Justizministerium nimmt Betreuungsrecht unter die Lupe
Das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz (BMJV) hat in der vergangenen Legislaturperiode zwei rechtstatsächliche Untersuchungen zur Praxis des Betreuungsrechts eingeholt und eine weitere Studie zur Umsetzung des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) in Auftrag gegeben. Die beiden Untersuchungen zum Betreuungsrecht liegen inzwischen vor. Die Abschlussberichte sind auf der Homepage des BMJV abrufbar:
- "Forschungsvorhaben zur Umsetzung des Erforderlichkeitsgrundsatzes in der betreuungsrechtlichen Praxis im Hinblick auf vorgelagerte ‚andere Hilfen‘ unter besonderer Berücksichtigung des am 1. Juli 2014 in Kraft getretenen Gesetzes zur Stärkung der Funktionen der Betreuungsbehörde" durch das IGES Institut, Berlin;
- Rechtstatsächliche Untersuchung zur "Qualität in der rechtlichen Betreuung" durch das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG), Köln.
Reaktionen auf die Studien
Die Ergebnisse der Untersuchung zur Umsetzung des Erforderlichkeitsgrundsatzes haben - wie nicht anders zu erwarten - gleich zu einer Reaktion der Justizministerkonferenz geführt. Diese hat auf ihrer Herbstkonferenz am 9. November 2017 beschlossen, "eine umfassende Struktur- und Reformdebatte über das Betreuungswesen zu führen". Vorgelagerte Hilfs- und Unterstützungsmöglichkeiten im Rahmen des Sozialrechts seien "stärker zu nutzen und die rechtliche Betreuung auf ihren Kernbereich zu reduzieren". Es solle "zur Erarbeitung konkreter struktureller Änderungsvorschläge" eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe mit Sozial- und Justizministerien in den Ländern und im Bund gebildet werden.
Die IGES-Studie hat die seit langem bekannten Schnittstellenprobleme in der Praxis zwischen Betreuungsrecht und Sozialleistungsrecht erneut beschrieben:
- "Betroffene erhalten in manchen Fällen bei der Geltendmachung und der Realisierung von Sozialleistungsansprüchen nicht die in dem individuell erforderlichen Maß notwendige Unterstützung."
- "Institutionen, die häufig selbst Hilfeträger sind, entlasten sich von Aufgaben, indem sie eine rechtliche Betreuung anregen."
- ",Andere Hilfen‘ mit dem erforderlichen Funktionsniveau in Bezug auf Assistenz und Fallmanagement sind an manchen Orten nicht vorhanden oder überlastet."
Daneben wird - wenig überraschend - berichtet, dass bei der Erstbestellung eines Betreuers Aufgabenkreise angeordnet würden, für die zu diesem Zeitpunkt keine Erforderlichkeit bestehe, und dass Betreuungen verlängert würden, obwohl die Erforderlichkeit nicht mehr gegeben sei.
Das IGES-Institut gibt Umfragen von Richtern und Betreuungsbehörden wieder, die das Potenzial für Vermeidung von Betreuerbestellungen auf zehn bis 15 Prozent schätzen. Die befragten Betreuer schätzen vielfach dieses Potenzial sogar auf 20 Prozent.
Vorgeschlagen wird, die Bestellung eines Vertreters im Sozialleistungsverfahren nach § 15 SGB X anders zu regeln, zum Beispiel mit Kostenfolgen für versäumte Antragstellungen seitens der Sozialleistungsträger oder einer Bestellung ohne Antragserfordernis durch das Betreuungsgericht von Amts wegen. Das Potenzial für Betreuungsvermeidung liege hier zum Beispiel zwischen vier und sieben Prozent.
Durch Veränderungen in der Betreuungsbehördenarbeit, zum Beispiel durch systematischere Vernetzung mit Sozialleistungsträgern, könnten auch heute schon Verbesserungen erzielt werden. Es sollte aber auf überregionaler Ebene eine "Verbesserung der Steuerungsfähigkeit durch Ausbau einheitlicher Dokumentationsstandards, Ausbau der Prozesse zum Wissenstransfer unter den Betreuungsbehörden sowie Erprobung des Modells einer zeitlich begrenzten Fallverantwortung und erweiterten Assistenz im Vorfeld einer Betreuungseinrichtung" durchgeführt werden. Ob die Finanzierungsverantwortung für dieses Modell bei der Justiz oder bei der Kommune liegen solle, bleibt offen.
Betreuung ist unterfinanziert
Die rechtstatsächliche Untersuchung des ISG zur Qualität in der rechtlichen Betreuung hat bereits mit ihrem zweiten Zwischenbericht von Dezember 2016 aufgezeigt, dass die berufliche Einzelfallarbeit zu über 40 Prozent unterfinanziert ist:
In der gegenwärtigen Praxis wird berufliche Betreuung im Durchschnitt pro Betreuten mit etwa 3,3 Stunden je Monat vergütet, gleichgültig, ob es sich um einen Vereinsbetreuer oder einen freiberuflich tätigen Betreuer handelt. Beide benötigen aber im Schnitt etwa 4,1 Stunden für die tatsächliche Arbeit, so dass eine Differenz von über 24 Prozent zwischen vergüteter Stunde und aufgewendeter Zeit entsteht.
Zudem sind die tariflichen Vergütungen seit der Einführung der jetzigen Vergütung zum 1. Juli 2005 um über 29 Prozent gestiegen, die Kosten für Mieten und Sachmittel um über 15 Prozent. Besonders die Betreuungsvereine als Arbeitgeber können diese ungedeckten Kosten häufig nicht mehr auffangen, so dass eine Vergütungserhöhung im Gesetz über die Vergütung von Vormündern und Betreuern (VBVG) dringlich ist.
Ein Gesetz, das die im Zwischenbericht aufgezeigten Defizite durch eine Erhöhung um 15 Prozent wenigstens teilweise ausgleichen wollte, ist zwar im Bundestag mit den Stimmen aller Parteien im Mai 2017 beschlossen worden (Gesetz zur Verbesserung der Beistandsmöglichkeiten unter Ehegatten und Lebenspartnern in Angelegenheiten der Gesundheitssorge und zur Anpassung der Betreuer- und Vormündervergütung, BT-Drs. 18/12427). Das Gesetz ist, da es Kosten bei den Ländern auslöst, zustimmungspflichtig, das heißt ohne ausdrückliche Entscheidung des Bundesrates nicht wirksam. Der Bundesrat hat jedoch im Juli die Beschlussfassung vertagt. Das Gesetz ist damit gescheitert, weil inzwischen die Legislaturperiode beendet ist und es der "Diskontinuität" anheimfällt.
Die ISG-Untersuchung kritisiert insbesondere auch die Intransparenz der Verfahren auf Feststellung der Eignung von Betreuern, fehlende nachvollziehbare einigermaßen einheitliche Auswahlkriterien, fehlende Mindestanforderungen an ehrenamtliche und berufliche Betreuer und fehlende Selbstbindung der Gerichte und Behörden an solche Anforderungen.
Maßgebend ist der Wille des Betreuten
Die Hauptleistung der ISG-Untersuchung besteht aber in der Beschreibung von Qualitätskriterien rechtlicher Betreuung und deren Abfrage in der Praxis. Der Schwerpunkt liegt auf der Unterstützung bei der Entscheidungsfindung als das nach Art. 12 UN-BRK maßgebliche Kriterium für das Ernstnehmen des Willens und der Präferenzen von Menschen mit Handicaps. Das ist insbesondere auch bei der Vermittlung der Ziele in der ehrenamtlichen Betreuung eine ehrgeizige, schwierige Aufgabe, der sich die Betreuungsvereine auch und gerade bei familienangehörigen Betreuern stellen müssen.
Knapp 50 Prozent der bundesweit bestellten neuen Betreuer sind nach wie vor Familienangehörige. Wenn wir es mit Inklusion in unserer Gesellschaft ernst meinen, müssen wir besonders der Tätigkeit gerade dieser Betreuer Aufmerksamkeit widmen. Die Haltung der Justiz ist vielfach, dass Familienangehörige schon wissen, was für ihre Verwandtschaft gut und richtig ist. Doch das reicht nach den Ansprüchen des Betreuungsrechts im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention nicht! Auch bei Familienangehörigen ist zu prüfen, ob ihre Rechte und ihre Selbstbestimmung gewahrt werden. Dies gilt natürlich auch für Vorsorgevollmachten. Diese sind nur dann einer rechtlichen Betreuung gleichwertig, wenn die dabei vom Vollmachtgeber geäußerten Vorstellungen auch vom Vollmachtnehmer umgesetzt werden.
Ein modernes Erwachsenenschutzrecht ist nötig
Die rechtstatsächlichen Untersuchungen haben eine Reihe von Vorschlägen für Praxis und Gesetzgebung gemacht (die ISG-Untersuchung nennt 54 Handlungsempfehlungen), die in den nächsten Jahren sorgfältig beraten werden müssen. Nur wenn dabei auf Qualität und die dafür notwendigen Rahmenbedingungen geachtet wird, werden wir ein modernes Erwachsenenschutzrecht entwickeln, das den Ansprüchen einer inklusiven Gesellschaft etwas näherkommt.
Fortschritte sind schon durch Praxisänderungen möglich, aber ganz sicher sind auch gesetzgeberische Schritte notwendig!
Wir müssen den Betreuungsverein neu erfinden
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37.000 junge Menschen ohne Zuhause
Ein Menschenrecht drängt zur Umsetzung
Eine gute Tagesordnung ist die halbe Sitzung
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