Die Kultur zu ändern ist die wahre Herausforderung
Im Jahr 2017 beschloss der Vorstand des Deutschen Caritasverbandes (DCV) einen strukturierten Prozess zur Organisationsentwicklung (OE). Denn drei Veränderungswünsche beziehungsweise -notwendigkeiten kristallisierten sich 2017 in der Zentrale des DCV heraus:
1. Die bisherige Form der strategischen Zielplanung des Vorstandes für den DCV war nicht mehr zufriedenstellend. Langfristige Zielformulierungen mit differenzierten Maßnahmenkatalogen erschienen in Zeiten schneller Veränderungen nicht mehr praktikabel. Außerdem sollte der neue Strategieprozess mehr Partizipation der Gliederungen und Mitglieder ermöglichen und auch die Fachbereiche in der DCV-Zentrale stärker beteiligen.
2. Die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Organisationseinheiten in der Zentrale und mit Akteuren im Verband sollte überprüft und gegebenenfalls optimiert werden. Das Jahr 2015 mit seinen hohen Flüchtlingszahlen hatte gezeigt, dass hier zum Beispiel die Koordination in der Zentrale und mit dem Verband verbessert werden musste. Hinzu kam der Wunsch, die Organisation agiler zu gestalten, um schneller und wirksamer auf sich verändernde Bedarfe reagieren zu können. Weitere Stichworte waren Selbstorganisation, Team-Lernen und Vernetzung, die unter anderem durch die Recherchen und Gedanken von Frederic Laloux1 inspiriert waren.
3. Eine sich schnell vergrößernde finanzielle Deckungslücke war letztlich der entscheidende Anstoß für den Prozess. Die Ausgaben, insbesondere durch Personalkosten-Steigerungen, haben sich kontinuierlich erhöht, bei gleichzeitig sinkenden Erträgen.
Es war klar, dass diese Veränderungsdynamiken nicht in drei separaten Prozessen angegangen werden konnten, sondern vernetzt gedacht und bearbeitet werden sollten.
OE-Prozess bekommt Struktur
Der Vorstand benannte eine interne Projektleitung und beauftragte eine externe Unternehmensberatungsfirma mit der Entwicklung der Struktur und der Moderation des Prozesses. Direkt eingebunden war und ist der Vorstand als Entscheidungsgremium; gebildet wurde außerdem ein OE-Beirat, bestehend aus den Abteilungs- und Stabsstellenleitungen. In mehreren Arbeitsgruppen wurden auch Mitarbeitende der Zentrale in den Prozess eingebunden. Sie erarbeiteten mit außerordentlich großem Engagement beispielsweise Vorschläge, wie sich die Arbeit in der Zentrale neu strukturieren ließe. Diese Ergebnisse wurden dem Vorstand und dem Beirat präsentiert und flossen in die weiteren Überlegungen ein. Dabei wurde deutlich, wie notwendig ein gemeinsames Bild der künftigen Arbeit des DCV und seiner Zentrale ist, wenn agil und selbstgesteuert gearbeitet werden soll.
Früh zeigte sich, dass Veränderungen in der DCVZentrale Auswirkungen auf den Gesamtverband haben. Deshalb initiierte der Vorstand parallel zum OE-Prozess der Zentrale das Projekt "Verbandlich handeln" (vgl. S. 26 ff. Beitrag von Ulrike Wössner). Beide Prozesse wurden über die Projektleitungen und die regelmäßigen Berichte an den Vorstand miteinander verbunden.
Dynamisierung Mitte 2019
Im Sommer 2019 wurde klar, dass die finanzielle Entwicklung schneller wirksame Maßnahmen erforderte, um die notwendige Reduktion der Eigenmittel zu schaffen. Im Juni 2019 beschloss der Vorstand daher, keine betriebsbedingten Kündigungen auszusprechen, aber grundsätzlich alle befristeten Arbeitsverhältnisse in der Zentrale nicht zu verlängern. Mit den ersten AbschiedsE-Mails von Kolleg(inn)en bekamen die Sparvorgaben plötzlich Gesichter. Frei werdende Stellen konnten nur nach Freigabe im Vorstand wiederbesetzt werden. Alle Organisationseinheiten erhielten Vorgaben, wie viele Eigenmittel ihnen künftig zur Verfügung stehen und wie viel Einsparung sie realisieren müssen. Die Leitungsverantwortlichen wurden aufgefordert, Priorisierungen in ihren Bereichen vorzuschlagen und deren finanzielle Wirkungen zu beziffern. So entstand eine Liste mit konkreten Maßnahmen zur Eigenmittelreduktion, die erhebliche Auswirkungen auf das künftige Leistungsspektrum der Zentrale des DCV hat.
Eine neue Organisationsstruktur
Außerdem erarbeitete der Vorstand einen Vorschlag für eine neue Organisationsstruktur, die mit den Führungskräften diskutiert, weiterentwickelt und zum 1. Juli 2020 umgesetzt wurde.2 Für die grafische Darstellung wurde ein Kreis anstelle der sonst üblichen Säulen gewählt, um die Zusammenarbeit von Akteur(inn)en aus unterschiedlichen Bereichen zu betonen. Der "Open Space" in der Mitte (mit dem Caritas-Logo) symbolisiert die Offenheit für (neue Formen der) Zusammenarbeit: In sogenannten Themennetzwerken sollen Akteurinnen und Akteure aus dem Verband und Mitarbeitende der Zentrale zeitlich befristet und selbstorganisiert an konkreten Aufgabenstellungen zusammenwirken. Auch die Zusammenarbeit in aufgabenbezogenen internen Arbeitsgruppen der Zentrale soll bereichsübergreifend forciert werden. Zurzeit wird an einem Prozess der Ziel- und Themenfindung (Agenda-Setting) gearbeitet, der verbandliche Akteure mit einbezieht und dem Bedarf in einer sich schnell verändernden Welt besser gerecht werden soll. Dies wird den bisherigen Strategieprozess ersetzen.
Erkenntnisse und offene Fragen
Der OE-Prozess der DCV-Zentrale, verbunden mit dem Prozess "Verbandlich handeln", war und ist komplex. Es wurden Erkenntnisse generiert, die auch für vergleichbare Prozesse in anderen Verbänden, Sozialunternehmen und bei weiteren Akteuren der sozialen Arbeit relevant sein können. Eine Auswahl:
Das Pferd von vorne aufzäumen - aber wo ist vorn?
Alle Beteiligten sind mit viel Energie, etwas Neues zu gestalten, in den Veränderungsprozess gestartet. Ganz klassisch ging es darum, zunächst ein Bild der Zukunft (Vision) zu gestalten, dem die Struktur und die Prozesse dienen. Obwohl die Dimension der Finanzlücke von Anfang an klar war, schien es möglich, die Sparnotwendigkeiten in diesem Prozess mitzudenken und durch Synergien zu realisieren. Doch spätestens ab Frühjahr 2019 wurden konkrete Einsparungen unaufschiebbar, um das Defizit in absehbarer Zeit auszugleichen. Die Fragen nach den Arbeitsformen, der Zusammenarbeit und ein Zukunftsbild der Zentrale mussten nun hintangestellt werden, denn jetzt ging es vorrangig darum, wie viele und welche Stellen einzusparen seien. Die Aufgaben, Zukunftsvisionen zu entwickeln und dabei gleichzeitig feste Einsparvorgaben umzusetzen, erwiesen sich rückblickend als miteinander unvereinbar.
itarbeiter(innen) in den OE-Arbeitsgruppen überforderte: Die eigene Aufgabe oder die von Kolleg(inn)en als zukünftig nicht mehr relevant zu bewerten war ihnen nicht möglich. Vermutlich muss an dieser Stelle die Partizipation enden, um die engagierten Mitarbeitenden in den Arbeitsgruppen zu schützen. Die Entscheidung, Aufgaben ruhen zu lassen, liegt in der Verantwortung der Führungskräfte. Sie müssen diese Entscheidung vor dem Hintergrund strategischer Überlegungen treffen und gegenüber allen Beteiligten kommunizieren und erklären.
Die beste Medizin gegen Gerüchte: Information
OE-Prozesse erzeugen in Organisationen große Unsicherheit. Für die Beteiligten ist es schwer auszuhalten, dass in solchen Prozessen auch die Führungskräfte nicht den Masterplan in der Tasche haben und immer wieder neu den passenden Weg suchen müssen. Von zentraler Bedeutung sind deshalb regelmäßige Informationen über aktuelle Schritte.
Diese transparente Kommunikation bedeutet auch, aktuelle Denkansätze zu kommunizieren, die sich aber im Verlauf des Prozesses wieder verändern können. In unsicheren Situationen ist der Wunsch nach einfachen und verlässlichen Aussagen besonders groß - und oft nicht zu erfüllen.
Chancen und Grenzen externer Beratung
Zum Standard großer Entwicklungsprozesse gehört es, sich von externen Fachleuten beraten zu lassen. Diese Berater(innen) können aus ihrer Erfahrung und mit ihrer Distanz wichtige Impulse geben. Ihre Aufgabe ist es auch, die Organisation vor einer Überforderung zu warnen, denn Organisationen neigen dazu, in Entwicklungsprozessen zu viele Veränderungsprojekte gleichzeitig anzufangen. Hinzu kommt die hohe Komplexität von Organisationen (insbesondere von Verbänden).
Im OE-Prozess des DCV zeigte sich allerdings, dass die große Verflechtung unterschiedlicher Akteure für externe Berater(innen) kaum durchschaubar ist - hier ist ein Gutteil interner Expertise durch externe Beratung nicht zu ersetzen.
Struktur und Kultur - ein ungleiches Paar
Strategische Organisationsentwicklung ist ein langfristiger Prozess. Eine Struktur zu verändern geht schnell, bei der Verbands- oder Unternehmenskultur dauert das erheblich länger. Manche behaupten sogar, eine echte Kulturveränderung dauere sieben Jahre - so lange, wie unsere Haut braucht, um sich einmal vollständig zu erneuern. Doch die kulturelle Transformation ist die Voraussetzung für wirkliche Veränderung. Wenn es im Unternehmen eine kooperative und wertschätzende Kultur gibt, können Menschen auch in nicht optimalen Strukturen gut miteinander arbeiten. Eine gut durchdachte Struktur ohne die entsprechende Kultur dagegen wird immer scheitern.
Kulturveränderung entsteht dadurch, dass Menschen aus Überzeugung etwas anders tun als bisher. Strukturen können lediglich die Bedingungen für die Möglichkeit schaffen, dass sich eine Kultur in Richtung Kooperation entwickelt.
Der OE-Prozess in der Zentrale des DCV war ein langer und mühevoller Prozess, der als Projekt nun im Herbst 2020 zu Ende geht. Die geplanten Maßnahmen voranzutreiben bleibt die Herausforderung. Entscheidend wird es sein, miteinander im Gespräch zu bleiben, wie unter sich verändernden, auch finanziellen, Bedingungen vertrauensvolle und effektive Zusammenarbeit (weiter) möglich ist.
Anmerkung
1. Laloux, F.: Reinventing Organisations. Ein Leitfaden zur Erarbeitung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München: Vahlen, 2015.
2. Vgl. das neue Organigramm der DCV-Zentrale unter: https://bit.ly/3nuLKyq (rechts in der Randspalte).
Das Lob überwiegt
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Statement
Der Start hat relativ gut funktioniert
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