Ein soziales Europa braucht gemeinnützige Sozialunternehmen
Die europäische Sozialwirtschaft besteht aus einer Vielfalt von Organisationsformen innerhalb spezifischer nationalstaatlicher Rechtssysteme. Angesichts einer fehlenden EU-weiten legalen Definition von Sozialunternehmen beschreibt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) in seiner Stellungnahme vom 26.Oktober 20111 diese anhand von bestimmten Merkmalen: Unternehmen, die hauptsächlich soziale Ziele verfolgen und einen gesellschaftlichen Nutzen für die Allgemeinheit oder ihre Mitglieder generieren; überwiegend nicht gewinnorientiert sind; vielfältige Rechtsformen und Geschäftsmodelle haben; Güter und Dienstleistungen produzieren (in vielen Fällen von allgemeinem Interesse), häufig sozialinnovativ sind; als unabhängige Einheiten mit einem starken Element der Teilhabe und Mitbestimmung (Personal, Nutzer, Mitglieder), Governance und Demokratie (entweder repräsentativ oder offen) arbeiten; häufig auf eine Organisation der Zivilgesellschaft zurückgehen oder mit dieser in Verbindung stehen. In seiner Stellungnahme vom 18. September 20202 definiert der EWSA als gemeinnützige Sozialunternehmen solche, die die oben aufgeführten Merkmale aufweisen und zusätzlich entsprechend der nationalen Gesetzgebung verpflichtet sind, etwaige Gewinne vollumfänglich in die Aufgaben des Gemeinwohls beziehungsweise gemeinnützige Satzungszwecke zu reinvestieren (wie etwa die freie Wohlfahrtspflege in Deutschland).
"Innovative Lösungen für soziale Bedürfnisse"
Der Bezug auf die nationalstaatlichen Regelungen resultiert aus der Nichtexistenz einer EU-weiten Definition der Gemeinnützigkeit. Im EU-Recht wird bisher den Spezifika der Sozialwirtschaft kaum Rechnung getragen. So wird Artikel 54 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) so ausgelegt, dass Organisationen ohne Erwerbszweck Gesellschaften mit Erwerbscharakter gegenüberstehen, zu welchen ohne weitere Differenzierung und ungeachtet der Rechtsform sämtliche Unternehmen gehören, die Gewinne erwirtschaften, unabhängig davon, was mit dem Gewinn passiert.
Beitrag zu einem sozialen Europa
Beitrag zu einem sozialen Europa In letzter Zeit, zweifellos auch vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Covid-Krise, rückt die Rolle der gemeinnützigen Sozialunternehmen jedoch nach und nach in den Vordergrund. Beispielsweise verfasste der Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte, Nicolas Schmit, am 24. April 2020 an die Regierungen der Mitgliedstaaten eine Position der Europäischen Kommission, wonach gerade in Krisenzeiten wie dieser die Sozialwirtschaft unterstützt werden soll.3 Organisationen der Sozialwirtschaft würden, so die Kommission, auf vielfältige Weise dazu beitragen, die Auswirkungen dieser Krise abzufedern. In Zusammenarbeit mit und ergänzend zu den Maßnahmen der staatlichen Behörden stellten sie eine breite Vielfalt an sozialen Dienstleistungen bereit, insbesondere für die Schwächsten in der Gesellschaft. Sie seien auch wichtige Arbeitgeber für schutzbedürftige Gruppen und spielten eine entscheidende Rolle bei der Integration in den Arbeitsmarkt und der Vermittlung von Qualifikationen. Ausdruck der wachsenden Bedeutung der gemeinnützigen Sozialunternehmen war auch das Ersuchen der deutschen Ratspräsidentschaft nach einer entsprechenden EWSA-Stellungnahme.
Das Modell der gemeinnützigen Erbringung sozialer Dienstleistungen mit dem absoluten Primat der sozialen Zielsetzung hat sich auch in Zeiten früherer wirtschaftlicher und sozialer Krisen als äußerst flexibel, bürgernah, innovativ, nachhaltig, demokratisch legitimiert und effizient erwiesen. Jedoch selbst unter "krisenfreien" Bedingungen ist es schlicht undenkbar, die "Europäische Säule sozialer Rechte" ohne die Beteiligung gemeinnütziger Sozialunternehmen umzusetzen. Diese sind darauf ausgerichtet, Ziele der Säule wie die Förderung sicherer und anpassungsfähiger Beschäftigung, den sozialen Dialog und die Arbeitnehmerbeteiligung sowie ein sicheres, gesundes und angemessenes Arbeitsumfeld zu verwirklichen beziehungsweise innovative Lösungen für bestimmte grundlegende soziale Bedürfnisse zu bieten. Bei der Umsetzung von zwölf der insgesamt 20 Grundsätze der Säule spielen gemeinnützige Sozialunternehmen per se oder als Träger von Dienstleistungen eine besondere Rolle.
Die Zukunft sichern
Bereits jetzt etablieren Rechtssysteme einzelner Mitgliedstaaten einen Status der Gemeinnützigkeit, welcher auch auf Sozialunternehmen anwendbar ist. Daher ermuntert der EWSA sonstige Mitgliedstaaten, entsprechende Regelungen im jeweiligen nationalen Recht zu verankern. Auf Dauer sind jedoch nationalstaatliche Regelungen nicht ausreichend, auch und insbesondere vor dem Hintergrund der europäischen Wettbewerbsregeln; vielmehr sind eine Stärkung und gezielte Förderung auf der EU-Ebene erforderlich. Hierzu postuliert der EWSA in seiner Stellungnahme unter anderem die Unterstützung gemeinnütziger Sozialunternehmen durch Mitgliedstaaten im sozialpolitischen Scoreboard des Europäischen Semesters; ein Protokoll zum AEUV über die Vielfalt der Unternehmensformen, in welchem gemeinnützige Sozialunternehmen gesondert definiert werden (nach dem Vorbild des Protokolls Nr. 26 über Dienste von allgemeinem Interesse); den Vorrang gemeinnütziger Sozialunternehmen und ähnlicher gemeinnütziger Organisationen vor staatlichen oder gewerblichen Anbietern im Vergaberecht bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen von allgemeinem Interesse; eine Möglichkeit der ausschließlich an gemeinnützige Organisationen gerichteten Förderungen ohne Verletzung des EU-Beihilferechts und eine signifikante Erhöhung des derzeitigen Schwellenwertes der DAWI-De-Minimis-Verordnung von 500.000 Euro in drei Steuerjahren etwa auf 800.000 Euro pro Steuerjahr.
Eine große Chance, das Modell der gemeinnützigen Sozialunternehmen weiterzuentwickeln, liegt in der Vorbereitung und Umsetzung des Europäischen Aktionsplans für die Sozialwirtschaft, welcher offiziell im vierten Quartal 2021 durch die Europäische Kommission gestartet werden soll.4
Anmerkungen
1. Amtsblatt der Europäischen Union 2012/C 24/01.
2. Amtsblatt der Europäischen Union 2020/C 429/18
3. https://twitter.com/NicolasSchmitEU/status/1254685369070530560
4. EU-Aktionsplan für die Sozialwirtschaft unter: https://bit.ly/3r4xYpn
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