Beratung geht nicht ohne Selbstreflexion
Die Jugendmigrationsdienste (JMD) begleiten und unterstützen junge Menschen mit Migrationsgeschichte unter anderem in den Bereichen Schule, Ausbildung, Beruf, Existenzsicherung, Gesundheit, Freizeit und Partizipation. In diesen Lebensbereichen erleben die Klient(inn)en immer wieder rassistische Zuschreibungen und Diskriminierung. Sie benötigen für die Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus und ihren eigenen Erfahrungen von Diskriminierung1 einen Raum und Ansprechpersonen, die ihre Lebenswirklichkeit anerkennen, ihnen zuhören und sie ernst nehmen. Die kontinuierliche Auseinandersetzung mit Diskriminierungserfahrungen gehört zum professionellen Selbstverständnis der JMD.
Der Begriff "Diskriminierung" verweist auf überaus heterogene Sachverhalte, die in jeweilige historische und gesellschaftliche Kontexte eingebettet sind, und beschreibt die Benachteiligung und Ausgrenzung von Menschen aufgrund ihnen zugeschriebener Merkmale. Unter anderem werden Menschen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihres Alters, aufgrund einer Behinderung oder ihres sozioökonomischen Status diskriminiert. Diskriminierung ist nicht nur eine Folge individueller Einstellungen und Handlungen. Gesellschaftliche, ökonomische, politische und rechtliche Strukturen führen zur Verfestigung von Benachteiligungen.
Diskriminierung dient dazu, Privilegien festzuschreiben
Diskriminierung dient dazu, gesellschaftliche Machtverhältnisse und Ungleichheiten zu begründen, Privilegien festzuschreiben sowie Normalitätsvorstellungen aufrechtzuerhalten. Für die Klient(inn)en der JMD ist besonders die Zuschreibung zu "den anderen" ("Othering"2) als Form rassistischer Diskriminierung real und täglich erlebbar: Es bestehen Zugangsbarrieren zu den Integrationskursen des Bundes für bestimmte Herkunftsländer, Benachteiligung bei der Wohnungssuche aufgrund des Namens sowie Einschränkungen beim Arbeitsmarktzugang und Familiennachzug aufgrund des rechtlichen Status.
Im Alltag erfahren viele junge Menschen Diskriminierung und Rassismus, beispielsweise bei Ämtergängen, bei Verkehrs- und Fahrkartenkontrollen, beim Einkaufen und nicht zuletzt in der Schule oder in ihrem Ausbildungsbetrieb. Diskriminierung ist lebensprägend und steht somit Teilhabe und Chancengerechtigkeit diametral entgegen.
Diskriminierungskritisch arbeiten heißt, sich selbst zu reflektieren
Diskriminierungskritisches Arbeiten im JMD erfordert Selbstreflexion der eigenen Praxis. Das bedeutet, die eigene Arbeit und die eigene Haltung und Positionierung zu hinterfragen, um Diskriminierungserfahrungen der Zielgruppe und strukturelle Diskriminierung erkennen zu können. Für einen ganzheitlichen Auseinandersetzungsprozess sind individuelle Positionen, die Rahmenbedingungen des eigenen Arbeitens sowie der öffentliche Auftritt des Trägers zu überprüfen.
Zu den Zielen der JMD zählen
- das Aufarbeiten von Diskriminierungserfahrungen;
- das Benennen und gegebenenfalls Aufbrechen systemischer Diskriminierungsprozesse in den lokalen Strukturen;
- die Ausgestaltung des JMD als Raum eines rassismuskritischen und diskriminierungssensiblen Miteinanders; die Wahrnehmung von Diskriminierungserfahrungen von Ratsuchenden und die Anerkennung dieser Erfahrungen;
- die Stärkung der jungen Menschen im Umgang mit Diskriminierungserfahrungen und die Unterstützung bei der Entwicklung von Handlungsmöglichkeiten;
- die Unterstützung bei rechtlichen Schritten gegen Diskriminierung (sofern von den Ratsuchenden gewünscht);
- die Thematisierung von Diskriminierung in der Netzwerkarbeit und die Erweiterung des Netzwerks um geeignete Bündnispartner(innen).
Teams brauchen ein gemeinsames Grundverständnis zu Rassismus
Jeder Jugendmigrationsdienst sollte als Team ein Grundverständnis zum Thema Rassismus entwickeln. Checklisten und Leitfäden als Hilfestellung zum Einstieg und zur Reflexion sowie die Teilnahme an entsprechenden Fort- und Weiterbildungen können diese Prozesse, die langfristig und dauerhaft angelegt werden sollten, unterstützen. Der Umgang mit komplexen Fragen und Dilemmata sind im Themenspektrum der Antidiskriminierungsarbeit unabdingbar. Für die Selbstfürsorge und Erhaltung der Handlungsfähigkeit ist eine kontinuierliche Teilnahme an Supervision und kollegialer Beratung beziehungsweise die Bereitstellung von Empowerment-Räumen für BIPoC-Kolleg(inn)en3 wichtig und empfehlenswert.
Um politisch, rechtlich und pädagogisch langfristig wirksame Maßnahmen gegen Rassismus und Diskriminierung zu entwickeln, genügt es nicht, eine generelle Haltung der Toleranz einzufordern sowie individuelle Rechtsansprüche auf Diskriminierungsschutz zu gewährleisten. Es braucht sowohl auf der lokalen wie auch den übergeordneten Ebenen aktive Bündnisarbeit und neue Allianzen mit Partner(inne)n, die sich solidarisch für eine rassismus- und diskriminierungskritische Migrationssozialarbeit sowie Kinderund Jugendpolitik einsetzen.
Positionspapier soll Selbstverständnis der Mitarbeitenden stärken
Diesen Prozess mitzugestalten ist Aufgabe der Bundesorganisationen und Träger der Jugendmigrationsdienste. Der Impuls zur Bearbeitung des Themas in den Strukturen der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) kam von katholischen Jungendmigrationsdiensten aus Nordrhein-Westfalen. Auf Basis ihrer Vorlage und einer anschließenden Diskussion im Kompetenzteam JMD der BAG KJS erstellen die Bundestutor(inn)en der vier Trägergruppen für das JMD-Programm - Arbeiterwohlfahrt, BAG Evangelische Jugendsozialarbeit, BAG Katholische Jugendsozialarbeit und Internationaler Bund - derzeit in Abstimmung mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ein Positions- und Grundsatzpapier. Dieses soll das Selbstverständnis der Mitarbeitenden im JMD in diesem Prozess stärken und demnächst veröffentlicht werden.
Anmerkungen
1. So wichtig ein rassismuskritisches Vorgehen auch ist, sollte es doch auch eingebettet sein in einen intersektionellen Rahmen, der es ermöglicht, die vielfältigen Positionierungen und Wechselwirkungen, die im Leben aller Menschen wirksam sind, besprechbar, sichtbar und veränderbar zu machen (vgl. Jagusch, B.: Ausblick. Intersektionale Perspektiven als kritische Reflexionsperspektive. In: Landesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit NRW (Hrsg.): Nicht von jetzt auf gleich?! Wie können Teams Haltungen entwickeln? Handlungsleitende Prinzipien und Empfeh lungen für Einrichtungen, die sich rassismuskritisch reflektieren möchten. Köln: Eigenverlag, 2019, S. 153-160. Download unter https://bit.ly/39dSzyM
2. Bei "Othering" handelt es sich um einen permanenten Akt der Grenzziehung, bei dem Menschen mittels Stereotypisierung und Hierarchisierung zu den "anderen" gemacht werden. "Die anderen" werden dabei als nicht zugehörig und abweichend kategorisiert und abgewertet, während die eigene "Normalität" bestätigt und aufgewertet wird. Der Prozess des Othering geschieht häufig innerhalb eines Machtgefälles (https://bit.ly/396vnCM)
3. Die Abkürzung "BIPoC" ist eine inklusive Sammelbezeichnung für Schwarze (Black), Indigene (Indigenous) und nicht weiße Menschen (People of Color).
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