Mehr Überschuldung wegen Corona
Die Folgen der Covid-19-Pandemie - vor allem der ersten Welle - in Bezug auf die private Ver- und Überschuldung haben das "institut für finanzdienstleistungen" (iff)1 und die GP-Forschungsgruppe2 im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung von Juli bis Dezember 2020 untersucht.3 Untersucht wurde dabei auch, inwiefern sich die pandemiebedingte Situation auf die finanzielle Lage bereits vulnerabler Gruppen auswirkte und inwieweit neue Personengruppen vom Überschuldungsrisiko betroffen sind. Die Ableitung politischer Empfehlungen war ein Ziel.
Um den unterschiedlichen Überschuldungs- und Beratungssituationen in Deutschland gerecht zu werden, wurden in zwei unterschiedlichen Fallregionen verschiedene Erhebungs- und Analysemethoden kombiniert. Eine repräsentative deutschlandweite Umfrage lieferte ergänzende Erkenntnisse zu den bundesweiten finanziellen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie.
Die Fallregionen unterschieden sich in Bezug auf die Urbanität, ihre Überschuldungsraten und die Dichte von Schuldnerberatungseinrichtungen. Dem Stadt-Land-Gefälle in den Unterstützungsstrukturen ließ sich somit Rechnung tragen.
Stellvertretend für urbane Regionen mit hoher Vor-Corona-Überschuldungsquote wurden die Kreisstädte des Regierungsbezirks Düsseldorf ausgewählt. Im Kontrast dazu standen die bayrischen Bezirke Oberfranken, Oberpfalz (ohne Landkreis Regensburg) und Niederbayern, die zwar auch hohe Infektionszahlen, aber eine niedrige Vor-Corona-Überschuldungsquote aufwiesen. In beiden Untersuchungsgebieten wurden jeweils rund 500 Personen, die durch die Covid-19-Pandemie finanzielle Einschränkungen hatten, online befragt.
Darüber hinaus gab es Expert(inn)en-Interviews mit Schuldnerberater(inne)n und Referent(inn)en aus der Fachberatung, um herauszuarbeiten, wie sich die Arbeit der Schuldnerberatung zum Zeitpunkt der beginnenden Covid-19-Pandemie und im weiteren Verlauf dargestellt hat. Die Fragen bezogen sich sowohl auf die Auswirkungen auf die Beratungsstelle allgemein als auch auf den persönlichen Arbeitsablauf sowie auf die Situation der Ratsuchenden. Interessant waren dabei insbesondere berichtete Maßnahmen, Lösungsansätze und Perspektiven.
Die Beratungen reagierten kreativ - im Rahmen des Möglichen
Durch die Covid-19-Pandemie kam es in vielen gesellschaftlichen Bereichen zu gravierenden Einschnitten. Die gesamte Bevölkerung war betroffen, direkt finanziell oder indirekt durch Beschränkungen beim Zugang zu Einrichtungen. Die Studie hat gezeigt, dass die Pandemie das Problem der privaten Überschuldung für relevante Teile der Bevölkerung deutlich verschärft hat und dass mit langfristigen Folgen auf die finanzielle Situation von Haushalten zu rechnen ist.
Im Juli/August 2020 blieb ein erhöhter Andrang auf die Schuldnerberatungsstellen zunächst jedoch aus. Auch die Ergebnisse der Online-Befragung zeigen, dass für den Umgang mit der Covid-19-Krise die Schuldnerberatung kaum in Anspruch genommen wurde, obwohl jede(r) zweite Betroffene angab, die Schuldnerberatung zu kennen. Zum Zeitpunkt der Befragung wurden 2,4 Prozent der Befragten im Regierungsbezirk Düsseldorf und 1,2 Prozent in den bayerischen Bezirken von einer Schuldnerberatungsstelle beraten.
Die Schuldnerberatungen haben vor allem in den Bereichen Erreichbarkeit und (digitale) Kommunikation auf die Pandemie reagiert. Die befragten Stellen (und auch andere) sind bemerkenswert kreativ und mit viel Eigeninitiative mit der Situation umgegangen. In Ermangelung zentral organisierter Hygienekonzepte mussten sie kurzfristig auf die Beschränkungssituation reagieren. Datenschutz und Datensicherheit in Bezug auf die Möglichkeiten zum Homeoffice und konkret den Umgang mit Akten stellten eine große Hürde dar. Auch die Beratung selbst war herausfordernd. Zum Großteil fand sie telefonisch oder online statt, häufig mit Verständigungsproblemen verbunden. Selbst wenn die Beratung bei Notfällen persönlich stattfinden konnte, war der Beziehungsaufbau durch Masken und Abstand zumindest erschwert.
Die Anpassungsfähigkeit der Beratungsstellen hing von ihrer personellen, technischen und finanziellen Ausstattung ab. Wie die Studie zeigt, führte die prekäre Finanzierung vieler Beratungsstellen dazu, dass sie kaum schnell auf die Krise reagieren konnten. Maß[1]nahmen wie die Aufstockung von Stellen, Anpassung der IT (einschließlich Investitionen) waren mangels finanzieller Ressourcen kurzfristig nicht umsetzbar. Verschärft wurde diese Situation vor allem bei jenen Schuldnerberatungen, deren Finanzierung von der individuellen Beratungsleistung abhängt.
Zu wenig private Rücklagen
Eine finanzielle Überforderung vieler Menschen ist bereits nach der ersten Covid-19-Welle nachweisbar: Fast jede(r) dritte (31 Prozent) der deutschlandweit Befragten gab an, er/sie habe bereits im Oktober 2020 auf Ersparnisse zurückgreifen müssen (s. Abbildung 1). Alarmierend ist dabei, dass bei 13 Prozent die Ersparnisse bereits im Oktober 2020 aufgebraucht waren und dass elf Prozent der Befragten über keinerlei Ersparnis[1]e verfügten.
Neben finanziell vulnerablen Personen ohne Rücklagen brachte die Krise der Studie zufolge auch weitere Personengruppen in die Gefahr, in Überschuldung zu geraten: vor allem prekär Beschäftigte, Selbstständige und Auszubildende. Laut der Befragung in den Modellregionen hatten 19 Prozent der finanziell pandemiebetroffenen Personen in Ausbildung und 24 Prozent der Selbstständigen ihr Einkommen bereits im Juli 2020 komplett verloren
Die staatlichen Unterstützungsleistungen waren gerade bei diesen Personengruppen nicht passgenau an ihren finanziellen Bedarfen orientiert. Zudem fehlt es nach wie vor für (ehemals) Selbstständige auch an Zugängen zur Beratung. So bleiben bei vielen Trägern von Schuldnerberatungen (ehemals) Selbstständige ausgeschlossen. Dies war schon vor der Pandemie ein drängendes Problem, das sich nun noch einmal verschärft hat.
Eine der Zielsetzungen der Studie war es auch, die aktuelle Anwendbarkeit des von der GP-Forschungsgruppe in den 1990er-Jahren entwickelte Überschuldungsindikatoren-Modell zu überprüfen. Es zeigte sich, dass dieses Modell grundsätzlich geeignet ist, der Komplexität einer Überschuldungssituation gerecht zu werden. Es zeigte sich aber auch, dass die für die Anwendung des Indikatorenmodells notwendigen Daten nicht vollständig verfügbar waren.
Um den drohenden Anstieg der Überschuldungszahlen besonders vulnerabler Verbrauchergruppen und neuer Personengruppen abzuwenden und für Überschuldete ein nachhaltiges Beratungsangebot vorhalten zu können, gibt es vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der ersten Covid-19-Welle folgende zentrale Empfehlungen:
1) Erweiterung der Anwendbarkeit des Kurzarbeitergeldes sowie Festlegung eines Mindestbetrages;
2) Passgenauigkeit der Soforthilfen hinsichtlich der Bedürfnisse der Zielgruppen;
3) Einrichtung eines Beratungsangebots für (ehemalige) Selbstständige;
4) Aufstockung des Personals sowie Digitalisierung der Beratungsstellen;
5) Weiterentwicklung und kontinuierliche Erhebung von Überschuldungsindikatoren
Anmerkungen
3. Die gesamte Studie ist abrufbar unter: www.fes.de/studie-private-verschuldung-in-deutschland
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