Eine Tür kann man schließen und öffnen
Was kann die Caritas zum Erneuerungsprozess der Kirche beitragen?" Der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick verband in seiner Predigt im Eröffnungsgottesdienst zur Delegiertenversammlung des Deutschen Caritasverbandes im Jahr 2019 den Gedenktag der Ordensfrau und Kirchenlehrerin Teresa von Avila mit den aktuellen Herausforderungen des Synodalen Weges. Das Datum, der 15. Oktober, legte es nahe. Aber auch Teresa selbst. Denn sie war eine starke Frau. In der schwierigen Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit leitete sie Prozesse der institutionellen und persönlichen Erneuerung ein. Hören auf Gottes Wort, das freie Gebet, dem Nächsten helfen nach dem Vorbild Jesu - Eckpfeiler ihrer Reformen führte Erzbischof Schick in dem Rat zusammen: "Frommer werden!"
Nun ist die Sorge um die christliche Identität der Caritas nicht neu unter kirchlichen Amtsträgern. Dennoch: Die Tür nach innen, das "Frommerwerden", kann als Suche nach Gott dem Glauben in der Gesellschaft Gestalt geben. Der tschechische Soziologe und Pfarrer Tomáš Halík schrieb gerade erst unter dem Eindruck der Corona-Krise, vielleicht könnte die Wiederentdeckung der Kontemplation die "synodalen Wege" zu einem neuen Reformkonzil ergänzen.1
In dem beachtenswerten Aufsatz zum "Christentum in Zeiten der Krankheit" erinnert Halík aber auch an bekannte Worte von Papst Franziskus, die der Kirche eine Tür nach draußen öffnen wollen, den Weg in die Welt: "Heute klopft Christus aus dem Inneren der Kirche an und will hinausgehen", wird Franziskus zitiert. Ebenso führt Halík das berühmte Bild von der Kirche als "Feldlazarett" an und ergänzt: Damit meine der Papst, die Kirche solle sich nicht in der bequemen "splendid isolation" von der Welt absondern, sondern über ihre Grenzen hinausgehen und denen helfen, die physisch, psychisch, sozial und geistlich verwundet werden: "Dadurch kann sie auch dafür Buße tun, dass ihre Repräsentanten noch bis vor kurzem Verletzungen von Menschen zuließen, sogar der wehrlosesten."2 Angesichts des Missbrauchsskandals sowie der Nöte der Opfer scheint mir das eine noch zu euphemistische Formulierung.
Für die verbandliche wie für die gemeindliche Caritas ist die Tür nach draußen von jeher Auftrag und Alltag. Dabei kann sie selbstbewusst aus einer diakonischen Tradition schöpfen, die bis in die Ursprünge christlicher Gemeindebildung reicht. Der Weg aus der "splendid isolation" binnenkirchlicher Bequemlichkeiten führt seit jeher in die Sorge um die in Not geratenen Menschen und - nach Möglichkeit mit ihnen gemeinsam - in die Sorgen der Zeit.
Wie notwendig das ist, machte jüngst erst das Verfahren des Bundesverfassungsgerichtes zur assistierten Sterbehilfe deutlich. Kein Theologe war zur mündlichen Anhörung geladen, monierte der Palliativmediziner Winfried Hardinghaus.3 Für die langfristig vorliegenden kirchlichen Stellungnahmen sei in der Verhandlung "kein Raum" gewesen, bestätigt Katharina Jestaedt, bis Ende Mai Vizechefin des Katholischen Büros in Berlin.4
Wer hört der Kirche eigentlich noch zu? Welche Relevanz hat sie? Eine Langzeitstudie des österreichischen Pastoraltheologen Paul Zulehner wies jetzt nach, was im Grunde alle wissen: Die katholische Kirche ist für immer weniger Frauen relevant. Gerade junge Frauen irritiere der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Anspruch auf Gleichberechtigung und der als diskriminierend empfundenen Haltung der Kirche gegenüber Frauen.5
Welche Relevanz hat die Kirche?
Für die verbandliche Caritas mit einem Anteil von Frauen unter den Mitarbeiter(inne)n von 82 Prozent zeigt sich hier eine echte Hypothek. Die exklusive Dominanz der zölibatären Männer, ein Rechtssystem ohne Gewaltenteilung sowie eine Sexual-, Ehe- und Familienpastoral - häufig ohne Einbeziehung humanwissenschaftlicher Erkenntnisse - haben sich dem Rechts- und Lebensverständnis nicht nur der Frauen entfremdet.
Unter dem Leitwort "Caritas zeigt Gesicht" hat der Osnabrücker Diözesan-Caritasverband unterstützt durch das Bistum vor zwei Jahren eine Imagekampagne gestartet. Mitarbeiter(innen) hielten im wahrsten Sinn des Wortes auf großformatigen Plakaten "den Kopf hin". Caritasdirektor Franz Loth begründete die Kampagne mit den Worten: "Wir stehen als christlicher Verband mitten im Leben. Unser Auftrag ist die Nächstenliebe, die Botschaft Jesu. Damit muss sich jeder, der bei uns arbeitet, identifizieren. Die meisten unserer Mitarbeitenden sind Christen, die meisten davon Katholiken. Und wir haben auch Muslime, Juden, Konfessionslose in unseren Reihen. Genauso, wie wir Verheiratete, Ledige oder Geschiedene einstellen. Und auch Frauen und Männer, die ein zweites Mal geheiratet haben."6
Der Alltag der Caritas ist offener
Das ist ehrlich. Das ist heute schon in vielen caritativen Einrichtungen der Kirche wie in den großen Kliniken und insbesondere im Norden und Osten Deutschlands Realität. Der Alltag der Caritas ist offener und in dieser gegenseitigen Annahme der Menschen guten Willens christlicher als die seltenen Konflikte zur persönlichen Lebensführung, die bis in höchste Instanzen ausgefochten werden.
Die Kirchen kämpfen um ihr von der Verfassung zugestandenes Selbstbestimmungsrecht. Anpassungen der Regelungen der Grundordnung von 2015 nahmen in Teilen die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs vorweg. Reicht das? Die Auseinandersetzungen um den Sonderweg des kirchlichen Arbeitsrechts sind nicht nur eine Frage der selbstbestimmten christlichen Identität, sondern angesichts der Größe und Systemrelevanz des christlichen Arbeitsmarkts auch eine Machtfrage. Müssen wir uns nicht fragen: Wer als Arbeitgeber Pflichtaufgaben des Staates für alle ausführt, umfänglich finanziert aus Steuergeldern und Sozialversicherungsmitteln, sollte der nicht auch den Mut (oder die Demut) haben, arbeits- und verwaltungsrechtlich aus dem Sonderweg der "splendid isolation" herauszutreten und Tarifverträge, Gewerkschaften und die damit verbundenen Formen des Arbeitskampfes zu akzeptieren? Auch um breite gesellschaftliche Bündnisse zu schmieden - etwa zum Wohl der "Heldinnen des Alltags", auch nach der Corona-Krise.
Die Menschen brauchen eine diakonische Kirche und eine starke Caritas
Kritische Reaktionen erfuhr die genannte Imagekampagne durch ein "Zwillingsmotiv". Eine Mitarbeiterin erklärte: "Ich gehe zur Arbeit und nicht in die Kirche." Ein weiterer Mitarbeiter sagte: "Ich gehe zur Arbeit und in die Kirche." Deutlich wurde aus den Reaktionen, wie schwer sich immer noch viele Christgläubige mit der Freiheit des Menschen tun, sich nicht zu bestimmten Vollzügen des Glaubens oder zum Glauben selbst zu bekennen. Dem im Dezember 2019 verstorbenen Theologen Johann Baptist Metz entfuhr vor einigen Jahren in einer "Wortmeldung zur Religionsfreiheit" der Satz: "Müssen denn jetzt sogar Theologen erst darauf aufmerksam machen, dass das Grundrecht der Religionsfreiheit rechtsgeschichtlich-politisch nicht zuerst und schon gar nicht ausschließlich von der positiven Religionsfreiheit, also von der Freiheit für Religion ausgeht, sondern auch und gerade von der negativen Religionsfreiheit, also von der Möglichkeit der Freiheit von beziehungsweise gegenüber Religion?"7
Einladung zum Dialog und zur Zusammenarbeit
Zeit für eine Erinnerung an die Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Bekannt ist das Intro der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes": "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi."8 Weniger bekannt ist der an gleicher Stelle formulierte Auftrag des Konzils, "dass alle Menschen, Glaubende und Nichtglaubende, zum richtigen Aufbau der Welt, in der sie gemeinsam leben, zusammenarbeiten müssen" und das "in einem klugen und aufrichtigen Dialog".9 Ein Beispiel gab Papst Franziskus, der das nachsynodale Schreiben zur Amazonas-Synode entgegen päpstlichen Gepflogenheiten nicht nur an das Volk Gottes, sondern auch an "alle Menschen guten Willens" richtete.10 Eine öffentlich wenig beachtete Einladung zum Dialog und zur Zusammenarbeit in einer polykulturellen Welt. Das ist der Weg, in einer säkularen Welt unter den Menschen zu sein, Freude und Trauer zu teilen: "Gottesrede mit dem Gesicht zur Welt!" nannte das Johann Baptist Metz.11
Was kann die Caritas zum Erneuerungsprozess der Kirche beitragen?" - Ein Beispiel gab Hannes Kramer, ein Mann der Caritas, schon vor und während des Zweiten Vatikanischen Konzils. Vom späteren Caritas-Präsidenten Georg Hüssler aus Bayern zur Caritas nach Freiburg gerufen, wurde er zu einem bedeutenden Wegbereiter für die Wiedereinführung des Ständigen Diakonats. Kramers enge Verbindungen zu Karl Rahner, dem Spiritus Rector der Diakonatsbewegung, und zu Georg Hüssler wurden im Laufe der Jahre zum Drehund Angelpunkt der Wiedereinführung.12 Papst Franziskus nennt den Diakon heute "das Gesicht der Kirche im Alltag der Menschen"!13 Ein Wort, das man - auch um jeder Klerikalisierung vorzubeugen - getrost für die gesamte verbandliche wie ehrenamtliche Caritas in Anspruch nehmen kann.
"Was kann die Caritas also zum Erneuerungsprozess der Kirche beitragen?" Zunächst eine Änderung der Blickrichtung nach draußen. Die Menschen brauchen eine diakonische Kirche und eine starke Caritas, der sie vertrauen können. Entspräche es nicht dem Kairos unserer Zeit, wenn die Caritas sich mehr noch als bisher für die Stellung der Frau in Kirche und Gesellschaft einsetzte? Auf allen Ebenen, auch in den Ämtern, dort an erster Stelle beim Ständigen Diakonat. Aus Rom hieß es dazu: "Diese Tür ist geschlossen."14 Aber eine Tür ist eben eine Tür! Man kann sie schließen und man kann sie öffnen.
Anmerkungen
1. Halík, T.: Christentum in Zeiten der Krankheit. http:// www.theologie-und-kirche.de/halik-theologie-pandemie.pdf
2. Ebd.
3. Hardinghaus, W.: Suizid könnte zum Normalfall werden. Interview im Kirchenboten des Bistums Osnabrück vom 4. März 2020, www.kirchenbote.de/palliativverband-warntvor-suizid-als-normalfall
4. Katharina Jestaedt, Stv. Leiterin des Katholischen Büros in Berlin, im Gespräch mit dem Autor. Siehe auch: Ökumenische Stellungnahmen zu vier Gesetzentwürfen betreffend die Hilfe zur Selbsttötung. Berlin 9/2015, www.kath-buero.de/files/Kath_ theme/Stellungnahmen/2015/2015-09-11_Stellungnahme%20 Suizidhilfe_endg.pdf
5. Zulehner, P. M.: Wandlung. Religionen und Kirchen inmitten kultureller Transformation. Ergebnisse der Studie Religion im Leben der Österreicher*innen 1970-2020. Ostfildern, 2020. Ders.: Interview mit der österreichischen Nachrichtenagentur kathpress. Wien, 21. März 2020, zitiert nach: www.katholisch. de/artikel/24922-studie-katholische-kirche-fuer-immer-weniger-junge-frauen-relevant
6. Loth, F. in: Caritas zeigt Gesicht und räumt mit Klischees auf. Präsentation der Imagekampagne, 3. September 2018, www.caritas-os.de/karriere/kampagne
7. Metz, J. B.: Profilängste im Christentum? Eine Wortmeldung zur Religionsfreiheit. In: ders.: Mystik der offenen Augen. Freiburg: Herder Verlag, 2011, S. 39-44.
8. Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" (GS 1).
9. Ebd. (GS 21).
10. Nachsynodales Apostolisches Schreiben Querida Amazonia von Papst Franziskus an das Volk Gottes und an alle Menschen guten Willens. http://w2.vatican.va/content/francesco/de/ apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20200202_querida-amazonia.html
11. Metz, J. B.: Angesichts erloschener Antlitze. In: ders.: Mystik der offenen Augen. Freiburg: Herder Verlag, 2011, S. 85-89. Ders.: Mit dem Gesicht zur Welt. Gesammelte Schriften, Bd. 1. Freiburg: Herder Verlag, 1. Aufl. 2015.
12. Eine wissenschaftliche Studie beschreibt die Rolle der verbandlichen Caritas als "Nährboden" der Wiedereinführung des Diakonats in der vorkonziliaren Zeit: Sander, S.: Gott begegnet im Anderen. Der Diakon und die Einheit des sakramentalen Amtes. Freiburger theologische Studien, Bd.170, Freiburg, 2006, S. 185 ff.
13. Ansprache von Papst Franziskus beim Empfang des Internationalen Diakonatszentrums (IDZ) aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums des IDZ. http://diaconia-idz.org/blog/news/diakone-sind-das-gesicht-der-kirche-im-alltag.html. Vgl. SANDER, S.: Die Marginalisierten. Sorgenvolle Bestandsaufnahme des Diakonats in Deutschland und der Welt. In: Herder Korrespondenz, Heft 7/20, Freiburg, 2020.
14. Papst Franziskus bei der Pressekonferenz am 28. Juli 2013 auf dem Rückflug aus Brasilien. Zitiert nach: Lauscher, G.: Die Diakonin - für viele war sie ein Beistand. Zur Diskussion um den Frauendiakonat. In: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Hildesheim, Köln und Osnabrück. 3/2020, S. 91.
Dienende Macht
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Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist da
Rassismus unvereinbar mit Caritas
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