Suchthilfe besser vernetzen
Eine genaue Zahl der Menschen in Deutschland, die unter einer Abhängigkeitserkrankung oder anderen konsumbezogenen Störungen leiden, ist nicht leicht zu ermitteln. Regelmäßige und repräsentative Bevölkerungs-Surveys unter Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren ergeben, dass Alkoholkonsum die mit Abstand häufigste Ursache für eine behandlungsbedürftige Abhängigkeitserkrankung ist. Demnach erfüllen 1,77 Millionen Menschen die Kriterien einer Alkoholabhängigkeit, für weitere 1,61 Millionen Menschen kann Alkoholmissbrauch festgestellt werden.1
Abhängig von illegalen Drogen wie Cannabis, Heroin, Kokain oder Amphetamin sind der Untersuchung zufolge 319.000 Personen. In allen Bereichen, auch bei Glücksspiel- (180.000) und Tabakabhängigkeit (5,58 Millionen), sind jeweils deutlich mehr Männer betroffen als Frauen. Lediglich in Bezug auf Medikamenten-Abhängigkeit (1,5 Millionen) ist das Verhältnis umgekehrt.2
Allen Betroffenen und ihren Angehörigen steht in Deutschland ein differenziertes und hoch spezialisiertes Suchthilfesystem zur Verfügung. Sie erhalten unterschiedliche Formen der Beratung, der ambulanten und stationären Behandlung, der Entwöhnung und Rehabilitation in Fach- und Beratungsstellen, spezialisierten Einrichtungen, Kliniken oder Krankenhausstationen und können auf ein flächendeckendes Angebot der Sucht-Selbsthilfe zugreifen.3
Um Suchtkranke mit diesen spezifischen Angeboten noch besser erreichen zu können, ist die Vernetzung mit anderen Einrichtungen und Angeboten des Gesundheits- und Sozialwesens eine Schlüsselaufgabe.
Suchtberatung: Angebote für Betroffene und Angehörige
Das übergeordnete Ziel von Beratung in ambulanten Fachstellen der Suchthilfe ist es, Teilhabe zu ermöglichen. Das professionelle Beratungsgespräch dient der Unterstützung der Hilfesuchenden, um Wissen, Fertigkeiten und Kompetenzen erwerben zu können, mit deren Hilfe Probleme selbstständig gelöst und bewältigt werden können. Die Wahrung von Autonomie und Eigenverantwortung Hilfesuchender nimmt eine zentrale Funktion im Beratungsprozess ein, bei dem die spezifischen Anliegen und Hilfebedarfe individuell in den Mittelpunkt gestellt werden. Entsprechend vielseitig sind die Beratungsangebote (siehe zum Thema Suchtberatung auch den Artikel von Rita Hansjürgens in diesem Heft).
Um möglichst auch die Betroffenen zu erreichen, die einem weitergehenden Beratungs- oder Behandlungsangebot noch eher distanziert gegenüberstehen, dienen niedrigschwellige Hilfen der Existenzsicherung, gesundheitlichen Grundversorgung und Schaffung von Tagesstrukturen. Dazu zählen auch Sofort- und Überlebenshilfen, die suchtbegleitend und ohne Voraussetzungen in Anspruch genommen werden können. Darüber hinaus ermöglichen niedrigschwellige Hilfen den Zugang zu Abhängigkeitskranken und zu weiteren Beratungs- und Behandlungsangeboten. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) geht derzeit von deutschlandweit 300 niedrigschwelligen Angeboten wie Kontaktcafés, Wärmestuben, Konsumräumen und Streetwork aus.4
Suchtberatung für Betroffene und Angehörige umfasst Leistungen mit und ohne Spezialisierung auf bestimmte Zielgruppen oder Hilfebereiche. Zu diesen Leistungen zählen, Hilfebedarfe zu klären (sowohl suchtbezogen als auch in weiteren Problemlagen) und die Klient(inn)en in passende Angebote zu vermitteln. Den/Die Hilfesuchende(n) mit möglicherweise sehr verschiedenen Bedarfen wahrzunehmen bedeutet, Kooperations- und Netzwerkstrukturen vor Ort aufzubauen und im Verbund zu nutzen. Suchtberatung ist nicht an ein bestimmtes methodisches Setting oder einen Einrichtungstyp gebunden. Sie erfolgt zum Beispiel in Suchtberatungsstellen oder im Rahmen aufsuchender Sozialarbeit. Nach einer Hochrechnung auf Grundlage der Deutschen Suchthilfestatistik werden insgesamt in über 1300 Einrichtungen jährlich circa 500.000 Fälle5 durch Suchtberatung erreicht.
Die Psychosoziale Betreuung Substituierter (PSB) ist ein begleitendes Angebot für Abhängigkeitskranke, die in der medizinischen Versorgung ein Substitutionsmittel erhalten. Häufig ist neben dieser medikamentösen Form der Suchtbehandlung eine begleitende Beratung erforderlich, die zur Stabilisierung der allgemeinen Lebenssituation, zur Bewältigung mehrfacher Problemstellungen und zur Motivation zur Veränderung beiträgt. Zumeist sind Suchtberatungsstellen Anbieter der PSB, die in der Praxis unter sehr unterschiedlichen strukturellen Bedingungen stattfindet. Gerade auch aufgrund dessen fehlt es an einem einheitlichen und flächendeckenden Angebot der PSB. Von den circa 78.500 Substituierten in Deutschland erhielten circa 50 Prozent Leistungen im Rahmen der Psychosozialen Betreuung. Insbesondere die sehr vielfältigen Leistungen der klassischen Suchtprävention werden im Rahmen der Daseinsvorsorge erbracht und sind Sache der Kommunen und Länder. Aus der fehlenden Rechtssicherheit der Finanzierungsgrundlage resultiert eine chronische Unterfinanzierung der Suchtberatungsstellen, die im Suchthilfesystem eine zentrale Brücken- und Schnittstellenfunktion einnehmen.6
Jede(r) Suchtkranke hat Anspruch auf Behandlung
Der Konsum von Suchtmitteln ist mit dem Risiko einer Abhängigkeits-Erkrankung verbunden. Neben der Abhängigkeit definiert die Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) auch weitere gesundheitsrelevante und behandlungsbedürftige Konsumfolgen wie zum Beispiel die akute Vergiftung (Intoxikation), das Entzugssyndrom oder den schädlichen Gebrauch. Nach § 27 SGB V steht jedem Betroffenen eine Behandlung der konsumbedingten Erkrankungsformen zu. Diese kann Krankenhausbehandlungen und ärztliche und psychotherapeutische Behandlung durch Vertrags- und Privatärzte umfassen sowie die Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln. Es besteht ein Rechtsanspruch aller Versicherten auf Behandlung im Notfall, in der Routineversorgung und insbesondere bei chronischem Verlauf. Die Therapie kann ambulant oder (teil)stationär erfolgen. Leistungen können von approbierten Ärzt(inn)e(n) und Psychotherapeut(inn)en in Praxen oder Krankenhäusern erbracht und in Anspruch genommen werden. Die Akutbehandlung in (Allgemein-)Krankenhäusern und Kliniken umfasst die Entgiftung und den „qualifizierten Entzug“ sowie somatische Therapien von Folge- und Begleiterkrankungen. In psychiatrischen Krankenhäusern und Abteilungen werden zum Teil auf speziellen Stationen Sucht und komorbide Störungen (das heißt häufig in Verbindung mit einer Abhängigkeit parallel auftretende psychische Erkrankungen, zum Beispiel Depressionen, Angststörungen, Psychosen und Trauma-Folgen) behandelt. Auch existieren weitere Spezialisierungen, beispielsweise zur besonderen Problematik von Suchterkrankungen im Alter oder zu chronischen Verläufen. In den Institutsambulanzen psychiatrischer Krankenhäuer und Abteilungen gibt es darüber hinaus sucht-spezifische Behandlungskonzepte zur Diagnostik und Früherkennung, aber auch Konzepte der Substitutionsbehandlung Drogenabhängiger. Neben den Instituts-Ambulanzen bieten zugelassene niedergelassene Ärzt(inn)e(n) Substitution an, die als Leistung in der ambulanten medizinischen Versorgung erbracht werden. Auch in diesem Bereich des Gesundheitswesens gibt es die Frühintervention (oftmals durch Zufalls- und Nebenbefunde) und medikamentöse Rückfall-Prophylaxe im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans.
Reha wird durch die Rentenversicherung finanziert
Die Entwöhnung findet im Rahmen der medizinischen Rehabilitation statt, einem sehr spezifischen Segment des deutschen Sozial- und Gesundheitswesens. Das Ziel von Rehabilitations-Behandlungen ist allgemein die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit. Deshalb werden Reha-Maßnahmen im Wesentlichen durch die Rentenversicherung finanziert (Rechtsgrundlage: SGB VI). Zum Teil fällt die Zuständigkeit in den Bereich der Krankenversicherung (nach SGB V). Aus diesem Grund vereinbaren die Leistungsträger von Rehabilitations-Maßnahmen gemeinsame Rahmenkonzepte, die durch Leistungserbringer in ambulanten und stationären Einrichtungen umgesetzt werden. Idealerweise schließen sich Reha-Maßnahmen nahtlos an eine Akutbehandlung an (zu Rehabilitation siehe auch den Artikel von Andreas Koch in diesem Heft).
Selbsthilfe: Unterstützung Betroffener und Angehöriger
Ein Prinzip der Selbsthilfe ist die Begegnung auf Augenhöhe und damit die partnerschaftliche Zusammenarbeit, die den Selbstwert jedes Einzelnen stärkt, denn jede(r) Teilnehmende ist für die Gruppe wichtig. Selbsthilfe setzt auf freiwillige Mitwirkung aller Teilnehmenden und bietet Raum für Erfahrungsaustausch, Meinungsäußerung und für neue, stabilisierende Beziehungserfahrungen. Die Selbsthilfe ermöglicht ein Voneinander- und Miteinanderlernen und entlastet in geschützter Atmosphäre, zum Beispiel durch die Thematisierung von Ängsten und Schuldgefühlen.
Sucht-Selbsthilfegruppen bieten für jede(n) Suchtkranke(n) und Angehörige(n) ein niedrigschwelliges Angebot, ohne Bedingungen zu stellen. Sie motivieren die Teilnehmer(innen) dazu, aus der Sucht auszusteigen, die Abstinenz aufrecht zu erhalten, beugen Rückfällen vor und geben Impulse, weiterführende Beratung und Behandlung in Anspruch zu nehmen. Sucht-Selbsthilfe fördert maßgeblich einen von Suchtstrukturen befreiten Lebensstil und begleitet Suchtkranke auf ihrem Weg durch das Hilfesystem.
Das Angebot der Selbsthilfe umfasst ehrenamtlich angeleitete begleitete Gesprächsgruppen inklusive der Bereitstellung von Räumlichkeiten. Es zeichnet sich durch die Kompetenzen, Lebens- und Suchterfahrungen betroffener Menschen (Suchtkranker und Angehöriger) sowie weiterer Engagierter aus. Neben den klassischen Gruppengesprächen bietet die Selbsthilfe Schulungen zur Abstinenz-Stabilisierung und Rückfall-Prophylaxe sowie für die freiwillige Mitarbeit an. Selbsthilfegruppen können durch die gesetzlichen Krankenkassen nach § 20 h SGB V und durch die Rentenversicherung nach § 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI gefördert werden. Zudem werden Projektmittel von den Gesundheitsministerien der Länder und des Bundes sowie freiwillige Leistungen von Ländern und Kommunen, Wohlfahrtsverbänden sowie Einrichtungen der Erwachsenenbildung zur Verfügung gestellt.
Eine aktuelle Statistik weist 4110 Selbsthilfegruppen in Trägerschaft der Sucht-Selbsthilfeverbände (BKD, BKE, Freundeskreise, Guttempler, Kreuzbund) mit circa 70.000 Gruppenteilnehmenden aus.7 Die Zahl der Gruppen weiterer Verbände (Anonymer Alkoholiker und anderer Wohlfahrtsverbände) wird auf 2000 geschätzt.
Reichweite wird durch Kooperation erhöht
Nicht nur in den hier beschriebenen, oft als die zentralen und klassischen Segmente des Suchthilfesystems verstandenen Leistungsbereichen werden spezifische Angebote für Menschen mit einer Suchtproblematik vorgehalten. Darüber hinaus sind im Bereich der Eingliederungshilfen, Arbeitsförderung und Qualifizierung, für Suchtkranke in Haft, in speziellen Einrichtungen für ältere und pflegebedürftige Abhängige, in der betrieblichen Suchtprävention und Suchthilfe, der Suchtprävention und Frühintervention, der Jugendhilfe und der Wohnungslosenhilfe auch spezielle Angebote für Menschen mit einer Suchtproblematik anzutreffen. Eine umfassende Analyse der Versorgung Suchtkranker in Deutschland kann sich nicht allein auf solche Angebote beschränken, die speziell für Suchtkranke eingerichtet sind. Ebenso sind allgemeine Angebote des Sozial- und Gesundheitswesens einzubeziehen, die allen Hilfebedürftigen – auch Suchtkranken – offenstehen. Eine der wesentlichen Herausforderungen für die Versorgung Suchtkranker in Deutschland wird es daher sein, die Hilfen vor Ort besser miteinander abzustimmen und zu koordinieren. Suchtkranke Menschen sehen sich oftmals mehrfachen Beeinträchtigungen in vielen Lebensbereichen gegenüber. Ihnen passgenaue Hilfen für diese unterschiedlichen Bedarfe zukommen zu lassen, erfordert eine gute Vernetzung der Angebote vor Ort. Der hohe Grad an Spezialisierung der vielfältigen Angebote innerhalb des Suchthilfesystems sollte erhalten und weiterentwickelt werden. Die Vernetzung mit weiteren Hilfebereichen vor Ort wäre eine Möglichkeit, die Reichweite auch der suchtspezifischen Angebote zu erhöhen.
Anmerkungen
1. Vgl. Gomes de Matos, E. et al.: Substanzkonsum in der Allgemeinbevölkerung in Deutschland. In: Sucht, 5/2016 (62) Seiten 271–281; Pabst, A. et alii: Substanzkonsum und substanzbezogene Störungen in Deutschland im Jahr 2012. In: Sucht, 6/2013 (59), Seiten 321–331.
2. Ebenda.
3. Nicht alle Angebote des Hilfesystems können hier angesprochen werden. Es folgen daher die klassischen Angebote der Beratung, Akutbehandlung, Rehabilitation und Sucht-Selbsthilfe.
4. Sofern nicht gesondert ausgewiesen, stammen alle Zahlen von Angeboten und Hilfen in diesem Beitrag aus der Analyse „Die Versorgung Suchtkranker in Deutschland – Update“ der DHS (2019) (zum Redaktionsschluss noch nicht veröffentlicht). Das Update wird unter www.dhs.de zugänglich gemacht.
5. Mit „Fällen“ sind Beratungsepisoden (mit definiertem Start und Ende) gemeint, das heißt, einzelne Hilfesuchende können im Zeitraum eines Jahres in mehreren Episoden in Beratung sein.
6.Caritas Suchthilfe e. V. (CaSu); Gesamtverband für Suchthilfe e. V. (GVS – Fachverband der Diakonie Deutschland: Tätigkeiten und Potentiale der Funktion „Suchtberatung“ – Expertise von Prof. Dr. Rita Hansjürgens und Exzerpt. 2018. Kurzlink: https://bit.ly/2I4NfmX
7. Siehe dazu Kurzlink: https://bit.ly/2Dv7Co1
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Welche Funktion und welches Potenzial hat Suchtberatung?
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