EU konkurriert mit Kroatien um Fachkräfte
Die Auswanderungstendenzen kroatischer Staatsbürger(innen) haben sich seit dem Jahr 2013 verstärkt, als Kroatien Mitglied der Europäischen Union (EU) wurde und sich neue Arbeitsmärkte eröffneten. Obwohl die Abwanderung von Fachkräften in Kroatien als ernstes Problem erkannt wurde, gibt es kaum exakte Statistiken dazu. Das kroatische Amt für Statistik (CBS) liefert offizielle Zahlen über Zu- und Abwanderung, aber diese unterschätzen die tatsächlichen Migrationsströme. In Übereinstimmung mit dem neuen Daueraufenthaltsgesetz (Amtsblatt 144/12 und 158/13) umfassen die Daten ab dem Jahr 2013 Personen, die ihren Wohnsitz für einen vorübergehenden Aufenthalt außerhalb Kroatiens für länger als ein Jahr verlassen hatten und ihre Abwesenheit dem Innenministerium gemeldet haben. Es werden jedoch keine Sanktionen verhängt, wenn eine solche Abwesenheit nicht gemeldet wird. Darüber hinaus befinden sich viele vor allem jüngere Emigrant(inn)en in einer "Grauzone", in der sie sich dauerhaft weder in Kroatien noch im Ausland aufhalten. Solche "Halb-Emigrant(inn)en" gehen ins Ausland, um dort zu studieren oder zu arbeiten.
In den letzten Jahren öffneten immer mehr Länder ihre Arbeitsmärkte für kroatische Bürger(innen). Das hat zu einer zunehmenden Abwanderung in andere EU-Länder geführt: Im Jahr des EU-Beitritts 2013 sind gut 15.000 aus Kroatien ausgewandert, die Nettomigrationsrate (also die Differenz zwischen Ein- und Ausgewanderten) belief sich auf minus 4900 Personen. Im Jahr 2017 sind 47.000 Menschen weg- und 15.500 zugezogen. Im Folgejahr 2018 fiel der Saldo etwas positiver aus (rund 40.000 Auswanderer und 26.000 Einwanderer).
Andere Quellen melden noch größere Migrationsströme
Nach den offiziell registrierten CBS-Daten seit 2013 könnte man schließen, dass die kumulative negative Migration in Kroatien mehr als minus 100.000 Menschen erreicht hat. Dies ist eine enorme Zahl für ein Land mit vier Millionen Einwohner(inne)n. Andererseits melden die verfügbaren Daten aus internationalen Quellen viel größere Auswanderungsströme. Laut den Daten der Internationalen Migrationsstatistik der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) beispielsweise hat allein Deutschland im Jahr 2013 rund 26.000 kroatische Staatsbürger(innen) aufgenommen. Im Jahr 2014 waren es bereits 46.000 und im Folgejahr 61.000 - deutlich mehr, als die vergleichbaren offiziellen CBS-Daten abbilden.
Laut CBS waren im Jahr 2016 rund 54 Prozent der Auswanderer Männer und 46 Prozent Frauen. Zwei Drittel waren unter 40 Jahre alt, 19 Prozent unter 19 Jahre alt. Das zeigt, dass der größte Teil der Auswanderung auf jüngere Menschen entfällt. Außerdem verlassen ganze Familien das Land, was sich von früheren Wellen der Wirtschaftsmigration aus Kroatien zur Zeit des ehemaligen Jugoslawiens (ab den späten 1960er-Jahren) unterscheidet. Damals gingen die Männer in der Regel als "Gastarbeiter" nach Westeuropa (zum Beispiel nach Deutschland und Österreich). Der Rest der Familie blieb aber oft im Land.
Die Hauptziele kroatischer Auswanderer sind auch heute Deutschland und Österreich (rund 60 Prozent von ihnen wandern nach Deutschland aus, zehn Prozent nach Österreich), was sowohl dem historischen Trend als auch der aktuellen Nachfrage nach Arbeit in diesen Ländern entspricht. Die Größe der Diaspora und die entsprechenden persönlichen und beruflichen Bindungen ziehen neue Auswanderer aus Kroatien an und helfen ihnen, sich in der neuen Umgebung einzuleben. Andererseits deutet die zunehmende Emigration nach Irland (5,5 Prozent im Jahr 2016) auf eine sich ändernde Struktur hin.
In Bezug auf Regionen sind die am wenigsten entwickelten Teile des Landes wie die Bezirke im Osten Kroatiens (Slawonien) am stärksten von negativen Migrationsströmen betroffen. Die Abwanderung der jüngeren Bevölkerung aus diesen Regionen in EU-Länder ist eine Reaktion auf die hohe Arbeitslosigkeit und ungünstige wirtschaftliche Perspektiven. Anstelle der saisonalen Migration in kroatische Küstengebiete, die im Sommer traditionell Arbeitsplätze mit geringen Anforderungen im Tourismus bieten, suchen viele Kroat(inn)en aus benachteiligten Gebieten nun Arbeit in EU-Ländern und wandern aus. Die offizielle Statistik gibt keine Auskunft über die Bildungsstruktur der kroatischen Emigrant(inn)en. Einigen Forschungserkenntnissen zufolge hat die Mehrheit der Auswanderer jedoch einen Sekundarschulabschluss oder sogar eine höhere Ausbildung.
Ärzt(inn)e(n) und IT-Expertise sind auch anderswo sehr gefragt
Zwei Berufsgruppen, die im Zusammenhang mit der Auswanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte häufig genannt werden, sind Ärzt(inn)e(n) und Fachleute aus dem Bereich Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT). Beides sind Professionen, die günstige Arbeitsmarktaussichten haben und deren Fachkenntnisse leicht auf einen ausländischen Kontext übertragbar sind. Laut dem kroatischen Ärzteverband1 haben bis Ende 2016 525 Ärzt(inn)e(n) Kroatien verlassen und mehr als 1200 haben eine EU-Zertifizierung erhalten, die für die Arbeit in EU-Ländern (hauptsächlich Großbritannien, Deutschland, Irland, Österreich und Schweden) erforderlich ist. Die letzten verfügbaren Daten von 2018 deuten darauf hin, dass mehr als 600 Ärzt(inn)e(n) Kroatien im Zeitraum von 2013 bis 2018 den Rücken gekehrt haben.
Da es sich bei IKT-Fachkräften nicht um einen reglementierten Beruf wie bei Ärzt(inn)en handelt, ist es viel schwieriger, den Umfang der Migration in diesem Sektor zu schätzen. Darüber hinaus geht es bei IKT oft um Projektarbeit (die an mehreren Orten oder als Fernarbeit organisiert werden kann), so dass die Grenzen zwischen Fachkräften, die in Kroatien oder im Ausland arbeiten, verschwimmen können.
Das Thema der Auswanderung und ihrer Auswirkungen auf die wirtschaftliche und demografische Zukunft Kroatiens hat in den letzten Jahren in den Medien und in politischen Kreisen an Bedeutung gewonnen. Dies gilt vor allem für die negativen Trends, die in der Region Slawonien im Osten Kroatiens zu beobachten sind. Bezüglich der Faktoren, die die Abwanderung von Fachkräften beeinflussen, gibt es keine systematische Forschung. Es gibt jedoch Anhaltspunkte für Schlüsselfaktoren. Dazu gehören die Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen (im Fall von jungen Arbeitslosen), ein besseres Gehalt und Arbeitsbedingungen, die die berufliche Entwicklung fördern (im Fall derjenigen, die einen Arbeitsplatz haben). In den letzten zwei Jahren werden jedoch in den Medien oft Vetternwirtschaft, politischer Klientelismus und ein negatives politisches Klima als Hauptgründe für die Auswanderung aus Kroatien genannt.
Genaue Auswirkungen der Abwanderung sind noch unbekannt
Was auch immer die Gründe für die starke Abwanderung aus Kroatien sind: Tatsache ist, dass diese Emigration zu einem hohen Verlust an Humankapital führt. Die genauen langfristigen Auswirkungen des Wegzugs von Fachkräften auf die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in Kroatien sind jedoch noch weitgehend unbekannt und schwer abzuschätzen, weil nur wenige verlässliche Daten existieren und noch keine geeigneten Modelle entwickelt wurden. Die Abwanderung von hochqualifizierten Arbeitskräften wie Ärzt(inn)e(n), Forscher(innen), IKT-Fachleuten und Ingenieur(inn)en kann zu negativen Folgen für die potenziellen und tatsächlichen Bruttoinlandsprodukt-Wachstumsraten (BIP) führen. Die Verluste durch ein geringeres Innovationspotenzial, durch verringerte Produktivität, ein geringeres BIP sowie fiskalisches Potenzial übersteigen die positiven Effekte, die sich aus den Rücküberweisungen und aus der Reduzierung der Kosten für Sozialtransfers und der Kosten aus Arbeitslosigkeit ergeben. Auch die regionalen Unterschiede werden zunehmen, da die weniger entwickelten Gebiete des kontinentalen Kroatiens weiter zurückfallen werden. Der Mangel an medizinischem Personal kann eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung gefährden.
Ein weiterer bedeutsamer negativer Effekt trat bereits in den Jahren 2016 bis 2019 in Kroatien auf, als sich das Wirtschaftswachstum verstärkte, was sich in einem Arbeitskräftemangel in einigen Sektoren niederschlug. Die Nachfrage nach Arbeitskräften auf dem Arbeitsmarkt hatte sich erhöht. Dies war besonders in Bereichen zu beobachten, die stark gewachsen sind (zum Beispiel der Tourismus), sowie in arbeitsintensiven Sektoren, die besonders unter dem Mangel an Arbeitskräften litten (beispielsweise das Bauwesen und teilweise die Landwirtschaft). Wie oben erläutert, haben sich viele frühere Saisonarbeiter(innen) (vor allem in den kontinentalen Teilen Kroatiens) im Tourismus, im Baugewerbe und in der Landwirtschaft dafür entschieden, wegzuziehen und anderswo in der EU Arbeit zu suchen. Dies betraf sowohl qualifizierte als auch ungelernte Arbeitskräfte. Die Arbeitgeber vor allem aus dem Tourismus- und Bausektor forderten deshalb die Politik auf, die Quoten für ausländische Arbeitskräfte zu erhöhen, statt mit Lohnerhöhung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu reagieren. Die kroatische Regierung hob daraufhin mehrmals die Quoten an. So wurde Kroatien zu einem Land, aus dem einheimische, relativ gut ausgebildete Arbeitskräfte abwanderten. Gleichzeitig ersetzten die kroatischen Arbeitgeber sie durch Arbeitskräfte aus Bosnien und Herzegowina, Serbien, Albanien und der Ukraine oder sogar von den Philippinen, die in der Regel geringer qualifiziert sind.
Kroatien braucht eine strategische Antwort auf das Problem
Die kroatische Regierung hat mehrere Programme aufgelegt, die darauf abzielen, die Auswanderungsströme zu stoppen oder abzumildern; von der Einkommenssteuerreform bis zur steuerlichen Begünstigung junger Arbeitnehmer(innen). Ab 2019 hat die Regierung den Einkommensteuersatz für junge Leute gesenkt (unter 25-Jährige zahlen keine Einkommenssteuer und zwischen 25- und 30-Jährige nur 50 Prozent). Ein Wohnungsbauprogramm mit subventionierten Baudarlehen für junge Familien wurde ebenfalls eingeführt, doch der Trend ist immer noch negativ. Ein hochrangiges Regierungsgremium sollte eingerichtet werden, das sich angemessen mit diesen Problemen befasst und Konzepte erarbeitet, um diese Abwanderungstendenzen deutlich zu reduzieren. Dieses Gremium sollte auch eng mit dem Staatsamt für Kroat(inn)en im Ausland zusammenarbeiten, um eine Strategie zu entwickeln, ausgewanderte kroatische Staatsbürger(innen) zur Rückkehr zu bewegen.
Kroatien braucht eine strategische Antwort auf dieses Problem, das die Sicherung von genügend qualifizierten Arbeitskräften für die Wirtschaft zu einem möglichen Konfliktthema im EU-Kontext macht. In diesem Konflikt um Arbeitskräfte sind die am weitesten entwickelten EU-Länder wie Deutschland und Österreich wieder die Gewinner und die am wenigsten entwickelten verlieren ihre besten Kräfte. Es braucht bessere Lösungen und mehr Solidarität, um dieses Problem auch auf EU-Ebene anzugehen.
Anmerkung
1. Siehe Homepage der kroatischen Ärztekammer, Kurzlink: https://bit.ly/2ZGxnRc
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