Nur als allerletztes Mittel und zum Wohle des Kindes
Freiheitsentziehende Maßnahmen sind immer ein sehr schwerer Eingriff in die Freiheits- und Persönlichkeitsrechte eines Kindes. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit freiheitsbeschränkender Maßnahmen ist sehr komplex. Aus diesem Grunde hat der Gesetzgeber vor deren Einsatz zwingend eine richterliche Überprüfung festgelegt. Der Bundestag hat das Gesetz zur Einführung eines familiengerichtlichen Genehmigungsvorbehaltes für freiheitsentziehende Maßnahmen bei Kindern1 am 29. Juni 2017 beschlossen. Die Genehmigungspflicht ist am 1. Oktober 2017 in Kraft getreten.
Alle freiheitsentziehenden Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen bedürfen damit der Gestattung des zuständigen Familiengerichtes. Der Genehmigungsvorbehalt nach § 1631 b Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), der bisher nur für die freiheitsentziehende Unterbringung für Kinder und Jugendliche galt, wurde auf alle freiheitsbeschränkenden Maßnahmen erweitert, die "nicht in altersgerechter Weise" erfolgen. Der Bundesfachverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) begrüßt die Koppelung des Einsatzes solcher Mittel bei Kindern an eine richterliche Prüfung und Genehmigung. Der CBP hat hierzu am 23. August 2017 die Empfehlungen "Freiheitsbeschränkende Maßnahmen bei Kindern/Jugendlichen mit Behinderung nur als Ultima Ratio"2 veröffentlicht.
Die Einrichtung berät, die Eltern entscheiden, das Gericht segnet ab
Genehmigungsbedürftig sind freiheitsentziehende Maßnahmen bei Minderjährigen, die sich in einem Krankenhaus oder in einer sonstigen Einrichtung aufhalten. In Betracht kommen damit sämtliche Einrichtungen der Erziehungshilfen, der Kinder- und Jugendhilfe oder der Eingliederungshilfe. Freiheitsbeschränkende Maßnahmen sind in Einrichtungen rechtmäßig, wenn die Eltern beziehungsweise Sorgeberechtigten sich für die Anwendung entscheiden und die entsprechende Genehmigung des Familiengerichts eingeholt wird.
Alle Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Entwicklung und Erziehung. In diesem Kontext dürfen freiheitsbeschränkende Maßnahmen nur als allerletztes Mittel und nur zum Wohle des Kindes in Betracht kommen. Für das fachliche Handeln gelten die Artikel 22 bis 27 der UN-Kinderrechtskonvention sowie die Artikel 1, 2 und 104 des Grundgesetzes. Nur in Ausnahmesituationen, in denen das Kind akut sich selbst oder andere Personen erheblich gefährdet und diese erhebliche und akute Gefährdung durch keine anderen Mittel abgewendet werden kann, ist die Anwendung von freiheitsentziehenden Maßnahmen nach vorheriger richterlicher Genehmigung zulässig.
Freiheitsbeschränkende Maßnahmen werden unter anderem durch mechanische Vorrichtungen (zum Beispiel als Fixierungen), Medikamente oder auf andere Weise angewandt. Genehmigungspflichtig sind Maßnahmen, wenn über einen längeren Zeitraum hinweg oder "regelmäßig in nicht altersgerechter Weise die Freiheit entzogen wird"3. Freiheitsentziehende Maßnahmen dürfen bis höchstens sechs Monate genehmigt werden4, in Ausnahmefällen bis zu einem Jahr.
Bei der Anwendung solcher Mittel ist eine entsprechende fachliche Kompetenz gefordert. Entscheidend ist, dass die Würde des Kindes gewahrt ist und die Eltern eingebunden werden. Die vorherige Aufklärung der Sorgeberechtigten und der betroffenen Kinder/Jugendlichen durch die Fachkräfte über die Erforderlichkeit und die Art und Dauer von konkreten freiheitsentziehenden Maßnahmen sind wichtig. In diesem Kontext muss umfassend über das bestehende einrichtungsspezifische pädagogische Konzept informiert werden, wie freiheitsentziehende Maßnahmen dort zu vermeiden sind.
Für die Genehmigung ist der/die Richter(in)5 beim Familiengericht am gewöhnlichen Aufenthaltsort eines Kindes oder Jugendlichen zuständig.6 Dieser liegt am Ort der Einrichtung, wenn eine Rückkehr zu den Eltern zeitlich nicht absehbar ist beziehungsweise nicht beabsichtigt wird.7 Insofern sich der gewöhnliche Aufenthaltsort nicht eindeutig feststellen lässt, ist das Gericht zuständig, wo das Kind der Fürsorge durch das Familiengericht bedarf.8
Die Eltern werden persönlich vom Richter/von der Richterin angehört. Ab Vollendung des 14. Lebensjahres sind auch die Kinder verfahrensfähig. Grundsätzlich sind Kinder und Jugendliche vom Richter
persönlich anzuhören. Die Bestellung eines Verfahrensbeistandes ist erforderlich, die Mitwirkung des Jugendamtes rechtlich vorgeschrieben. Im Genehmigungsverfahren können Sachverständige hinzugezogen werden, zum Beispiel Ärzt(inn)e(n) für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie oder auch in Fragen der pädagogischen Förderung ausgewiesene Psychotherapeut(inn)en, Psycholog(inn)en oder Pädagog(inn)en. In Verfahren kann aber auch ein ärztliches Zeugnis ausreichend sein.
Fachkompetenz ist gefragt
Die Eltern beziehungsweise Sorgeberechtigten legen der Einrichtung die richterliche Genehmigung vor. Eine Genehmigung bedeutet allerdings nicht, dass eine Pflicht dazu besteht, die Maßnahme auch anzuwenden. In jedem Fall müssen mildere Mittel stets ausgeschöpft worden sein. Die kontinuierliche Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der freiheitsentziehenden Maßnahmen ist konzeptionell und strukturell in die fachliche Arbeit einzubinden. Als entscheidender Maßstab gilt das Kindeswohl. Es ist im Einzelfall stets zu prüfen, ob das Kind sich selbst oder andere Personen erheblich gefährdet und das Risiko von Notwehr nur durch freiheitsbeschränkende Maßnahmen abgewendet werden kann. Immer muss sorgfältig abgewogen werden zwischen den Folgen der Kindeswohlgefährdung und den Nachteilen der Anwendung. Dies sollte multiprofessionell reflektiert und dokumentiert werden.
Die Voraussetzung dafür, freiheitsbeschränkende Maßnahmen adäquat umzusetzen, sind eine angemessene Personalausstattung mit der daraus resultierenden Betreuungsintensität, eine professionelle Betreuung durch interne Standards sowie eine dafür geeignete räumliche und sachliche Ausstattung der Einrichtungen. Entsprechende Vereinbarungen sind mit dem Leistungsträger zu treffen und die ordnungsrechtlichen Vorgaben der Aufsichtsbehörde zu berücksichtigen. Die genehmigten Freiheitsbeschränkungen müssen transparent, vorhersehbar und verbindlich gestaltet sein: zwischen den verantwortlichen Mitarbeitenden unter Einbeziehung von interdisziplinären Fachkräften (wie zum Beispiel Therapeut(inn)en, Ärzt(inn)en, Psycholog(inn)en, Pädagog(inn)en), der zuständigen Aufsichtsbehörde, dem Jugendamt, den Eltern und dem Kind. Die Maßnahmen müssen dabei in einem sehr engen Zeitkorridor immer wieder mit allen Beteiligten neu überprüft und reflektiert werden. Eine wertschätzende Grundhaltung der Mitarbeitenden in der Einrichtung soll systematisch und fortdauernd durch die Selbstreflexion, kollegiale Beratung, Supervision und wiederkehrende Trainings in Deeskalation und fachlichen Fortbildungen gefördert werden. Wichtig ist auch die Kontrolle der eigenen fachlichen Standards durch externe und unabhängige Expertise.
Der CBP hat zur Anwendung von freiheitsentziehenden Maßnahmen konkrete Handlungsempfehlungen9 erarbeitet, die unter anderem folgende Themen in den Blick nehmen: ein transparentes Handeln beim Einzug des Kindes in die Einrichtung, die Sicherstellung eines rechtskonformen Vorgehens, das Vorhandensein eines Konzeptes zum Einsatz von freiheitsentziehenden Maßnahmen, die Sicherstellung der Dokumentation und Anzeigepflicht, die Weiterentwicklung der Elternarbeit, die Fürsorge und Weiterentwicklung für Mitarbeitende und die Einbeziehung einer entsprechenden ethischen Grundhaltung.
Die Thematik von freiheitsentziehenden Maßnahmen gegenüber Kindern und Jugendlichen hat durch die Gesetzesvorgaben das Kindeswohl gestärkt. Einrichtungen und Dienste, die in ihrer Arbeit gefordert sind, freiheitsbeschränkende Maßnahmen anzuwenden, müssen jetzt durch die Kostenträger bei der Sicherung und Ausgestaltung von Rahmenbedingungen unterstützt werden, die den Einsatz solcher Maßnahmen nur im absoluten Ausnahmefall bei massiver Eigen- oder Fremdgefährdung erforderlich machen.
Anmerkungen
1. Bundesgesetzblatt Nr. 48 vom 24. Juli 2017.
2. www.cbp.caritas.de unter "Was wir denken".
3. § 1631 b Abs. 2 BGB
4. § 167 Abs. 7 Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG).
5. § 151 Ziff. 6 FamFG, Art. 104 Abs. 2 Grundgesetz (GG).
6. §§ 313 Abs. 1 Nr. 2 167 Abs. 2 FamFG.
7. So Oberlandesgericht München FamRZ 2006, S. 1622; anders Oberlandesgericht Brandenburg FamR 2003, S. 175; hierzu auch Oberlandesgericht Hamm, Beschluss vom 19. März 2013 AZ: 2 SAF 4/13.
8. § 152 Abs. 3 FamFG.
9. www.cbp.caritas.de
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