Wie viele Pflegende braucht das Krankenhaus?
Die Einführung der Diagnosis-Related-Groups (DRG) - vereinfacht gesagt des Vergütungssystems der Krankenhäuser basierend auf einer Pauschalfinanzierung für medizinische Diagnosen - hat die Krankenhauslandschaft in Deutschland nachhaltig verändert. Besonders drastisch waren die Auswirkungen auf die Pflege. Der jahrelange Stellenabbau wird mittlerweile auch in der Öffentlichkeit als Problem erkannt, so dass lebhafte Diskussionen um eine auskömmliche Ausstattung von Pflegepersonal im Krankenhaus angestoßen wurden. Dabei stellt sich aber die Frage, wie man den Pflegebedarf richtig bemisst.
Bedeutungsvoll für die zukünftige Pflegepersonalausstattung wird das neue Pflegebudget sein. Die bisherige DRG-Pauschalfinanzierung bedeutet, dass bei der Vergütung für eine medizinische Diagnose auch die Personalkosten mit eingeschlossen sind, beispielsweise für den ärztlichen Dienst, für Physiotherapie und eben auch für das Pflegepersonal. Ein negativer Effekt des DRG-Systems war daher, dass Pflegepersonal abgebaut wurde. Dies unter anderem deshalb, da die Anteile der Pflegepersonalkosten entweder zu gering waren oder die Pflege selbstständig wenig Erlöse erzielen konnte.
Das Pflegebudget: gute Idee mit unklaren Auswirkungen
Um dem entgegenzuwirken wird seit dem 1. Januar 2020 ein eigenes Pflegebudget ermittelt, so dass die Anteile der Kosten für die Pflege aus dieser Pauschalfinanzierung herausgenommen wurden und jetzt separat vergütet werden. Dies geschieht nach dem sogenannten "Selbstkostendeckungsprinzip": Anhand der Leistungen wird die Anzahl der Pflegekräfte nachgewiesen und dann rückwirkend bezahlt. Weiterhin wurde durch das Pflegepersonalstärkungsgesetz festgehalten, dass diese Gelder ausschließlich für Pflegepersonal eingesetzt werden dürfen und nicht für andere Inhalte wie beispielsweise technische Modernisierung (siehe zum Gesetz auch neue caritas Heft 1/2019, S. 20 f.). Ob sich aus dem neuen Pflegebudget zusätzliche Stellen in der Pflege ergeben, ist noch nicht absehbar. Das System ist sehr komplex und derzeit streiten die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und die Kostenträger darüber, was zur "Pflege am Bett" zählt und somit über das Pflegebudget finanziert werden muss.
Personalbedarf in der Pflege ermitteln: methodische Probleme
Eine zentrale Frage ist also, wie viele Pflegekräfte im Krankenhaus gebraucht werden und wie dieser Bedarf berechnet wird. Aus dieser vermeintlich einfachen Frage ergeben sich allerdings große methodische Probleme. Grundsätzlich gibt es unterschiedliche Ansätze, die aber letztlich nur ungenau bleiben. Eine Verhältniskennzahl ("Nurse-to-Patient-Ratio", also die Anzahl von Pflegekräften im Verhältnis zu Patient(inn)en) bietet bestenfalls einen quantitativen Ansatz. Es fehlt aber der qualitative Aspekt, der sich aus dem individuellen Pflegebedarf des einzelnen Patienten ergibt.
Ein besserer Ansatz könnte eine leistungs- beziehungsweise tätigkeitsbezogene Methodik sein. Man beobachtet einzelne pflegerische Tätigkeiten, zählt, wie häufig diese durchgeführt werden und erhält eine Summe von Tätigkeiten, die mit einem gemittelten Minutenwert multipliziert wird. Auch dies führt zu keinem wirklich validen Ergebnis, weil gleichartige pflegerische Tätigkeiten bei unterschiedlichen Patient(inn)en auch unterschiedlich viel Zeit in Anspruch nehmen. Die Mobilisation eines Patienten vom Bett in den Sitzwagen zum Beispiel kann zeitlich zwischen 30 Sekunden und 30 Minuten in Anspruch nehmen, je nachdem wie aufwendig sich die individuelle Pflegesituation gestaltet.
Selbst wenn der tatsächliche Pflegebedarf aller Patient(inn)en im Krankenhaus valide ermittelt werden könnte, ergäbe sich daraus nicht automatisch ein finanzielles Pflegebudget. Geklärt werden müsste beispielsweise, wer die Pflegeleistungen erbringt. Sind es (kostengünstigere) Pflegehilfskräfte, Pflegefachkräfte oder akademisierte Pflegekräfte? Welche Rolle spielen hier andere Berufsgruppen wie Medizinische Fachangestellte (MFA), Ergotherapeut(inn)en oder Physiotherapeut(inn)en, die möglicherweise bei der Mobilisation des Patienten beteiligt sind? Hier kommt es ganz entscheidend auf die krankenhausindividuelle Pflegeorganisation und einen sinnvollen "Grade- and Skill-Mix" an, also auf eine gute Mischung aus Qualifikation und Fähigkeiten. Die Krankenhäuser haben dabei durchaus sehr unterschiedliche und möglicherweise trotzdem sinnvolle Ansätze.
Ein weiteres methodisches Problem sind die unterschiedlichen Settings, in denen Pflege stattfindet. Wie wird der Pflegepersonalbedarf in den Funktionsbereichen, zum Beispiel in der Endoskopie, im OP, in der Anästhesie oder im Herzkatheterlabor ermittelt? Auch der Pflegebedarf im Nachtdienst ist völlig anders als im Frühdienst, in der Intensivpflege wiederum gänzlich anders als in der pädiatrischen Pflege.
Personaluntergrenzen: gut gemeint, aber schlecht gemacht
Bereits unter Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe wurde eine Expert(inn)enkommission ins Leben gerufen, die ein Instrument beziehungsweise einen Mechanismus erarbeiten sollte, welche eine sogenannte "Mindestausstattung" an Pflegekräften im Verhältnis zu den Patient(inn)en regelt, die oben angesprochene "Nurse-to-Patient-Ratio". Im Jahr 2019, vorangegangen waren gescheiterte Verhandlungen zwischen der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen, wurde mittels einer Verordnung des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) unter Jens Spahn die erste "Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung" (PpUGV) in Kraft gesetzt.
Diese Verordnung regelt für bestimmte medizinische Fachbereiche (derzeit Intensivstation, Geriatrie, Allgemein- und Unfallchirurgie, Innere Medizin/Kar[1]diologie, Neurologie, Kinderheilkunde) die bereits angesprochene Anzahl von Pflegekräften, die für eine bestimmte Anzahl an Patient(inn)en von einem Krankenhaus zur Verfügung gestellt werden müssen. Beispielsweise heißt eine Untergrenze von 10 : 1 im Bereich der Geriatrie, dass eine examinierte Pflegekraft nicht mehr als zehn Patient(inn)en versorgen darf. In der Intensivpflege gibt es die Vorgabe, dass eine Pflegekraft im Tagdienst maximal zwei Patient(inn)en versorgt. Untergrenzen sind eine rote Linie - an der es massiv Kritik gibt. Zu Beginn wurden diese Untergrenzen als willkürlich und realitätsfern bezeichnet. Auch ihr Ziel, die Vermeidung unerwünschter Ereignisse für Patient(inn)en, basiert auf einer schwierigen Datenbasis: Die Studie von Jonas Schreyögg und Ricarda Milstein, Lehrstuhl für Management im Gesundheitswesen an der Universität Hamburg, die als Grundlage für die PpUGV gilt, wird wegen erheblicher methodischer Fehler und Schwächen kritisiert.1 Der Deutsche Pflegerat hält die Pflegepersonalschlüssel für willkürlich gewählt, so dass sie den tatsächlichen Pflegebedarf nicht ausreichend berücksichtigen.2 Vonseiten der Pflegeverbände wird bis heute darauf hingewiesen, dass Pflege[1]personal zwischen verschiedenen Bereichen hin- und hergeschoben wird, es also in anderen Bereichen zu einer Verschlechterung der Versorgung und nicht zu einer Verbesserung der Pflegepersonalausstattung kommt. Dies wird durch Erhebungen des Deutschen Krankenhausinstituts3 sowie auch des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe4 bestätigt, da die Untergrenzen beispielsweise zu einem erhöhten Ein[1]springen in den Dienst aus dem Frei führen. Untermauert wird diese Kritik durch einen sehr hohen Bürokratieaufwand, der für die zu erwartenden Effekte kaum verhältnismäßig ist. So wird beispielsweise die Einhaltung der Untergrenzen ausschließlich auf Mittelwerten eines ganzen Monats berechnet, so dass tagesaktuelle Unterschreitungen im Mittelwert verpuffen. Der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung hält die Untergrenzen daher auch nur für eine Zwischenlösung5
Aus alt mach neu: Personalbemessungsinstrument PPR 2.0?
In der sogenannten "Konzertierten Aktion Pflege" (KAP) haben der Deutsche Pflegerat (DPR), die Gewerkschaft Verdi und die Deutsche Krankenhausgesellschaft den Auftrag bekommen, dem BMG bis zum Jahresende 2019 ein Instrument zur Pflegepersonalbedarfsermittlung vorzulegen. Dies ist angesichts der kurzen Entwicklungszeit und der oben beschriebenen methodischen Herausforderungen ein fast unmögliches Unterfangen gewesen. Man hat sich des[1]halb dazu entschlossen, die Pflegepersonalregelung (PPR) aus den Jahren 1992 bis 1996 als Basis zu nehmen und an die aktuelle pflegerische Situation anzupassen. Grundlage dieser PPR 2.0 sind acht Leistungsinhalte, die einerseits den individuellen Pflegebedarf des Patienten darstellen und andererseits Leistungen der Behandlungspflege beschreiben. Jeder Stufe ist ein Minutenwert zugeordnet. Hinzu kommen Grund-und Fallwerte als Basis. Aus der Summe ergibt sich so ein Zeitwert pro Patient(in), der den Pflegepersonalbedarf abbildet.
Die Tabelle zeigt, dass sich DKG, Verdi und DPR von der PPR 2.0 gegenüber den Personaluntergrenzen deutliche Vorteile versprechen. Ein erster, nicht repräsentativer Pretest in 44 Krankenhäusern ergab eine gute und anwenderfreundliche Machbarkeit der PPR 2.0 und eine durchschnittliche Steigerung des Pflegezeitbedarfs pro Patient(in) um circa acht Prozent gegenüber der alten PPR.6 Verdi und der Deutsche Pflegerat beziffern den Mehrbedarf durch die PPR 2.0 auf 40.000 bis 80.000 Fachkräfte. Das würde die angespannte Personalsituation in der Pflege tatsächlich spürbar entlasten. Anderseits rufen die zusätzlichen Kosten auch die Krankenkassen auf den Plan, die die Einführung der PPR 2.0 bei gleichzeitiger Streichung der Pflegepersonaluntergrenzen für nicht zielführend halten.7 Es stellt sich auch die Frage, wie dieser Mehrbedarf trotz des bestehenden Fachkräftemangels gedeckt werden kann.
Nur eine vorübergehende Lösung
Die "Macher" der PPR 2.0 räumen ein, dass die PPR 2.0 lediglich eine Interimslösung sein kann. In einem gemeinsamen Eckpunktepapier werden deshalb weitere Rahmenbedingungen für die Einführung der PPR 2.0 definiert. Hier sind Vorgaben zur Dienstplangestaltung und für ein Ausfallkonzept festgelegt. Da die PPR 2.0 für die Intensiv- und pädiatrische Pflege nicht anwendbar ist, weil sie die speziellen Versorgungsbedürfnisse dieser Patientengruppen nicht berücksichtigt, soll hier zeitnah ein entsprechendes Instrument entwickelt werden. Einig ist man sich auch, dass wegen des zusätzlichen Mehrbedarfs an Pflegekräften die PPR 2.0 nur schrittweise umgesetzt werden kann und flankierende Maßnahmen zu Gewinnung von Fachkräften notwendig sind. Im Hinblick auf die methodischen Herausforderungen erfüllt die PPR 2.0 die Anforderungen an eine pflegewissenschaftlich begründete Validität und Reliabilität auch nur unzureichend. Trotzdem handelt es sich um einen pragmatischen und praxistauglichen Ansatz. Es gibt positive Anzeichen, dass sowohl das Gesundheitsministerium als auch die Kostenträger ein neues wissenschaftlich fundiertes Personalbemessungsinstrument entwickeln lassen wollen. Bei den methodischen Herausforderungen wird dies aber wohl mehrere Jahre dauern. Bis dahin könnte die PPR 2.0 ein gutes Interimsinstrument sein und nachhaltig zu einem pflegebedarfsgerechten Pflegepersonalzuwachs führen.
Anmerkungen
1. Simon, M.: Von der Unterbesetzung in der Krankenhauspflege zur bedarfsgerechten Personalausstattung. Eine kritische Analyse der aktuellen Reformpläne für die Personalbesetzung im Pflegedienst der Krankenhäuser und Vorstellung zweier Alternativmodelle. Working Paper Forschungsförderung Hans Böckler Stiftung, Nummer 096, Düsseldorf, Oktober 2018, S. 35 ff., Kurzlink: https://bit.ly/3fH5TRp
2. Pflegepersonaluntergrenzen: Mangelhaft! Deutscher Pflegerat mit deutlicher Kritik am Verordnungsentwurf des Bundesgesundheitsministeriums. In: Heilberufe 70, 58, 2018; Kurzlink: https://bit.ly/3wUDw8d
3. Deutsches Krankenhausinstitut: Krankenhaus Barometer - Umfrage. Düsseldorf, 2020, S. 44-48; https://bit.ly/3m9QgTy
4. Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe: Ziel erreicht? Ergebnisse einer Online-Umfrage zu Effekten der Pflegepersonaluntergrenzen im Krankenhaus. Berlin, 2020; https://bit.ly/3sGHezH
5. Westerfellhaus, A.: Interview: Die Untergrenzen können nur eine Zwischenlösung sein. In: f&w führen und wirtschaften im Krankenhaus Heft 2/2020, S. 114, Bibliomed, Melsungen.
6. Gass, G.: PPR 2.0: Ablösung für die Pflegepersonaluntergrenzen. In: Das Krankenhaus Heft 2/2020, Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer, S. 115.
7. Stellungnahme des GKV-Spitzenverbandes vom 20. November 2020; https://bit.ly/3fy
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