Ambulante Pflege: nach Leistungsart oder nach Zeit vergüten?
Pflegebedürftige finden immer schwerer einen ambulanten Pflegedienst, um zu Hause versorgt zu werden. Und auch für die Pflegedienste wird es immer problematischer, Personal zu finden, um die Versorgung ihrer Kund(inn)en entsprechend aufrechtzuerhalten. Daher ist es wichtig, den ambulanten Sektor für die Pflegekräfte attraktiver zu gestalten. Ein möglicher Ansatzpunkt wäre, die Abrechnungsart für Pflegeleistungen zu ändern. Derzeit werden diese nach den vereinbarten und dokumentierten Leistungskomplexen abgerechnet. Es wäre jedoch auch möglich, die Leistungen nach der benötigten Zeit abzurechnen.
Doch welche Auswirkungen hätte die Zeitvergütung? Und kann dadurch tatsächlich die Attraktivität der ambulanten Pflege gesteigert werden? Diese Fragestellungen hat die Autorin dieses Beitrags in einer Masterarbeit an der FH Münster analysiert. Hierfür erfolgte eine qualitative Forschung mittels einer schriftlichen Befragung. Es wurden sowohl die Sichtweisen von Expert(inn)en aufseiten der Leistungserbringer und der Spitzenverbände der Leistungserbringer als auch der Kostenträger berücksichtigt.
Mit der Einführung einer Zeitvergütung werden in der ambulanten Pflege häufig die Erwartungen auf mehr Zeit für die Versorgung der Pflegebedürftigen, weniger Stress bei der Pflege und eine bedarfsgerechte Pflege genannt. Gleichzeitig werden damit auch eine gesteigerte Attraktivität des Pflegeberufes und die Förderung der Fachlichkeit verbunden.
Pflegeleistungen im Fünfminutentakt erfassen
Um diese Ziele zu erreichen, könnte die Zeitvergütung folgendermaßen umgesetzt werden: Die Zeiten des Leistungseinsatzes sollten mit dem Betreten der Häuslichkeit des Kunden/der Kundin beginnen und mit dem Verlassen der Häuslichkeit enden. Die Zeiterfassung der Pflegeleistungen könnte dann im Fünfminutentakt erfolgen. Durch diesen Korridor wird der minütliche Vergleich der Leistungsdauer verringert. Denn nicht jede(r) Mitarbeitende benötigt für die gleiche Leistung die gleiche Zeit. Ohne Zeitkorridore wäre jedoch eine längere Leistungsdauer direkt mit höheren Kosten für den Pflegebedürftigen beziehungsweise der Pflegekasse verbunden. Im Bereich der Hauswirtschaft und Betreuung würde sich ein längerer Korridor anbieten, etwa ein 15-Minutentakt. Die Ausgestaltung der Leistungen sollte für jede(n) Klientin/Klienten individuell vereinbart werden, genauso wie auch die Pflege- und Betreuungsziele. Hierbei könnten auch die dazugehörigen Einzelleistungen und Maßnahmen festgehalten werden, so dass die Mitarbeitenden sich daran orientieren können. Darauf basierend sollten entsprechende Zeitkontingente vereinbart werden, damit die Kundin/der Kunde einen verlässlichen Kostenvoranschlag erhält. Gleichzeitig muss den Mitarbeitenden ermöglicht werden, den Einsatz flexibel zu gestalten, um auf Situation und Stimmungslage des Kunden einzugehen, ohne in größerem Umfang von der vereinbarten Leistungszeit abzuweichen. Dadurch würde auch der Zeitdruck aus der Versorgungssituation genommen und es könnte mehr Zeit für Zuwendungen und soziale Komponenten verwendet werden.
Die Einführung von Zeitzuschlägen könnte zusätzlich steuernd wirken. Denn insbesondere durch einen Nachtzuschlag oder einen Feiertagszuschlag könnten Zeiten verringert werden, für die es generell schwerer ist, Mitarbeitende zu finden. Erfahrungsgemäß wird davon ausgegangen, dass durch die erhöhten Kosten für die Pflegeleistung dann weniger Kund(inn)en zu diesen Zeiten Leistungen anfordern.
Eine Zeitvergütung birgt aber auch Probleme und Risiken. Diese können beispielsweise bei kombinierten Einsätzen auftreten, bei denen sowohl Leistungen aus dem SGB-XI-Bereich, also den klassischen Pflegeleistungen, als auch aus dem SGB-V-Bereich, also Leistungen der häuslichen Krankenpflege, erfolgen. Eine Trennung dieser beiden Leistungsbereiche ist zwingend erforderlich, da die Kostenerstattung über zwei verschiedene Kostenträger erfolgt. So werden die Leistungen der häuslichen Krankenpflege mittels Pauschalen von den Krankenkassen übernommen. Die klassischen Pflegeleistungen hingegen werden entweder über die Pflegekassen abgerechnet oder direkt über die Kund(inn)en. Um die Zeit für die Pflegeleistung von der für die häusliche Krankenpflege abzugrenzen, müsste klar definiert werden, welcher Zeitanteil auf welchen Leistungsbereich entfällt. Bei der Begrüßung und Verabschiedung kann diese Trennung jedoch beispielhaft nicht erfolgen. Und wenn etwa ein(e) Pflegebedürftige(r) eine Duschpflege erhält und beim Ankleiden die Kompressionsverbände angelegt bekommt, ist auch hier eine saubere Trennung nicht einfach. Erschwert wird diese dadurch, dass noch nicht alle Pflegedienste technisch in der Lage sind, eine schnelle zeitliche Trennung der Leistung zu erfassen. Dieses könnte bei der Abrechnung zu Diskussionen mit den Kostenträgern führen, was durch feste Pauschalen vermeidbar ist.
Alle Ausfallzeiten in die Kalkulation mit einbeziehen
Verhandlungen über eine Zeitvergütung mit den Kostenträgern sind nicht einfach. Zwar haben die Pflegedienste grundsätzlich die Möglichkeit, sämtliche Gestehungskosten in die Verhandlung einzubringen. Ob diese auch vollumfänglich vonseiten der Kostenträger anerkannt werden, ist allerdings fraglich. Damit jedoch ein Pflegedienst wirtschaftlich arbeiten kann, dürfte keine Kostenkomponente aus der Kalkulation des Pflegedienstes gestrichen werden. Zudem würde in den Verhandlungen intensiv über die indirekten Zeiten diskutiert werden, um die Anzahl der Stunden zu ermitteln, die die Pflegekräfte tatsächlich für die Versorgung der Klient(inn)en nutzen können. Hierbei müssten beispielsweise sämtliche Ausfallzeiten für Urlaub, Krankheit und Fortbildung akzeptiert werden, genauso wie indirekte Zeiten für Dienstbesprechungen, Übergaben und Vorbereitungen auf die jeweilige Tour.
Selbst über Zeitaufwand der Pflege entscheiden
Bei der Einführung einer Zeitvergütung ist ergänzend zu beachten, dass durch den Wechsel eines Abrechnungssystems nicht direkt mehr Pflegekräfte zur Verfügung stehen. Sofern nicht durch weitere Maßnahmen Zeit in anderen Bereichen für die Pflegekräfte gewonnen werden kann, haben sie im Gesamtumfang nicht mehr Zeit. Somit ist auch bei einer Zeitvergütung keine wesentliche Ausdehnung der Leistungszeit möglich, wenn weiterhin die gleiche Anzahl an Pflegebedürftigen versorgt werden soll. Einzig wäre es im Ermessen der Pflegekraft, selbst zu entscheiden, bei welchem Klienten sie wie lange benötigt. Der zeitliche Spielraum für eine Pflegekraft wäre also größer. Sofern jedoch die Einsatzzeiten von der Pflegedienstleitung gut geplant und die verhandelten Vergütungen auskömmlich sind, würde sich durch den Wechsel des Abrechnungssystems keine zeitliche Veränderung für den einzelnen Einsatz ergeben. Dann ist es auch im derzeitigen System möglich, qualitativ gut zu pflegen.
Insgesamt betrachtet könnte die Zeitvergütung somit eine alternative Abrechnungsmöglichkeit für die Vergütung von Leistungskomplexen sein. Es ist jedoch zu erkennen, dass mit einer Zeitvergütung nicht alle Ziele und Wünsche erfüllt werden, die mit einem Wechsel des Vergütungssystems erhofft werden. Da hinsichtlich der Trennung der Leistungen und der Vergütungsverhandlungen auch größere Probleme gesehen werden, wäre zu überlegen, wie das Leistungskomplexsystem überarbeitet werden könnte, um die Ideen der Zeitvergütung in das aktuelle System integrieren zu können.
Kritisiert wird bei der Leistungskomplexabrechnung der hohe Zeitdruck. Um diesen aus der Versorgung herauszunehmen, könnten beispielsweise die Punktwerte der Leistungskomplexe erhöht werden, die für die Versorgung der Klient(inn)en genutzt werden. So bliebe wieder vermehrt Zeit für die soziale Komponente, die gerade für allein lebende Personen wichtig ist. Des Weiteren könnten Leistungskomplexe für bestimmte Situationen wie etwa die Entlassung eines Klienten aus dem Krankenhaus, für bestimmte Krisensituationen oder für eine Sterbebegleitung aufgenommen werden, die durch die pauschalierten Leistungskomplexe nicht abgedeckt sind. Besonders in diesen Situationen ist der individuelle Zugang der Pflegekraft wichtig. Indem die Leistungen freier ausgestaltet werden könnten, würde auch die Pflegefachlichkeit wieder vermehrt im Fokus stehen.
Bei der Diskussion um die bessere Abrechnungsmöglichkeit muss jedoch beachtet werden, dass der Fokus nicht allein auf die Wirtschaftlichkeit gelegt werden darf. Entscheidend ist, dass die Klient(inn)en qualitativ hochwertig versorgt werden und sich gute Pflege finanziell leisten können müssen. Zudem müssen alle Personen, die auf die Unterstützung angewiesen sind, die Möglichkeit erhalten, von einem Pflegedienst versorgt zu werden.
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