Die Suchtrehabilitation steht vor neuen Herausforderungen
Die medizinische Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen ist ein sehr spezifisch ausgestaltetes Segment im deutschen Gesundheits- und Sozialwesen, bei dem vor allem die Förderung der beruflichen und gesellschaftlichen Teilhabe im Mittelpunkt steht. In der Suchtrehabilitation gibt es traditionell viele kleine (circa 25 Behandlungsplätze) und mittelgroße (circa 60 Behandlungsplätze) Einrichtungen, die überwiegend zu den freien Wohlfahrtsverbänden oder privaten Trägern gehören:
- circa 180 stationäre Einrichtungen (Fachkliniken, Therapieeinrichtungen oder Abteilungen/Stationen von Krankenhäusern) mit 13.000 Plätzen und 50.000 Behandlungen pro Jahr;
- circa 110 Adaptionseinrichtungen mit 1300 Plätzen und 4500 Behandlungen pro Jahr;
- circa 50 ganztägig-ambulante Einrichtungen (synonyme Begriffe: Tagesreha oder teilstationäre Reha) mit 600 Plätzen und 2500 Behandlungen pro Jahr;
- circa 400 anerkannte ambulante Einrichtungen (unter anderem Beratungsstellen und Fachambulanzen) mit 10.000 Behandlungen pro Jahr.
Die Behandlungsfälle verteilen sich zu rund 65 Prozent auf die Indikation Alkoholerkrankung und zu 30 Prozent auf die Abhängigkeit von illegalen Drogen. Fünf Prozent machen weitere Indikationen aus (pathologisches Spielen, Medikamentenabhängigkeit, Ess-Störungen). Die behandelten Menschen sind im Bereich Alkohol durchschnittlich 44 Jahre und im Bereich Drogen durchschnittlich 30 Jahre alt. Etwa ein Viertel der Behandelten sind Frauen. Überwiegender Leistungsträger ist die Deutsche Rentenversicherung mit circa 85 Prozent. Die gesetzliche Krankenversicherung finanziert etwa zwölf Prozent der Behandlungen.
In der Suchtrehabilitation war seit 2014 ein deutlicher Rückgang bei den Anträgen zu verzeichnen. Trotz umfassender gemeinsamer Analysen von Deutscher Rentenversicherung und Suchtverbänden konnten keine eindeutigen Ursachen identifiziert werden. Es ist davon auszugehen, dass verschiedene Gründe hierfür vorliegen:
- schwierige Finanzierungssituation in den Suchtberatungsstellen als den Hauptzuweisern;
- alternative Behandlungs- und Betreuungsangebote in der Psychiatrie und Eingliederungshilfe;
- Probleme beim Übergang aus der Haft in die Suchtreha („Therapie statt Strafe“).
Die Antragszahlen steigen seit 2018 wieder an.
Fachkräftemangel gefährdet die Einrichtungen
Wie in fast allen Branchen in Deutschland macht sich auch im Gesundheitswesen und in der Sozialwirtschaft der Fachkräftemangel immer deutlicher bemerkbar. Der Einrichtungsleiter einer Fachklinik brachte das Problem auf den Punkt: „Wir werden demnächst eine Klinikschließung erleben, nicht weil die Belegung oder die Finanzierung so schlecht sind, sondern weil sich nicht mehr genug qualifiziertes Personal findet!“ Es stellt sich also die Frage, wie Unternehmen im Sozial- und Gesundheitsbereich auf diese Herausforderungen reagieren sollen.
Wenn die Einrichtungsträger in ausreichendem Umfang junge Fach- und Führungskräfte finden wollen, dann erfordert das neue Wege im Personalmanagement:
- Personalgewinnung – Vermittlung eines positiven Berufsbildes für die Suchthilfe in der Öffentlichkeit und bei potenziellen Bewerber(inne)n.
- Personalentwicklung – Unterstützung der Mitarbeitenden bei der fachlichen Weiterentwicklung, wenn in kleinen und mittelgroßen Einrichtungen kaum hierarchische Aufstiegsmöglichkeiten vorhanden sind.
- Personalbindung – Entwicklung einer Unternehmenskultur, die Identifikationsmöglichkeiten mit dem Arbeitgeber bietet, langfristig gesundes Arbeiten ermöglicht (psychisch und physisch) sowie individuelle Arbeitsgestaltung und flexible Führungsstile zulässt.
Die Digitalisierung verändert therapeutisches Arbeiten
Seit einigen Jahren kommt kaum ein Fachbeitrag ohne das Stichwort Digitalisierung aus. Für eine differenzierte Betrachtung sind zwei Perspektiven hilfreich:
Die Patient(inn)en-Perspektive
Insbesondere bei den jüngeren Patient(inn)en in der Drogentherapie hat sich das Sozial- und Kommunikationsverhalten deutlich gewandelt. Dies beschreibt die Leiterin einer Einrichtung wie folgt: „Früher hat man sich zu den Patienten in den Raucherpavillon gestellt und wusste sofort, wie die Stimmung ist. Heute sitzen alle in ihren Zimmern und kommunizieren über soziale Netzwerke. Wir bekommen Schwierigkeiten und Krisen gar nicht oder zu spät mit!“ Diese Entwicklung stellt die therapeutischen Teams in den Suchtreha-Einrichtungen vor große Herausforderungen. Sie müssen das Spannungsfeld zwischen der (sichtbaren) sozialen und der (verborgenen) digitalen Welt im Blick behalten, in dem sich viele Patient(inn)en bewegen. Daher werden auch die Hausregeln zur Mediennutzung immer wieder angepasst.
Unter dem Begriff „E-Mental-Health“ wird derzeit intensiv diskutiert, welche Rolle die Digitalisierung bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen spielen kann und soll. Die Ergebnisse von Pilotprojekten in diesem Bereich zeigen, dass digitale Medien und Onlineangebote eine wertvolle Unterstützung bei der Behandlung darstellen, aber offensichtlich die „traditionellen“ psychotherapeutischen Methoden nicht ersetzen können. Insofern ist diese Entwicklung von therapiebegleitenden Apps eine sinnvolle Ergänzung des Leistungsspektrums der Einrichtungen.
Die Einrichtungs-Perspektive
Aus der Erkenntnis, dass wir in einer Informationsgesellschaft leben, ergibt sich die Notwendigkeit für die Einrichtungen und Träger, ihre Öffentlichkeitsarbeit entsprechend anzupassen. Dabei ist zu beachten, dass Printmedien (Flyer, Kurzkonzepte etc.) weiterhin ihre Bedeutung haben, aber die Darstellung in Onlinemedien immer wichtiger wird. Kontrovers diskutiert wird die Präsenz von Einrichtungen in digitalen Netzwerken, die mit einem sehr hohen personellen Aufwand verbunden ist.
Die Digitalisierung hat längst Einzug in den Arbeitsalltag der Einrichtungen gehalten. Die internen Arbeitsabläufe werden verstärkt von den vorhandenen Dokumentationssystemen bestimmt und auch in der externen Kooperation findet eine zunehmende Automatisierung statt. Obwohl diese Entwicklung viele Vorteile hat, findet sie Grenzen im Datenschutz, und sie verändert die Kommunikationskultur in den Einrichtungen. Neben der digitalen Kommunikation muss der persönliche Austausch weiterhin seinen Stellenwert behalten.
Neue Therapiekonzepte sind nötig
Für die Einrichtungen in der Suchtrehabilitation ist es notwendig, Veränderungen bei den Zielgruppen zu beobachten und die eigenen Therapiekonzepte entsprechend weiterzuentwickeln. Eine wesentliche Entwicklung war in den letzten Jahren der vermehrte Konsum von synthetischen Drogen, die aufgrund der immer wieder veränderten chemischen Zusammensetzung bei Suchtmittel-Kontrollen kaum nachweisbar sind. Ein weiterer Trend ist die Auflösung bekannter Konsummuster, die sich auf eine Substanz beziehen (Heroin, Kokain, Cannabis, Alkohol etc.). Die zunehmend komplexen Konsummuster werfen die Frage auf, ob eine konzeptionell getrennte Behandlung von Alkoholabhängigkeit und Drogenabhängigkeit noch sinnvoll ist. Zwar ist es weiterhin therapeutisch sinnvoll, spezielle Behandlungskonzepte für besondere Zielgruppen anzubieten, aber es müssen hierfür auch die notwendigen Ressourcen bereitgestellt werden.
Der Koordinationsaufwand steigt
In den vergangenen Jahren wurden in der Suchtrehabilitation verschiedene Behandlungsformen entwickelt und durch entsprechende Rahmenkonzepte der Leistungsträger definiert (siehe www.deutsche-rentenversicherung.de):
- Besonders im Fokus steht die Ambulante Reha Sucht (ARS), für die seit 2008 ein Rahmenkonzept der Leistungsträger existiert. Die kaum vorhandene Kostendeckung hat zu einer Reduzierung des Leistungsangebotes insbesondere in ländlichen Regionen geführt.
- Mit dem Rahmenkonzept zur ganztägig ambulanten Suchtreha wurden 2011 die Anforderungen für eine noch relativ neue Behandlungsform festgelegt. Zahlreiche Einrichtungen wurden neu eröffnet, viele davon sind aber nicht ausgelastet.
- 2012 trat das Rahmenkonzept zur Nachsorge im Anschluss an eine medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker in Kraft. Damit wird eine deutliche Trennung der (sozialtherapeutischen) Reha- Nachsorge von der (suchttherapeutischen) ambulanten poststationären Reha-Behandlung definiert, mit erheblichen Folgen für die Angebotsstruktur in diesem Bereich.
- Es folgten weitere Rahmenkonzepte zur Kombinationsbehandlung im Jahr 2014 sowie zur ambulanten beziehungsweise ganztägig ambulanten Fortführung der Entwöhnungsbehandlung mit und ohne Verkürzung der vorherigen (stationären) Phase im Jahr 2015.
- Eine besondere Leistungsform ist die Adaptionsbehandlung mit einer stärkeren Fokussierung auf die Aspekte Wohnung und Arbeit. Die Deutsche Rentenversicherung hat 2017 eine Erhebung unter den Einrichtungen zur Bestandsaufnahme durchgeführt, da die konzeptionelle Entwicklung zu regionalen Unterschieden geführt hat. Für 2019 ist die Veröffentlichung eines Rahmenkonzeptes geplant.
In der Suchtrehabilitation können sehr individuelle Behandlungsverläufe gestaltet werden, die allerdings erhebliche Anforderungen an das modulübergreifende Fallmanagement stellen. Das wirft die Frage auf, wer dieses Fallmanagement übernimmt und wie diese zusätzlichen Leistungen vergütet werden sollen. In den letzten Jahren wurde eine fehlende Transparenz im „Reha-Markt“ kritisiert und die Frage diskutiert, ob die „Beschaffung“ von Rehabilitations-Leistungen durch die Deutsche Rentenversicherung nicht dem Vergaberecht unterliegen muss. Vor diesem Hintergrund hat die Deutsche Rentenversicherung nun einen zweistufigen Prozess mit folgenden Regelungen definiert:
1) Offenes Zulassungsverfahren
Jeder geeignete Anbieter erhält nach einer Qualitätsprüfung einen Belegungsvertrag.
2) Transparentes Belegungsverfahren
Die Einrichtungsauswahl nach Bewilligung eines Reha-Antrages folgt einem definierten Algorithmus und wird nachvollziehbar dokumentiert. Stehen mehrere Einrichtungen zur Verfügung, erfolgt die Zuweisungsentscheidung nach einem Bewertungssystem (Qualität, Preis, Wartezeit).
Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verändern sich Aus Sicht der Leistungserbringer muss dieser Prozess noch um eine weitere Stufe ergänzt werden, die die Vereinbarung einer angemessenen und leistungsbezogenen Vergütung regelt und dabei auch die Kostenstrukturen im Einrichtungsvergleich berücksichtigt. Bislang wurden von den Leistungsträgern nur Rahmenbedingungen für eine jährliche relative Anpassung der Vergütungssätze (Orientierung an einem „Reha-Index“ und an einer „Marktpreisbandbreite“) festgelegt.
Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Träger sind durch diese Entwicklungen nicht einfacher geworden. In den vergangenen Jahren konnte neben der Schließung von Einrichtungen vor allem auch eine zunehmende Fusion von Trägern und die Zusammenlegung von Einrichtungen beobachtet werden. Dabei ist zum einen zu bedenken, dass es sich bei den
Schließungen nicht um eine „Marktbereinigung“ handelt, denn die Nachfrage folgt bei Abhängigkeitserkrankungen nicht den üblichen Marktgesetzen. Es sind bereits regionale Versorgungslücken entstanden. Zum anderen führen Fusionen nicht automatisch zu einer besseren Wirtschaftlichkeit, Größe allein ist kein Erfolgsfaktor. Das Profil einer Einrichtung und spezielle therapeutische Angebote sind ein wichtiger Faktor für die Zusammenarbeit mit Zuweisern. Erfolgreich sind in der Regel die Träger, die eine Diversifizierung betreiben und verschiedene Leistungsbereiche integrieren.
Wie sieht die Zukunft aus?
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Suchtrehabilitation vor drei zentralen Herausforderungen steht:
1) Vor dem Hintergrund des Rückgangs der Anträge seit 2014 müssen Informationen über die Attraktivität und den Erfolg der modernen medizinischen Suchtreha stärker in die Öffentlichkeit getragen werden. Die Zugangswege beziehungsweise „Schnittstellen“ zu anderen Leistungsbereichen sind zu überprüfen und es ist zu hinterfragen, ob die Zielgruppen richtig angesprochen werden.
2) Vor dem Hintergrund von steigenden Struktur- und Leistungsanforderungen und der gleichzeitig nicht kostendeckenden Vergütungssätze muss die Existenzgrundlage für ambulante, ganztägig-ambulante und stationäre Einrichtungen gesichert werden.
3) Vor dem Hintergrund der komplexer werdenden Anforderungen durch die Rehabilitand(inn)en müssen die Träger und Einrichtungen flexible Therapiekonzepte entwickeln und nahtlose Behandlungsketten aufbauen. Dabei kommt dem Fallmanagement eine besondere Bedeutung zu.
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