Eine Frage der Gerechtigkeit
Zur Fragestellung "Führung, Macht, Kirche und Frauen" wurde bereits einiges gesagt und publiziert. Dieser Beitrag soll daher nicht erneut alles bisher Bekannte wiederholen und damit das Lamento fortsetzen. Vielmehr möchte er zu dieser Thematik mit Blick auf die Caritas und ihre Strukturen einige Impulse geben.
Wir haben weder in der Kirche noch in der Caritas einen Mangel an Wissen. Wir in der Caritas haben auch einen Konsens, was unser Ziel anbelangt: Es findet niemand hinnehmbar, dass 20 Prozent männlicher Beschäftigter in der Caritas zu 80 Prozent in der Führung repräsentiert sind.
Wir haben Satzungen, Ordnungen, Strukturen erarbeitet, die eine grundlegende Veränderung ermöglichen. Selbstverständlich halten wir Gleichstellung für eine erforderliche Konsequenz von Gleichberechtigung ohne Gleichmacherei. Und: Gerade wir in der Caritas wissen, dass Privilegierte jede Gleichstellung als Benachteiligung empfinden.
Ich verlange keine Bevorzugung meines Geschlechts. Alles, was ich von unseren Brüdern fordere, ist, dass sie ihre Füße von unserem Nacken nehmen", so zitierte Ruth Bader Ginsburg, Richterin am Supreme Court, die amerikanische Feministin Sarah Grimké aus dem 19. Jahrhundert.1
Wir haben formal keine Füße mehr im Nacken. Dennoch geht es nicht wirklich voran. Daran kranken Frauen wie Männer in der Caritas.
Der Kern des Problems ist unser Machtverständnis
Ich vermute, dass der Kern, wie in der Kirche, tiefer liegt und unser Führungs- und Machtverständnis betrifft. Welche Führungspositionen und -personen haben wir und welche benötigen wir? Ich meine, hier geht es um Reflexion und Veränderung.
Ich frage mich beispielsweise:
- Verstehen wir Leitungsverantwortung als Vertrauen und Zutrauen in andere, was auch bedeutet, zu akzeptieren und neugierig zu sein, dass und wie andere es anders machen?
- Bedeutet Macht, Macht zu haben und behalten zu wollen und damit unbeweglich zu werden oder zu er-mächtigen und sich immer wieder zu hinterfragen?
- Meint Spitzenposition, im Rampenlicht zu stehen, oder zurücktreten zu können und andere ins bessere Licht zu setzen?
- Bringt mich der Dienst in eine herausgehobene Stellung oder stelle ich mich in den Dienst aller?
In die Zeit des Nachdenkens über unsere Situation in Kirche und Caritas zu diesen Fragen fiel das Osterfest. In diesem Jahr hatte ich die Gelegenheit, an der Liturgie der Abtei Chevetogne teilzunehmen, da diese wegen der Corona-Pandemie per Audio übermittelt wurde.
Chevetogne ist ein internationales Benediktinerkloster, das sich der Ökumene verpflichtet sieht. Vor 40 Jahren hatte ich dort meine beeindruckendste Osternacht erlebt. Die Liturgie wurde im byzantinischen Ritus gefeiert. Am frühen Abend versammelten sich alle in der dunklen Kirche. Abwechselnd las, wer wollte, in seiner Muttersprache die Apostelgeschichte. Um Mitternacht verließen alle schweigend in tiefer Dunkelheit die Kirche. Wir umkreisten das Gotteshaus und klopften an die Tür. Sie war verschlossen. Wir gingen eine zweite Runde, immer noch verschlossen. Wieder gingen wir schweigend weiter. Erst beim dritten Mal ließ sich die Tür öffnen und der Abt rief in die dunkle Kirche "Christus ist auferstanden". Alle anderen riefen, nein, brüllten zurück: "Er ist wahrhaft auferstanden." Und das nacheinander in vielen Sprachen. Danach umarmten sich alle. So ging es ein Stück in die Kirche und wieder der Ruf "Christus ist auferstanden" und noch lauter die Antwort... Am Altar angekommen, war der Raum von einer überwältigenden Freude erfüllt. Und in dieser Freude, immer wieder mit den Antwortrufen und Umarmungen, feierten wir bis in die frühen Morgenstunden Eucharistie.
Wir haben formal keine Füße im Nacken. Dennoch geht es nicht voran
Diese Freude, die wildfremde Menschen miteinander erlebten und teilten, habe ich nie mehr vergessen. Und etwas anderes auch nicht. Es gab in der Kirche keine Sitzplätze, lediglich am Rand etwas Chorgestühl und den Sitz für den Abt. Aber er hat nur wenig darauf gesessen. Gesessen haben die, die am wenigsten stehen konnten: Ältere, Mütter mit kleinen Kindern, Gebrechliche.
Ich sehe da ein ähnliches Bild: Wir müssen erst raus aus allem Gewohnten; erfahren wir doch zur Genüge, wie leer, wie hohl, wie tot vieles ist.
Aber wir sollten nicht weglaufen. Wir, da sehe ich die Weggemeinschaft lebendiger, frustrierter, trauriger, enttäuschter, verletzter, zorniger, auch müder Menschen. Ja, wir umkreisen unsere Kirche, auch vieles in der Caritas. Wir klopfen an - und stoßen auf verschlossene Türen (auf taube Ohren). Wir gehen weiter - drehen uns gewissermaßen im Kreis - wir kommen wieder an dieselbe Stelle, wir klopfen an. Immer und immer wieder.
Was das mit der Situation von Kirche und Caritas zu tun hat
Einmal wird sich die Tür öffnen lassen. Christus ist auferstanden, das ist mein fester Glaube. Wenn dem so ist, dann wird das auch wieder erfahrbar: Er ist wahrhaft auferstanden. Und dann wird Freude sein, alle werden gleichwertig, gleichberechtigt, gleichgestellt sein. Paulus sagt: Jedes Glied des einen Leibes ist zum Leben notwendig.- Wie wir heute sagen, systemrelevant.
Ich weiß nicht, wie oft wir noch kreisen müssen, wie oft wir immer wieder an den gleichen Punkt kommen müssen. Ich hoffe, unsere Kraft reicht. Ich hoffe. Eine unbegründete Hoffnung stirbt, irgendwann. Meine/Unsere Hoffnung ist nicht unbegründet. Christus ist wahrhaft auferstanden von den Toten. Daher sollten wir keinesfalls aufgeben, sondern beharrlich, deutlich und konsequent auftreten.
Anmerkung
1. Das Zitat fiel laut dem Dokumentarfilm "RBG - Ein Leben für die Gerechtigkeit" (2018) in der Gerichtsverhandlung für Sharron Frontiero, weiblicher Leutnant der Luftwaffe, im Supreme Court. Ginsburg machte sich stark für das Recht auf Wohngeld und Krankenversicherung für deren Ehemann. Diese Leistungen standen den Ehefrauen der männlichen Kollegen automatisch zu.
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