Ausbildungsjahr seit dem Schuljahr 2007/2008 nahezu verdoppelt: Gut 40.000 Menschen haben 2022 eine solche Ausbildung begonnen. Im Unterschied dazu ist bei den anderen einschlägigen Ausbildungen und Studiengängen wenig passiert: Sowohl die berufsfachschulischen Ausbildungen etwa in der Kinderpflege oder in der Sozialassistenz als auch die kindheitspädagogischen Studiengänge stagnieren schon seit einigen Jahren.3 Die Kehrseite der Medaille: Mit der Konzentration auf die Fachschulen als "Zulieferer" für die Frühe Bildung wurde eine gewisse Monokultur befördert.
Mehr Absolvent:innen dank reformierter Ausbildung
Der Aufwuchs in der fachschulischen Ausbildung zum:zur Erzieher:in wurde von umfassenden Ausbildungsreformen flankiert, die sich mit den Schlagwörtern Diversifizierung, Pluralisierung und Dualisierung charakterisieren lassen.⁴ Mit diesen Reformen wurden zwei Zielsetzungen verfolgt: zum einen, die Zielgruppenansprache auszuweiten und mehr Menschen für die Ausbildung zu gewinnen (zum Beispiel durch deren Vergütung). Und zum anderen, die Zugangswege in die Ausbildung abzukürzen sowie frisch ausgebildete Erzieher:innen früher als bislang in die Praxis zu führen (idealerweise bereits während der Ausbildung); mit anderen Worten: Es ging darum, Zeit zu sparen.
Die fachschulische Ausbildung zum:zur Erzieher:in zählt zu den beruflichen Weiterbildungen, die nach KMK-Rahmenvereinbarung⁵ geregelt sind. Weiterbildungen dieser Art - in anderen Berufen sind das zum Beispiel Meister:in und Techniker:in - setzen eine schulische und eine berufliche Vorbildung voraus, in der Regel einen mittleren Schulabschluss sowie eine fachlich einschlägige berufliche Erstausbildung. Wirft man zunächst einen Blick auf die Diversifizierung, dann zeigt sich, dass der Anspruch, Personen nur mit einschlägiger Erstausbildung für die Fachschulausbildung zuzulassen, mittlerweile auch formal aufgegeben worden ist. Damit ist heute der Zugang zur Fachschule auch über eine fachlich nicht einschlägige Erstausbildung, über berufspraktische Erfahrungen oder eine Kombination aus beidem möglich. Auch bestimmte Schulabschlüsse führen direkt in die Ausbildung. De facto vollzieht sich eine Dequalifizierung also unter dem Deckmantel formaler Abschlüsse.⁶
Zugleich hat eine enorme Pluralisierung der Ausbildung stattgefunden. Heute finden sich sowohl vollzeit- als auch teilzeitschulische⁷ Varianten sowie unterschiedliche praxisintegrierte Ausbildungen mit und ohne Vergütung. Bis zu vier Varianten im selben Bundesland sind keine Seltenheit.⁸ Zu den dualisierten Formaten zählen die Praxisintegrierte Ausbildung (PiA)⁹ sowie die berufsbegleitenden Ausbildungen, die es mittlerweile in allen Bundesländern gibt.
Nur jede zweite Ausbildung in Vollzeit
Eine Befragung von Fachschulleiter:innen zeigt, dass nur noch jede zweite Ausbildung (51 Prozent) eine klassische Vollzeitausbildung ist; rund 22 Prozent sind praxisintegrierte, vergütete und 19 Prozent berufsbegleitende Ausbildungen.10 Mit der Pluralisierung und Dualisierung der Ausbildungsformate ist es gelungen, neue Zielgruppen anzusprechen. Etwas plakativ formuliert: Heute gibt es für nahezu jede Lebenssituation die passende Ausbildungsform. Die bisherige Strategie der Fachkräftesicherung konzentrierte sich also vor allem auf den Ausbau der Fachschulen, wobei diese Expansion über umfassende Ausbildungsreformen, die vermutlich nicht immer qualitätsfördernd wirken, erkauft wurde. Investitionen in Ausbildung können aber immer auch "Fehlinvestitionen" sein: wenn frisch ausgebildete Fachkräfte nicht in den Beruf einmünden, weil sie ein Studium oder eine weitere Ausbildung aufnehmen, oder wenn sie aufgrund enttäuschter Erwartungen schnell wieder aus dem Beruf aussteigen.
Trotz der Anstrengungen im Ausbildungssystem ist spürbar, dass die aktuellen kurz- und mittelfristigen Personalbedarfe hierüber nicht gedeckt werden können, denn weitere Investitionen in die Ausbildung kommen - zumindest für die Frühe Bildung - zu spät. Daher ist das Augenmerk auch auf die Frage zu richten, wie das Personal, das sich schon im Arbeitsfeld befindet, gehalten werden kann.
Motivationstheoretische Ansätze gehen davon aus, dass zur Personalbindung vier Bedürfnisse berücksichtigt werden müssen: nach Sicherheit, nach Zugehörigkeit, nach Wertschätzung und nach Selbstverwirklichung. Diese Bedürfnisse stehen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander, das heißt, die Befriedigung der unteren Ebenen (Sicherheit, Zugehörigkeit) erhöht nicht die Zufriedenheit an sich, sondern bewirkt lediglich einen Zustand des "Nichtunzufriedenseins".11 Das heißt zugleich, dass lediglich die Bereiche Wertschätzung und Selbstverwirklichung einen positiven Einfluss auf das Commitment12 und damit die Mitarbeiter:innenbindung haben. Über Verbleib und Abwanderung entscheiden demnach nicht ausschließlich die Zufriedenheit mit den Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen (etwa dem Gehalt), sondern auch die Möglichkeiten, auf der jeweiligen Stelle die eigenen beruflichen Aspirationen realisieren zu können.
In einer Studie zu Berufswegen in der Kita13 zeigte sich, dass die Selbstverwirklichung - das heißt berufliche Weiterentwicklungsmöglichkeiten - eine außerordentlich große Rolle für Verbleib oder Ausstieg spielt. Damit kommt die Personalentwicklung der Träger ins Spiel, und diese ist - zumindest bislang - noch eine der Achillesfersen der Frühen Bildung. So ist es zwar mittlerweile üblich, dass Einrichtungsträger Fortbildungsaktivitäten ihrer Fachkräfte unterstützen, etwa durch Freistellung und Kostenübernahme. Die Fortbildungsaktivitäten scheinen jedoch noch etwas beliebig, sie sind wenig mit Teamentwicklung - als Voraussetzung für eine Ausdifferenzierung von Aufgaben und Tätigkeiten und damit von Karrierewegen - verzahnt und noch zu wenig in systematische Personalentwicklungsmaßnahmen eingebunden. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass zwar in rund 61 Prozent der Einrichtungen Personalgespräche stattfinden, die Kompetenzentwicklung im Team oder die Übernahme neuer Aufgaben jedoch nur in rund 40 Prozent der Einrichtungen Gegenstand dieser Gespräche ist.14
Fachkräftesicherung muss auf allen Ebenen ansetzen
Bei der Personalgewinnung und -bindung steckt die Frühe Bildung derzeit in einem Dilemma: Der Fachkräftemangel, vielerorts schon als Krise bezeichnet, führt dazu, dass die Belastung der verbleibenden Fachkräfte steigt und dies wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Fluktuation weiter zunimmt. In dieser Hinsicht ist die Vergrößerung der Gruppen, mittlerweile vielfach praktiziert, wohl eher kontraproduktiv.
Was bislang fehlt, ist ein integriertes Gesamtkonzept: Es muss an möglichst vielen Stellschrauben, und zwar auf den verschiedenen Systemebenen, gedreht werden: Dazu gehören neben weiteren Investitionen in Ausbildung auch die Bindung des bereits vorhandenen Personals etwa durch die Eröffnung vertikaler und horizontaler Karrierewege. Ohne Quereinsteiger:innen wird es vermutlich dennoch nicht gehen. Der Einsatz nicht einschlägig qualifizierter Personen muss aber konzeptionell unterfüttert sein, sonst ist er beliebig. Zugleich ist er durch eine Differenzierung von Aufgaben und Zuständigkeiten zu flankieren: Nicht alle müssen alles machen. Zu prüfen ist auch, wie Quereinsteiger:innen angemessen qualifiziert werden können, damit es nicht - quasi durch die Hintertür - zur Entwertung der Qualifikation der pädagogischen Fachkräfte kommt; dies wäre dem Bindungsfaktor "Wertschätzung" sicherlich nicht zuträglich.
Anmerkungen
1. Autorengruppe Fachkräftebarometer (FKB): Personal und Arbeitsmarkt in Zeiten von Corona. Analysen zum Fachkräftebarometer Frühe Bildung. München: Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte, 2022.
2. Mende, S.; Fuchs-Rechlin, K.: "Dauerbaustelle" Erzieher:innenausbildung. Strukturen, Ausbildungsformate und Entwicklungen an Fachschulen für Sozialpädagogik. München: Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte, WiFF-Studien, Band 35, 2022, S. 50.
3. FKB: Fachkräftebarometer Frühe Bildung 2021. München: Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte, 2021.
4. Mende, S.; Fuchs-Rechlin, K.: "Dauerbaustelle" Erzieher:innenausbildung. A.a.O., S. 24.
5. KMK - Sekretariat der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der BRD: Rahmenverein-
barung über Fachschulen. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 7. November 2002 i. d. F. vom 17. Juni 2021. Berlin, 2021.
6. Fuchs-Rechlin, K.; Rauschenbach, T.: Erzieher*innen - ein Qualifikationsprofil in der Zwickmühle. Seitenwege, Irrwege, Auswege. In: Bildung und Erziehung, 74(2)/2021, S. 200-218.
7. Vgl. Mertens, H.: Wenn es klappt, ist es ein Gewinn für alle. In: neue caritas Heft 18/2022, S. 24.
8. FKB: Fachkräftebarometer Frühe Bildung 2021. A.a.O., S. 117.
9. Vgl. etwa Teicher, C.; Voß, S.: Fachkräfte in der Jugendhilfe dringend gesucht. In: neue caritas Heft 19/2022,
S. 9 ff.
10. Mende, S.; Fuchs-Rechlin, K.: "Dauerbaustelle" Erzieher:innenausbildung. A.a.O., S. 29.
11. Knoblauch, R.: Motivation und Honorierung der Mitarbeiter als Personalbindungsinstrument. In: Bröckermann, R.; Pepels, W. (Hrsg.): Personalbindung. Wettbewerbsvorteile durch strategisches Human Ressource Management. Berlin, 2004, S. 101-130, hier S. 108.
12. Vgl. Ramaj, A.: Commitment sichert Qualität. In: neue caritas Heft 17/2022, S. 24 ff.
13. Nachtigall, C.; Stadler, K.; Fuchs-Rechlin, K.: Berufliche Wege in Kitas: Einstiege - Ausstiege - Aufstiege. Eine qualitative Interviewstudie. WiFF-Studien, Band 33. München, 2021, S. 29.
14. Geiger, K.: Personalgewinnung. Personalentwicklung. Personalbindung. Eine bundesweite Befragung von Kindertageseinrichtungen. Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte, WiFF-Studien, Band 32. München, 2019, S. 79.
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