Zusammenarbeit neu denken
Nach und nach werden die Beschlüsse des Organisationsentwicklungsprozesses (OE-Prozess) der Verbandszentrale des Deutschen Caritasverbandes (DCV) mit ihren Hauptvertretungen in Berlin und Brüssel umgesetzt. Früh zeichnete sich ab: Die Zentrale wird personell kleiner, Aufgaben müssen priorisiert und neue Arbeitsformen entwickelt werden. Diese Veränderungen berühren nicht nur die Zentrale und ihre Mitarbeitenden, sondern auch das verbandliche Zusammenwirken und die Interessen der Gliederungen und Mitglieder. Im Oktober 2018 hat der Vorstand daher nach Beratung im Caritasrat eine verbandliche Beteiligung eingeleitet und das Projekt "Verbandlich handeln. Neujustierung der Zusammenarbeit zwischen Bundesverband, Gliederungen und Mitgliedern" beschlossen. Mit der Steuerung des Projektes wurde eine Gruppe beauftragt, deren Mitglieder die verbandlichen Gruppierungen repräsentieren: Diözesan- und Orts-Caritasverbände, Personal- und Einrichtungsfachverbände sowie die Verbandszentrale des DCV entsandten je zwei Vertreter(innen).1
Der DCV, das sind alle - auch die Fachverbände
Eine Geschäftsführerin aus der Zentrale unterstützte sie bei der Umsetzung ihres Auftrages. Im Fokus des Beteiligungsprojektes standen Zusammenarbeit, Aufgabenwahrnehmung und -verteilung zwischen Verbandszentrale und den Einrichtungs-, Personal- und Diözesan-Caritasverbänden (mit den OCV) sowie eine Neujustierung der Aufgabenwahrnehmung. Das verbandliche Handeln und die Wirksamkeit des gesamten Verbandes sollten gestärkt und die Nutzung von Synergien letztlich im Haushalt der Zentrale Einsparpotenziale realisieren. Was Skeptiker(innen) verbandlicher Projektarbeit möglicherweise erwartet hatten - dass nämlich jedes Mitglied als Interessenvertreter(in) ihrer jeweiligen Gruppierung auftreten und der Projektauftrag dadurch überlagert würde - es trat nicht ein. Die Arbeitstreffen erwiesen sich als offene Diskurs- und produktive Arbeitsorte zu verbandlichen Aufgaben und Strategien - und nicht zuletzt als Nachdenkorte zur Zukunft von Kirche und ihrer Caritas. Mehr als 18 Treffen und Workshops bestritt die Gruppe; von Anfang an fühlten sich alle Mitglieder einem gemeinsamen Auftrag verpflichtet. Ab März 2020 ersetzten Videokonferenzen die persönlichen Begegnungen. Doch bis dahin hatte sich der "Spirit" der Steuerungsgruppe längst gebildet.
Begrifflichkeiten und Grundsatzfragen klären
Immer wieder brauchte es in der Steuerungsgruppe eine Vergewisserung über Begriffe. Im verbandlichen Sprachgebrauch werden "der DCV" und die Verbandszentrale meist gleichgesetzt. Der Blick in die Satzung schafft Eindeutigkeit: "Der Deutsche Caritasverband ist der Zusammenschluss der Diözesan-Caritasverbände, der anerkannten zentralen Fachverbände, der anerkannten katholischen caritativen Vereinigungen, jeweils einschließlich ihrer Gliederungen und Mitglieder, sowie der überdiözesan tätigen caritativen Orden" (§ 4 Satzung). "Der Deutsche Caritasverband unterhält eine Zentrale für die laufende Geschäftsführung des Verbandes und einzelner anerkannter Fachverbände" (§ 5). Ergo: "Der DCV", das sind alle - auch die Fachverbände.
Der Begriff Zentrale bezeichnet die Mitte des Verbandes. Doch ein sehr verbreitetes Verbandsverständnis begreift die Zentrale und den Präsidenten als Spitze des Verbandes, "unten" befindet sich die Ortsebene. Kommunikationsströme verlaufen vertikal, die Diözesanebene vermittelt zwischen "oben" und "unten". In der Steuerungsgruppe wurde schnell Einvernehmen darüber erzielt, dass dieses Verbandsbild weder zukunftsweisend ist noch der Wirklichkeit entspricht. Jede Organisation müsse das Silodenken aufgeben, ihr Wissen allen Teilen verfügbar machen, in interdisziplinären Teams und iterativen Prozessen arbeiten.
Ein wirksames Agieren im Netzwerk Caritas ist komplex
Diese Idee des "Network Thinking" von Ulrich Weinberg floss auch in das Verbandsbild der Steuerungsgruppe ein: Die Caritas als dreidimensionales Netzwerk, in dem alle Caritas-Akteure und die Zentrale miteinander verbunden sind.2 Tatsächlich zeigte die Corona-Pandemie, dass konzertiertes Caritas-Handeln im Netzwerk funktioniert. Covid-19 richtete zeitweise alle verbandlichen Interessen auf ein Ziel (Rettungsschirm) aus, denn erfolgreiches Handeln war für alle Unternehmensteile überlebensnotwendig. Doch taugt diese historische Ausnahme auch als Blaupause für verbandliches Handeln? Und: Passt die Satzung des DCV zum modernen Netzwerkgedanken?
Online-Erhebung zu relevanten Themen als Ausgangspunkt
"Was bedeutet aus Ihrer Perspektive das Ziel ,mehr Wirksamkeit des Gesamtverbandes‘?" "Welche Befürchtungen haben Sie im Zusammenhang mit dem Projekt ,Verbandlich handeln?‘" Per Online-Erhebung richteten sich im November 2018 diese und weitere Fragen an 30 Diözesan-Caritasdirektor(inn)en (inklusive Landes-Caritasverbände), an 17 Geschäftsführende der Fachverbände und an den Sprecherkreis der Orts-Caritasverbände. 56 Prozent der Adressat(inn)en folgten der Einladung zur Teilnahme. Relevanteste Frage: "Welches sind aus Ihrer Sicht die fünf wichtigsten Themenkomplexe, die in Bezug auf die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Bundesverband, Gliederungen und Mitgliedern bearbeitet werden müssen?"
Auf der Grundlage dieser Online-Erhebung priorisierte der Vorstand in seiner Januarklausur 2019 folgende Themen zur weiteren Bearbeitung: "Zuständigkeiten und Zusammenarbeit der verbandlichen Akteure" sowie "Dienstleistungserbringung durch die Verbandszentrale". Die Themen "Politisches Lobbying/Kampagnenfähigkeit" sowie "Große Vorhaben und innovative Projekte gemeinsam bewältigen" wurden dem Thema "Zusammenarbeit" zugeordnet.
Zusammenarbeit neu denken
In jedem Arbeitsfeld agieren nicht nur Einrichtungen, Dienste und deren Träger, sondern auch die Diözesan-Caritasverbände, die Bundesebene mit dem Berliner Büro und mehrere Fachverbände und katholische Arbeitsgemeinschaften. Die Steuerungsgruppe entschied sich dafür, beispielhaft anhand dreier Arbeitsfelder das verbandliche Zusammenwirken zu analysieren: Das Arbeitsfeld Behindertenhilfe und Psychiatrie, das Thema Armut sowie das freiwillige Engagement. Schon die Zusammenstellung des Teilnehmerkreises für die Expert(inn) en-Workshops machte deutlich: Ein wirksames Agieren im Netzwerk Caritas ist komplex.
Ein Blick auf ausgewählte Ergebnisse der Workshops:
- Neue Wege der Zusammenarbeit müssen arbeitsfeldspezifisch entwickelt werden: Die in der Online-Erhebung identifizierten Themen Rollenklarheit, Beteiligung, Kommunikation und Dienstleistungen erwiesen sich auch in den Workshops als virulente Fragen, stellen sich aber für jedes Arbeitsfeld anders und bedürfen spezifischer Klärungen mit den jeweiligen Akteuren.
- Es braucht neue Formen der Themen-Identifizierung und Bearbeitung und eine bessere Rückbindung an die Praxis: In allen Arbeitsfeldern wurde Letzteres angemahnt. Gelungene Beispiele verbandlicher Zusammenarbeit zeichneten sich nach Erfahrung der Expert(inn)en stets durch eine projekthafte Bearbeitung von Themen aus, bei denen die Kooperation auf einem gleichrangigen, von Fachkompetenz und Ressourcen getragenen Verständnis basiert.
- Es braucht eine Stärkung der Länderebene sowie eine Überarbeitung der verbandlichen Konferenzstrukturen (wie zum Beispiel Bundesfachkonferenzen oder BundLänder-Netzwerke).
Übertragen eines Arbeitsfeldes sorgfältig abwägen
Das Projekt "Verbandlich handeln" startete unter anderem mit der Idee, dass eine Neujustierung der Zusammenarbeit auf Bundesebene die Erschließung von Kompetenzen im Gesamtverband und Einsparungen in der Zentrale ermöglichen kann, genauer gesagt: Dass ein Fachverband oder ein Diözesan-Caritasverband einen bestimmten Aufgabenbereich "für den Gesamtverband" übernimmt. Im Mai 2020 trafen sich der Vorstand des DCV mit Vertreter(inne)n des Verbandes Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP), der Geschäftsstelle des CBP sowie des Fachreferats aus der Zentrale und des Berliner Büros zu einer virtuellen Denkwerkstatt "Szenarien für die Aufgabenverteilung im DCV entwickeln am Beispiel des Arbeitsfeldes Behindertenhilfe und Psychiatrie".
Deutlich wurde, dass die Übertragung auch nur eines Teil-Arbeitsfeldes an einen Einrichtungsfachverband Abwägungen und verbandlicher Abstimmungen bedarf, weil Bundesverband und Fachverband in ganz unterschiedlichen Bedingungsgefügen agieren: Einrichtungsfachverbände im DCV vertreten ein bestimmtes Handlungsfeld sozialer Arbeit; sie verfügen über einen unmittelbaren Zugang zu den Einrichtungen und Diensten in diesem Feld (Mitglieder). Die Fokussierung ermöglicht ihnen eine sehr akzentuierte politische Positionierung und eine Koalitionsbildung mit anderen Fachverbänden außerhalb der Caritas. Geschäftsführende und Vorstände sind zuallererst den Mitgliedern verpflichtet, die ein wirksames Eintreten für ihre Interessen erwarten und gegebenenfalls auch ihre Mitgliedschaft daran knüpfen.
Die Bundesebene des DCV mit dem Berliner Büro dagegen agiert in einem Gefüge unterschiedlicher Fachfelder und Akteure.
Der DCV muss nach außen konsistente Positionen vertreten, teils konträre Interessen im Gesamtverband ausbalancieren und diese koordinieren. Je nach Fragestellung stimmt er sich mit anderen Wohlfahrtsverbänden in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) ab. Gliederungen und Mitglieder können ihre Mitgliedschaft beim DCV nicht an die Vertretung spezifischer Positionen knüpfen. Das Ziel maximaler Wirksamkeit politischer Positionierung definiert sich demnach für beide Akteure anhand unterschiedlicher Rechenschaftspflichten und Handlungslogiken. Deutlich wurde außerdem, dass in jedem Handlungsfeld eine Vielzahl weiterer Fachverbände der Caritas vertreten ist, so dass nie an die gesamte "Behindertenhilfe", sondern allenfalls an eine Übertragung von Teil-Arbeitsfeldern zu denken ist.
Übertragen von Aufgaben erfordert Akzeptanz
Fazit der Denkwerkstatt: Eine mögliche Übertragung von (Teil-)Arbeitsfeldern bedarf als Grundvoraussetzung dreifacher Akzeptanz: Akzeptanz der betroffenen Fachverbände der Caritas, die ein Arbeitsfeld gestalten; Akzeptanz der Mitglieder des Fachverbandes, der künftig im Handlungsfeld eine koordinierende Rolle und auch Interessen außerhalb seiner Mitglieder mittragen müsste sowie Akzeptanz im Außenverhältnis (wie Politik oder BAGFW).
Geklärt werden müsste weiterhin, wer im Außenverhältnis die Repräsentationskompetenz für das Arbeitsfeld wahrnimmt - der Vorstand des Fachverbandes und/oder der Vorstand beziehungsweise der Präsident des DCV? Und schließlich braucht es Mechanismen für Konflikte und einen Ort, an dem die Aufgabenerfüllung reflektiert werden kann.
Auf der Basis der Denkwerkstatt erarbeitete die Steuerungsgruppe eine "Checkliste zur Verortung eines Handlungsfeldes zwischen DCV-Zentrale und DCV-Gliederung oder DCV-Mitglied". Sie kann als Arbeitsgrundlage für Klärungsprozesse mit Fachverbänden und auch Diözesan-Caritasverbänden dienen und bot auch in der Denkwerkstatt mit den Personalfachverbänden IN VIA Katholischer Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit, Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) und SKM - Katholischer Verband für soziale Dienste wichtige Strukturierungen. Denn diese Fachverbände vertreten bereits seit Jahren für den DCV die Felder rechtliche Betreuung oder Jugendsozialarbeit in Form sogenannter Fachstellen.
Die Arbeit geht weiter
Nicht alle beim Start vorgesehenen Ziele hat "Verbandlich handeln" erreicht - vor allem, weil die Zielperspektive sich im Laufe des Prozesses veränderte. Beispielsweise wurden keine Vereinbarungen mit einewm Fachverband zu einer Neuverteilung von Aufgaben getroffen. Die Denkwerkstatt hat die Komplexität dieser Aufgabenstellung deutlich herausgearbeitet. Sie reicht über den Projektzeitraum hinaus und liegt nun in der Verantwortung der Vorstände von DCV und (interessierten) Fachverbänden beziehungsweise Diözesan-Caritasverbänden. Modifiziert wurde auch die Vorstellung, beide Prozesse - Verband und Zentrale - verliefen parallel, aufeinander bezogen, mit punktuellen Schnittmengen. Der DCV mit seiner Zentrale musste sich jedoch ab 2019 auf seine Einsparnotwendigkeiten konzentrieren. Der Verbandsprozess dagegen fokussierte weiterhin das Thema Zusammenarbeit im Gesamtverband. Beide Prozesse hatten ihre je eigenen Zielperspektiven und unterschiedliche Geschwindigkeiten. Erst zum Ende hin werden wieder Synergien erkenn- und nutzbar: Zum Beispiel sieht die neue Organisationsstruktur der Zentrale Themennetzwerke als neue Orte fachübergreifender Arbeit und verbandlicher Beteiligung vor. Vergleichbare Arbeitsformen empfehlen auch die Expert(inn)en der Workshops.
Das Projekt endet im Dezember - doch der Themenkomplex verbandliche Zusammenarbeit ist damit nicht abschließend bearbeitet. Entscheidend für die Nachhaltigkeit und Wirksamkeit des Beteiligungsprojektes wird sein, dass dessen Einsichten, Ableitungen und Empfehlungen Beachtung und Eingang in neue verbandliche Strukturen und Arbeitsweisen finden. Das befristete Projekt ist als Basis für eine Weiterentwicklung der "verbandlichen Zusammenarbeit" zu sehen. Die Verantwortung dafür liegt beim Vorstand des DCV. Dieser muss mit seinem "Arbeitsinstrument" zur Verbandsleitung, der Zentrale, Initiativen ermöglichen, Gelegenheiten schaffen und Prozesse koordinieren, damit die Fachkräfte unterschiedlicher verbandlicher Gruppierungen in konkreten Projekten gemeinsam ihre Ressourcen zur Verfügung stellen können. Eine derart gestaltete verbandliche Zusammenarbeit einerseits einzufordern und andererseits zu ermöglichen - dafür sind auch die Gliederungen und Mitglieder angefragt. Neben klaren Strukturen zur Verbandsleitung bedarf es einer Caritas-Kultur, auch als Netzwerk zu handeln, Neues zu erproben und - falls es sich nicht bewährt - wieder zu verwerfen. Der interne und externe Handlungsdruck und die Möglichkeiten der Digitalisierung werden diesen Wandel beschleunigen.
Anmerkungen
1. Die Bundesdirektorenkonferenz, der Konferenz der Vorstände und Geschäftsführungen der örtlichen Ebene und der Konferenz der Fachverbände entsandten aus ihren Reihen jeweils zwei Personen in eine Steuerungsgruppe, dazu benannte der Vorstand zwei Abteilungsleitungen aus der Verbandszentrale des DCV.
2. Vgl. dazu Weinberg, U.: Network Thinking. Hamburg: Murmann, 2020.
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