Bei jedem Umbruch gibt es Gewinner und Verlierer
Das Thema Digitalisierung ist überall. Gleichzeitig scheinen besonders Institutionen der öffentlichen Hand ratlos zu sein. Wirtschaft und Wissenschaft sind der treibende Motor; die einen machen, die anderen denken. Auch für die Caritas ist Digitalisierung eine große Herausforderung - für die einen eine Chance, für die anderen ein Übel, und für alle meint sie etwas Unterschiedliches. Worüber also sprechen wir bei der "Revolution 4.0", und was bedeutet sie für die Caritas?
Digitalisierung meint zum einen eine Gesamtheit konkreter technologischer Innovationen: Instrumente, um bestimmte Ziele digital und damit verbunden besser, schneller, leichter zu erreichen. Dies kann eine digital-basierte Erneuerung der Verwaltungsabläufe meinen, techni-kbasierte Assistenz in der Pflege oder neue Kommunikationsmedien.
Zum anderen beschreibt Digitalisierung einen gesellschaftlichen Wandel und ist ein Kulturphänomen. Kultur meint hier die Gestaltung von Gemeinwesen, Beziehung und Kommunikation aus bestimmten Geschichts- und Werteverständnissen heraus. Damit einher gehen Schlagworte wie Hybridisierung, Individualisierung, Pluralisierung, Vernetzung, Effizienz.
Diese zwei Lesarten von Digitalisierung stehen im wechselseitigen Verhältnis: Technologien haben Einfluss auf Kultur. Mit veränderten Möglichkeiten verändert sich das menschliche Miteinander, verändern sich Bedürfnisse. Kulturelle Entwicklungen führen gleichermaßen zu einer Nachfrage nach bedürfnisorientierten Innovationen - meist solche, die das Leben auf irgendeine Weise erleichtern oder erweitern wollen - und verstärken sie.
Mit technischem Fortschritt geht Überforderung einher
In zweierlei Hinsicht haben diese Formen von Entwicklungen mit Caritas zu tun: Die erste, die Technologie, ist theoretisch mitgestaltbar. In der Praxis gibt es mannigfaltige Probleme der Gestaltung: Finanzierung, fehlender Innovationsmut und -druck, IT-Fachkräftemangel, Strukturen und Bürokratie im öffentlichen Bereich. Mit der rasenden Geschwindigkeit an Neuerungen, Informations- und Kommunikationsfluss geht Überforderung einher. Die zweite Form, die Kultur, wird als nicht gestaltbar, sondern überbordend erlebt. Während hinter all der Reflexion und Diskussion auch Angst und Ablehnung stecken, "passiert" Kultur und damit "Digitalisierung" vielfach um die Caritas herum. Sie ist eben nicht geplant und birgt eine ganz eigene Dynamik.
Immer wieder wird von Kirche und ihrer Caritas gefordert, Position zu beziehen. Meist bleibt das aus. Dabei sind sie prädestiniert, sich kritisch-ethisch auseinanderzusetzen. Denn wo sich die Frage nach dem christlich dreieinen Gott stellt, stellt sich die Frage nach dem Menschen und seiner Beziehungsfähigkeit. Caritas will den Menschen darin unterstützen, selbstbestimmt und fähig zu werden, Beziehung zu gestalten: mit sich, dem Mitmenschen, der Umwelt und Gott. Wie das letztlich gestaltet wird, obliegt weder Kirche noch Caritas - sondern dem Einzelnen, der sich im Zusammenhang von Umwelt und Kultur entwickelt.
Folgende Unterscheidung ist wichtig: Caritas als Dienst und Caritas als Gemeinschaft. Der Dienst beschreibt ihre Aufgabe: Not sehen und handeln, im Sinne der Befähigung mit den gegebenen Anforderungen und Herausforderungen des kulturellen (inklusive sozialpolitischen und digitalen) Status quo. Die Gemeinschaft beschreibt ihre Struktur. Der Verbandscharakter kann gut mit Charakteristika der Digitalisierung umgehen: Der Verband ist plural, die Institutionen haben je individuelle Merkmale, und dennoch ist er vernetzt. Innerhalb dieses Systems muss eine Meso(Gesamtverband) und Mikro-Kultur (Institution) als gestaltbar erlebt werden. Die christlich orientierte Ausgestaltung von Beziehung muss hier erfüllt sein. Sie darf aber nicht der Zielgruppe im Dienst von Caritas aufoktroyiert werden. Sie wird angeboten. Caritas als zivilgesellschaftliche Akteurin und damit auch Mitgestalterin von Kultur kann durch ihre Organisationskultur Beispiel sein und Ideen liefern, wie Gemeinschaft gut gelebt werden kann. Der moralische Zeigefinger wird nach innen gerichtet. Es ist Zeit, durch die Tat zu Authentizität und damit zu Konkurrenz- und Überzeugungsfähigkeit zu gelangen. Gestaltung gesellschaftlicher Teilhabe beginnt hier. Dazu muss der Begriff der Digitalisierung entmystifiziert werden. Caritas hat sich auf ihre eigenen Ressourcen zu berufen:
Tagtäglich sind Caritas-Mitarbeiter(innen) bei Menschen, die von Ausgrenzung und Armut betroffen sind. Und genau diese Erfahrungen sind notwendiger denn je: Basiserfahrungen, sozialpolitische Problemanalysen der gesamten Verbandslandschaft in Verknüpfung mit der jesuanischen Botschaft verhelfen dazu, die richtigen Fragen zu stellen, Lösungen an der Problemstelle zu suchen und Forderungen an Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zu richten. Auf diese Weise lassen sich digitale Innovationen bewerten, gestalten und sie bestimmen die (Caritas-)Kultur. Entscheidend ist, dass der Antrieb und die Erfahrung solcher Innovationen (oftmals) andere sind als die der reinen Wirtschaft und technologischen Wissenschaft. Für die Caritas lautet das Ziel: von der effizienzgetriebenen Industrie 4.0 über Arbeit 4.0 zur menschendienenden Gemeinschaft 4.0.
Digitalisierung fordert Räume für Identität
Die Vision, Inhalte und Ziele der Caritas müssen im Vordergrund stehen. Caritas darf nicht vor der Digitalisierung stehen bleiben, sondern Caritas muss hier Räume für Identität fordern. Wenn klare und das heißt auch streitbare Profile umgesetzt werden, ergeben sich Fragen der Digitalisierung von selbst. Die explorative Herangehensweise an Digitalisierung - welche Technologien sind möglich und welche Folgen haben sie? - ist nicht Aufgabe von Caritas. Es geht um normative Fragen: Welche Folgen sind wünschenswert, welche zu vermeiden? Gerade bei der Pluralisierung und Individualisierung ethischer Grundsätze muss Caritas standhaft ihre Grundsätze vertreten, sich transparent nach ihnen richten und sie politisch einfordern.
Orientiert an den Funktionen der Caritas stellen sich die immer gleichen Fragen auf der Suche nach Lösungen - gegebenenfalls mit Hilfe digitaler Mittel. Caritas muss als Dienstleisterin den Zielgruppen gerecht werden und dafür Bedarfe für Beratung, Begleitung und Pflege ermitteln. Informationen und Hilfestellungen braucht es für die Träger und Einrichtungen, um wertegemäß in einer vernetzten Welt agieren zu können. Im Zuge dessen ist die Caritas Anwältin für jene Personengruppen, die von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen werden. Jede Revolution kennt Gewinner und Verlierer: Welche Stellschrauben der Digitalisierung sind wo kritisch zu bewerten und wie kann man sie zieloptimierter anpassen? Als Anwältin ist die Caritas gefordert, öffentlich und klar Aufklärung und Lobbyarbeit zu leisten. Auch als Solidaritätsstifterin ist sie auf die Öffentlichkeit angewiesen: gemeinsam diskutieren über Werte und Entwicklungen, vor allem aber gemeinsam gestalten und gute Beispiele geben. Eine menschendienliche Umsetzung digitaler Innovationen geht nur mit klarer Zielsetzung und in Kooperation.
Aufgaben verändern sich
Wenn man sich konkreten Themenfeldern der Caritas widmet, wird die Diskussion um Digitalisierung greifbar. Ein Beispiel: die Pflege und die damit verbundenen Fragen. Sollen der Fachkräftemangel und der Mangel an Pflegeplätzen aufgefangen werden, indem Assistenzsysteme ermöglichen, länger selbstständig im eigenen Heim zu bleiben? Inwiefern ist es Aufgabe der Caritas, ein anderes Bild von Pflege, Altern und Unselbstständigkeit zu vermitteln? Wie kann es helfen, die Debatte um Tod und Sterben zurück in die Gesellschaft zu bringen statt "outzusourcen"? Wie gelingt es, Anwältin für die Gebrechlichen zu sein, sich mit ihnen zu solidarisieren und ihren Wert für die Gesellschaft und ihre Würde zu vermitteln? Könnten technologische Innovation und neue Kommunikation helfen, Fürsorge in ein positiveres Licht zu rücken und gleichzeitig Autonomie zu fördern?
Digitalisierung fordert die Caritas heraus, weil sie in ihrer Dynamik und Komplexität nicht kontrolliert werden kann. Dazu muss sie sich aufstellen. Aufgaben verändern sich: Bildung und Erziehung zur selbstständigen Reflexion über Werte und Normen durch Liebe (im Dienst) und Vorbild (in der Gemeinschaft). In der digitalen Welt, die Privatsphäre und Öffentlichkeit drastisch verwischt und erweitert, braucht es individuelle, nicht nur institutionelle Kompetenz und Haltung. Und beide Kompetenzsysteme brauchen sich gegenseitig, um nicht der Überforderung anheimzufallen.
Vertrauen in das Wesen des Menschen
Digitalisierung in all ihren Facetten fordert heraus, weil sie Vertrauen in das Wesen des Menschen fordert. Ist nicht genau das Ausgangspunkt und Grundsatz caritativer Arbeit? Und zeigen nicht der Hype sozialer Medien und milliardenfach geklickte Posts zu Liebe, Frieden und Sicherheit, wie konstitutiv das Beziehungs- und Kommunikationsverlangen und die Liebe des Menschen zur Welt sind? Es ist die Aufgabe von Caritas, die Zusammenarbeit mit Gesellschaft, Forschung und Wirtschaft einzufordern gemessen an den Erfahrungen, Bedarfen und Zielen der sozialen Arbeit. Da braucht es von der Caritas mehr Caritas für eine digitale und menschendienende Gesellschaft 4.0.
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