Arbeite in der Kinder- und Jugendhilfe – da wirst du gebraucht!
Die Kinder- und Jugendhilfe ist eine Wachstumsbranche. Im Jahr 2009 haben Bund, Länder und Gemeinden 26,9 Milliarden Euro für die Kinder- und Jugendhilfe ausgegeben - und im Jahr 2021 rund 62 Milliarden Euro! Dabei entfielen 68,7 Prozent der Bruttoausgaben auf die Kindertagesbetreuung, 22,7 Prozent auf die Hilfen zur Erziehung und 3,4 Prozent auf die Jugendarbeit.1
Auch die Zahl des eingesetzten Personals wächst. Ende 2020 wurden erstmals mehr als eine Million Beschäftigte in der Kinder- und Jugendhilfe gezählt. Ausgehend von 2006 ist die Zahl um gut 78 Prozent gestiegen. Die Kindertagesbetreuung hat den größten Anteil an dieser Entwicklung - dort ist die Personalmenge seit 2006 um 88 Prozent gewachsen.2 Ende 2022 arbeiteten 730.800 Personen in Kindertageseinrichtungen (als pädagogisches, Leitungs- und Verwaltungspersonal).3
Die Kinder- und Jugendhilfe reagiert damit vor allem auf den steigenden Bedarf berufstätiger Eltern an Betreuung. Deswegen wurde kräftig in den Ausbau der Kindertagesbetreuung für unter Dreijährige und die Ausweitung der ganztägigen Angebote investiert. Ferner gab es Verbesserungen beim Personalschlüssel sowie eine Vergrößerung der Zielgruppen durch höhere Geburtenzahlen und Zuwanderung. Gleichzeitig geht die Generation der Babyboomer in den Ruhestand und wandert Personal in andere Arbeitsfelder ab. Das betrifft fast alle Leistungen und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, die junge Menschen in ihrer Entwicklung fördern, Benachteiligungen abbauen und Familien unterstützen. Besonders trifft es aber die Kindertagesbetreuung. Der Erzieherberuf ist ein dezidierter "Engpassberuf".5
Fachkräftebedarf war absehbar
Diese Entwicklungen kamen nicht plötzlich. Die Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) prognostizierte bereits 2018, dass die Verrentung der geburtenstarken Jahrgänge sich auf Arbeitsfelder wie die Allgemeinen Sozialen Dienste, die Kinder- und Jugendarbeit oder die Hilfen zur Erziehung auswirken würde.6 Und was die Kindertagesbetreuung betrifft, so war klar, dass der Platzausbau und notwendige Qualitätssteigerungen - etwa die Maßnahmen aus dem Gute-Kita-Gesetz - einen Personalmehrbedarf mit sich bringen. Es wird geschätzt, dass in der westdeutschen Kindertagesbetreuung bis 2030 bis zu 252.000 Personen zusätzlich benötigt werden.7
Hinzu kommt der ab 2026 greifende Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder - auch hier war bekannt, dass der Bedarf größer ist als das Angebot und deswegen Personal aufgebaut werden muss. Dabei verbietet es sich, Fachkräfte aus verwandten Arbeitsfeldern abzuziehen: Bei den zehn Berufen mit den größten Fachkräftelücken steht die Berufsgruppe der Sozialarbeit und Sozialpädagogik 2021/2022 an der Spitze, dicht gefolgt von den Erzieherinnen und Erziehern.8
Auffällig ist, dass bei diesen Berufsgruppen der Frauenanteil sehr hoch ist, laut Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) lag er zuletzt bei 76,6 Prozent (Sozialarbeit und Sozialpädagogik) beziehungsweise 86,7 Prozent (Kinderbetreuung und -erziehung). Auch die unterdurchschnittlichen Jahresarbeitszeiten9 lassen aufhorchen.
Absenken von Standards kann Kinderschutz gefährden
Insgesamt ist der Fachkräftemangel in der Kinder- und Jugendhilfe inzwischen so weit angewachsen, dass Pragmatismus regiert, um die bestehenden Angebote aufrechterhalten zu können. Das ist zweischneidig: Einerseits war es sinnvoll, während der Coronapandemie in den Kitas Assistenzkräfte einzusetzen und zur zusätzlichen Aufnahme geflüchteter Kinder, etwa aus der Ukraine, zeitweise vergrößerte Gruppen zuzulassen. Nun drohen solche Maßnahmen aber zum Dauerzustand zu werden. Mancherorts werden Öffnungszeiten reduziert. Pausen fallen weg. Vor allem in den Randzeiten werden die Personalschlüssel ausgeweitet. Ausflüge fallen aus, wenn eine Zweitkraft fehlt. Hauswirtschaftliches oder Bringdienste werden an Assistenzkräfte delegiert, was im besten Fall der Entlastung dient, den Abstimmungsbedarf aber erhöhen kann und pädagogisch nicht immer sinnvoll ist. Ähnliches gilt für den Einsatz von Zeitarbeitskräften als "Springer". In der stationären Unterbringung von geflüchteten Kindern und Jugendlichen werden zeitweise - statt pädagogischer Fachkräfte - Sicherheitskräfte für die Beaufsichtigung eingesetzt. Jugendämter haben Sorge, den Kinderschutz nicht mehr gewährleisten zu können.
Entlastung muss schnell kommen
Die Beispiele zeigen, dass der Fachkräftemangel sich unmittelbar auf Arbeitsbedingungen auswirkt und auch in Verbindung mit Kinderrechten und Kindeswohl zu betrachten ist. Bei Zeitdruck, fehlenden Pausen, Unterbesetzung, übervollen Gruppen sind Stress und Überforderung erwartbar - was auch zu übergriffigem Verhalten bis hin zu Gewalt Kindern gegenüber führen kann. In einem Appell aus dem Wissenschaftsbereich heißt es: "Diese Situation widerspricht elementar den Rechten und Grundbedürfnissen von Kindern: Kinder brauchen stabile Bezugspersonen, die im pädagogischen Bereich qualifiziert sind und passgenau auf die individuellen Entwicklungsbedürfnisse und -bedarfe, auf die Bildungsthemen und Interessen von Kindern eingehen können."10
Das Problem ist akut, Lösungen müssen her. Um Fachkräfte zu gewinnen, zu qualifizieren und zu binden, braucht es Kümmerer auf allen Ebenen.11 Dabei liegt vieles nicht in der Hand der Träger. Der Strukturwandel durch Digitalisierung, Demografie, Zuwanderung, Klimakrise erfordert grundsätzliche Maßnahmen auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene.
Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung 2022 eine Fachkräftestrategie erarbeitet und Anfang 2023 dem Bundestag vorgelegt. Sie soll eine "sozial-ökologische Marktwirtschaft" ermöglichen.12 Vorhaben daraus sind unter anderem eine Ausbildungsgarantie, Bildungs(teil)zeit, Qualifizierungs-Geld im Rahmen eines Weiterbildungsgesetzes sowie ein modernisiertes Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Erwerbspotenziale insbesondere von Frauen sollen besser ausgeschöpft werden mittels Gleichstellung, guter Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie längeren Lebensarbeitszeiten und flexiblen Übergängen in den Ruhestand. Das Bundesfamilienministerium arbeitet ebenfalls am Thema Fachkräfte, der Fokus liegt dabei auf dem Feld der Kindertagesbetreuung inklusive Horten und Ganztag in Grundschulen. Handlungsempfehlungen und Maßnahmen sollen laut Bundesministerin Lisa Paus im Sommer 2024 vorgelegt werden. Potenzial liegt darin, mehr männliche Mitarbeiter und Quereinsteiger zu gewinnen und solche mit Zuwanderungsgeschichte/Migrationshintergrund. Ebenso könnte der konzeptionell abgesicherte Einsatz von Fachkräften aus anderen Branchen das Personaltableau erweitern.13 In jedem Fall braucht das "Bestandspersonal" Entlastung. Damit die Freude an der Arbeit bleibt.
Anmerkungen
1. Statistisches Bundesamt, https://bit.ly/40MKQB1
2. KomDat 2/2022, S. 1.
3. Statistisches Bundesamt, https://bit.ly/3zkgnOX
4. 11.753 Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe laut Caritas-Zentralstatistik Stand 31.12.2020, vgl. neue caritas 19/2022, S. 30 f.
5. Blickpunkt Arbeitsmarkt. Pädagogisches Personal in der Kinderbetreuung und -erziehung. April 2022, S. 18.
6. Vgl. Dem wachsenden Fachkräftebedarf richtig begegnen! Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ. Berlin 2018.
7. Fachkräftebarometer Frühe Bildung 2021. München 2021, S. 166.
8. Hickmann, H.; Koneberg, F.: Die Berufe mit den aktuell größten Fachkräftelücken. In: IW-Kurzbericht 67/2022, S. 1.
9. Fachkräftemonitoring für das BMAS. August 2022, S. 57.
10. Fröhlich-Gildhoff, K. et al.: Appell der Wissenschaft. Das Kita-System steht vor dem Kollaps - Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fordern die Politik zum schnellen Handeln auf. 2022. https://bit.ly/3G8Bwzr
11. Vgl. beispielsweise LVR-Dezernat Kinder, Jugend und Familie, LVR-Landesjugendamt Rheinland: Positionspapier zum Fachkräftemangel. Köln, 31.3.2022. https://bit.ly/3nrBZ9o
12. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.): Fachkräftestrategie der Bundesregierung. Oktober 2022, S. 2.
13. Vgl. KTK-Bundesverband: Erweiterte Teamprofile in Kindertageseinrichtungen. Positionspapier 2021.
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