Bürgergeld verfolgt integrativen Ansatz
Knapp 3,9 Millionen Menschen bezogen im Februar 2023 Bürgergeld. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen im SGB II, also der Menschen, die länger als zwölf Monate arbeitslos waren, belief sich im Februar 2023 auf 784.000. Mit 45,8 Prozent ist dies die größte Gruppe, gemessen an allen Arbeitslosen in Deutschland.1 Diese hohe Zahl an Menschen, die oft über Jahre hinweg keinen Job finden, steht scheinbar im Widerspruch zu dem in den Medien und vielen Personalabteilungen allgegenwärtigen Arbeits- und Fachkräftemangel. Es gibt mehrere Gründe für diesen "mismatch". Zum einen sind die Qualifikationsanforderungen der heutigen Arbeitswelt sehr hoch, zum andern haben viele Arbeitgeber starke Vorbehalte gegenüber Langzeitarbeitslosen und stellen sie selbst für Helfertätigkeiten nicht ein. Hinzu kommt, dass Erwerbslose eher Gefahr laufen, bei Entwicklungen wie der Digitalisierung am Arbeitsmarkt abgehängt zu werden, als Erwerbstätige. Denn diese können sich häufig auch am Arbeitsplatz (weiter-)qualifizieren. Grundsätzlich haben Menschen ohne Berufsabschluss und Geringqualifizierte ein sehr hohes Risiko, langzeitarbeitslos zu sein.
Die Coronakrise hat diese Gefahr verschärft und zu einer deutlichen Verfestigung der Arbeitslosigkeit geführt.2 Viele Branchen waren lahmgelegt, und die Arbeitgeber waren in erster Linie bemüht, ihr Personal zu halten, statt neue Arbeitnehmer:innen einzustellen. Wegen der Kontaktbeschränkungen waren die üblichen Bewerbungs- und Vermittlungswege abgeschnitten.
Hier setzt die Bundesregierung mit dem neuen Bürgergeld an. Die Reform verfolgt einen integrativen Ansatz, ihr Ziel ist es, "mehr Chancengerechtigkeit und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen"3. Dazu werden einerseits die gesetzlichen Rahmenbedingungen so ausgestaltet, dass sich Menschen im Leistungsbezug stärker auf Qualifizierung, Weiterbildung und die Arbeitssuche konzentrieren können. Zum anderen wird die Beratung durch das Jobcenter grundlegend neu ausgerichtet. Wichtige Förderinstrumente für Langzeitarbeitslose - Arbeitsgelegenheiten, Teilhabe am Arbeitsmarkt und Eingliederung von Langzeitarbeitslosen - bleiben bis auf Weiteres unverändert.
Nachhaltige Vermittlung im Fokus
Seit 1. Januar 2023 ist der sogenannte Vermittlungsvorrang abgeschafft. Es geht nicht mehr darum, Leistungsbeziehende schnell in irgendeinen Job zu vermitteln. Vielmehr liegt der Fokus künftig auf einer dauerhaften und auch besser bezahlten Arbeit. Aus- und Weiterbildung sind deshalb wichtiger als ein Jobangebot. Die Leistungsbeziehenden erhöhen so ihre Beschäftigungsfähigkeit und damit ihre Chancen auf eine nachhaltige Integration in Arbeit.
Kooperationsplan: neue Wege der Zusammenarbeit
Die bisherige Eingliederungsvereinbarung im SGB II wird abgelöst durch den Kooperationsplan. Leistungsberechtige und Integrationsfachkräfte erarbeiten gemeinsam eine individuelle Eingliederungsstrategie. Der Unterschied macht sich vor allem in einem deutlich reduzierten Umfang und einer besser verständlichen Sprache bemerkbar. Der Kooperationsplan enthält keine Rechtsfolgenbelehrung, das heißt, ein Verstoß gegen die Vereinbarungen zieht keine Leistungsminderung nach sich. Das Ziel ist eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Damit das wirklich gelingt und das Beratungsgespräch stärker auf die nächsten Schritte im Integrationsprozess gerichtet wird, ist es wichtig, dass die Leistungsberechtigten stets transparent in den Erwägungsprozess einbezogen werden und ihre Wünsche Berücksichtigung finden. Die Mitarbeitenden der Jobcenter werden entsprechend geschult. Nachdem die Arbeit im Jobcenter jahrelang von einem andern Geist geprägt war, sind die Erwartungen der Praktiker nicht allzu hoch. Für eine aussagekräftige Bewertung ist es noch zu früh.
Neue Fördermöglichkeiten für Aus- und Weiterbildung
Grundsicherungsbeziehende sind in Weiterbildungsmaßnahmen deutlich unterrepräsentiert. Hintergrund ist die Tatsache, dass Menschen im SGB-II-Bezug für die Dauer einer Weiterbildungsmaßnahme auf ihren Hinzuverdienst verzichten müssen und sich damit finanziell schlechter stellen. Das bestätigen einschlägige Erkenntnisse aus Praxis und Wissenschaft.4 Gleichzeitig haben Langzeitarbeitslose überdurchschnittlich oft keinen Berufsabschluss.5 Das Bürgergeld setzt finanzielle Anreize und schafft so die notwendige Sicherheit, die es braucht, um eine Weiterbildung mit Abschluss in Angriff zu nehmen. Auch Umschulungen werden besser zugänglich gemacht für Menschen, die wenig bildungsaffin sind. Der Bürgergeldbonus, ein monatlicher Zuschuss von 75 Euro, soll die Teilnahme an ausgewählten Maßnahmen finanziell attraktiv machen, die für die nachhaltige Eingliederung in den Arbeitsmarkt besonders notwendig sind. Ab 1. Juli 2023 können auch die Jobcenter den Erwerb von Grundkompetenzen (zum Beispiel Lese-, Mathe-, IT-Fertigkeiten) fördern. Diese Ansätze zielen auf eine nachhaltige Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit von (Langzeit-)Arbeitslosen und erhöhen so auch deren Chancen auf Teilhabe am Erwerbsleben.
2019 wurde mit der "Teilhabe am Arbeitsmarkt" nach § 16 i SGB II ein Instrument für langzeitarbeitslose Menschen geschaffen, für die es vorher oft keine passenden Förderungen zur Integration in Erwerbsarbeit gab. Ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis wird mit Lohnkostenzuschüssen gefördert und die Arbeitnehmer:innen haben Anspruch auf ein begleitendes Coaching und Weiterbildungen. Das Instrument schließt eine Lücke und schafft ein Angebot, mit dem die Zielgruppe gut erreicht und adäquat unterstützt werden kann. In dieser Bewertung stimmen Leistungsberechtigte, Arbeitgeber, Jobcenter sowie Politik und Wissenschaft überein.6 Die dauerhafte Verankerung im SGB II im Zuge der Einführung des Bürgergelds ist deshalb nur konsequent. Ein sozialer Arbeitsmarkt ist auch zukünftig notwendig, um soziale Teilhabe durch sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu verwirklichen. Das ist ein wichtiges und richtiges Signal für Menschen, die jahrelang vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind.
Kontinuierliche Begleitung durch Coaches
Eine inhaltliche Weiterentwicklung des Instruments steht laut Koalitionsvertrag noch aus. Handlungsbedarf besteht an verschiedenen Stellen, zum Beispiel bei der ganzheitlichen beschäftigungsbegleitenden Betreuung, dem sogenannten Coaching. Der Bedarf ist groß, die praktische Umsetzung aber leider oft nur mangelhaft. Die Kontinuität der Begleitung muss gewährleistet sein, damit ein stabiles Vertrauensverhältnis aufgebaut werden kann. Es muss eine Verständigung darüber erfolgen, was das Coaching leisten soll und über welche Qualifikation ein Coach verfügen muss.
Bestimmte Personengruppen sind von der Förderung derzeit noch ausgeschlossen, obwohl sie sich in einer ähnlich ausweglosen Situation hinsichtlich ihrer Arbeitsmarktchancen befinden wie die Zielgruppe. Es geht um Menschen, die längere Zeit Leistungen nach dem SGB XII oder dem Asylbewerberleistungsgesetz bezogen haben oder inhaftiert waren. Auch bei der Auswahl und Vorbereitung der Teilnehmenden sollte nachgebessert werden, um Abbrüche wegen fehlender Passung zu vermeiden.7
Der Blick in die Haushaltskasse
Die geschilderten Neuerungen sind prinzipiell gut geeignet, die Chancen auf eine nachhaltige Integration in Arbeit auch für Langzeitarbeitslose zu verbessern. Betrachtet man die Reform jedoch durch die "Haushaltsbrille", kühlt die Euphorie schnell ab. Weiterbildungen, Prämien und bessere Beratung kosten Geld. Steigende Kosten entstehen den Jobcentern auch noch durch die wachsende Zahl an Leistungsberechtigten, seien es ukrainische Kriegsflüchtlinge oder Menschen, die angesichts der Preissteigerungen durch Inflation und Energiekrise ihren Lebensunterhalt nicht mehr aus eigener Kraft sicherstellen können. Doch die Mittel zur Förderung von Arbeit und Qualifizierung von Langzeitarbeitslosen (Eingliederungstitel) wurden im aktuellen Haushalt um 609 Millionen gekürzt. Auch der Verwaltungstitel der Jobcenter ist nicht bedarfsdeckend ausgestattet, was sich in der nahezu routinehaften Umschichtung von Eingliederungsmitteln in den Verwaltungshaushalt der Jobcenter manifestiert. Es ist sehr ernüchternd, wenn sogar die Bundesagentur für Arbeit bekennt, dass voraussichtlich ein Großteil der neuen Förderungen "nicht erfolgversprechend angeboten und umgesetzt werden" kann.8 Viele Beschäftigungs- und Qualifizierungsträger der BAG IDA bestätigen das. Immer seltener werden Menschen über die "Teilhabe am Arbeitsmarkt" (§ 16 i SGB II) gefördert. Auch Arbeitsgelegenheiten werden in einigen Gegenden stark zurückgefahren. Damit fehlen wichtige Fördermöglichkeiten für arbeitsmarktferne Menschen.
Wo liegen die Risiken?
Erwerbsarbeit bedeutet nicht nur ein gesichertes Einkommen und wirtschaftliche Eigenständigkeit, sondern auch die Möglichkeit zur aktiven Teilhabe an der Gesellschaft. Dazu leistet das Bürgergeld einen entscheidenden Beitrag. Der neue Fokus der Beratung und die bessere Förderung von Aus- und Weiterbildung von Arbeitslosen sind richtig und wichtig. Ohne eine entsprechende finanzielle Hinterlegung werden die Verbesserungen aber nicht bei den Menschen ankommen. Der Vergleich mit einem limitierten Sonderangebot drängt sich auf: heiß begehrt, aber wegen begrenzter Stückzahl sofort vergriffen. Das kann zu Frust führen bei denen, die leer ausgehen. Es besteht das Risiko, dass gerade besonders arbeitsmarktferne Menschen nicht die benötigte Förderung bekommen, weil diese teuer ist und langfristig Mittel bindet.
Anmerkungen
1. Bundesagentur für Arbeit: Monatsbericht zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt, Februar 2023, https://bit.ly/40V7NSx
2. Bundesagentur für Arbeit: Blickpunkt Arbeitsmarkt, Arbeitsmarktsituation von langzeitarbeitslosen Menschen, März 2022: https://bit.ly/3MbSUaw
3. Entwurf eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze - Einführung eines Bürgergeldes, Gesetzentwurf der Bundesregierung, S. 1.
4. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: Weiterbildung bei Arbeitslosen: Finanzielle Aspekte sind nicht zu unterschätzen. In: IAB-Kurzbericht Nr. 14/2014, https://bit.ly/42Zp4fjc
5. Bundesagentur für Arbeit: Blickpunkt Arbeitsmarkt, Arbeitsmarktsituation von langzeitarbeitslosen Menschen, März 2022: a. a. O.
6. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: Evaluation des Teilhabechancengesetzes: Erste Antworten, aber noch viele offene Fragen - IAB-Forum, https://bit.ly/42Y6cgL
7. BAGFW: Positionierung der BAGFW zum IAB-Evaluationsbericht, Mai 2021, https://bit.ly/3U3L44A
8. Deutscher Bundestag: Stellungnahme der BA zum Bürgergeld, S. 10, Ausschussdrucksache 20(11)228, https://bit.ly/3M6KAc1
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