Der digitale Nomade ist genauso schutzbedürftig wie der Industriearbeiter
Für die meisten Menschen ist es weder erstrebenswert noch realistisch, ihre Existenz bis zum Lebensende durch eigener Hände Arbeit zu sichern. Den vielen, die nicht über ein ansehnliches Vermögen verfügen, drohen im Alter Armut, finanzielle Abhängigkeit von Freunden und Verwandten oder von staatlichen Fürsorgeleistungen, wenn nicht ein System verpflichtender Eigenvorsorge für das Alter als soziales Netz funktioniert.
Die gesetzliche Rentenversicherung ist ein solches Netz. Sie verpflichtet Menschen, von ihren Erwerbseinkünften Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen. Dadurch wird verhindert, dass über den Kreis derer hinaus, die schon während ihres aktiven Erwerbslebens auf Unterstützungen des Sozialstaats angewiesen sind, ein Transferleistungsbezug im Alter entsteht.1 Für den Deutschen Caritasverband geht es bei der Frage nach der Abwehr von Altersarmut immer um beides: um eine Ausgestaltung der Grundsicherung im Alter, die einen den Bedürfnissen älterer Menschen entsprechenden würdigen Lebensabend auch für jene sichert, die nicht ausreichend fürs Alter vorsorgen konnten, und um die zukunftsgerichtete Weiterentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung mit dem Ziel, das System auch für folgende Generationen armutsfest und leistungsgerecht attraktiv zu erhalten. Vertrauen in die Leistungsfähigkeit und Gerechtigkeit der Rentenversicherung entscheiden darüber, ob und wie groß die Bereitschaft ist, beitragsehrlich für das Alter ausreichend vorzusorgen und die Renten heute für morgen zu finanzieren.
Diverse Gründe für Lücken in der Beitragsbiografie
Tatsächlich ist das System der gesetzlichen Rentenversicherung, so wie es in den 50er-Jahren des vorigen Jahrhunderts von den Mentoren der katholischen Soziallehre neu justiert und von Konrad Adenauer umgesetzt wurde, insgesamt krisenfest konstruiert: Es bezieht einen großen Kreis der Beschäftigten in die Rentenversicherung ein und immunisiert sie auf diese Weise gegen regionale oder Branchenverschiebungen. Ihr Leistungsversprechen ist doppelt relativ: Meine Rente orientiert sich einerseits an der Höhe meines Lebenserwerbseinkommens im Verhältnis zum Durchschnittseinkommen aller Beschäftigten während meines Erwerbslebens, andererseits an der Leistungskraft/der Wirtschaftsentwicklung während meines Rentenbezugs. Meine Einkommensposition als Rentnerin entspricht meiner relativen Einkommensposition als Erwerbstätige, sofern ich von meinem gesamten Lebenserwerbseinkommen Beiträge gezahlt habe. Diese unabdingbare Voraussetzung für die persönliche Altersabsicherung ebenso wie für die Funktionsfähigkeit des Rentensystems wird allerdings heute immer weniger selbstverständlich erfüllt. Immer mehr Menschen führen von wachsenden Teilen ihres Erwerbseinkommens keine Beiträge ab und erwerben damit auch keine Ansprüche fürs Alter. Lücken in der Beitragsbiografie entstehen aus unterschiedlichen Gründen: Erwerbseinkommen aus Minijobs war bis vor kurzem generell beitragsfrei und kann noch heute von der Beitragspflicht ausgenommen werden; Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze ist beitragsfrei, so dass bei einem volatilen Erwerbsverlauf mit einigen guten und vielen weniger guten Jahren die schlechteren Jahre das Sicherungsziel bestimmen. Für im Ausland erzieltes Einkommen gelten sehr unterschiedliche Regelungen. Häufig werden keine Beiträge gezahlt oder fehlende Sozialversicherungsabkommen machen die Anerkennung der im Ausland erworbenen Rentenansprüche unmöglich. Die Risiken, die mit diesen rentenpolitischen Wirklichkeiten verbunden sind, sind längst bekannt. Durch Zeiten familienbedingter Erwerbsreduzierung, von Arbeitslosigkeit und Strafgefangenschaft verursachte Lücken in der Beitragsbiografie hat der Deutsche Caritasverband wiederholt als Altersarmutsrisiko thematisiert.
Hybride Erwerbsverläufe quer durch alle Berufe
Neue Risiken der Altersarmut entstehen durch Pendel-Erwerbsbiografien - Lebensläufe, in denen sich abhängige sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und beitragsfreie Selbstständigkeit abwechseln. Tatsächlich hat es solche Wechsel-Erwerbsbiografien schon immer gegeben: Der selbstständige Schreinermeister hat traditionell als Lehrling und Geselle in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis gearbeitet, bevor er einen eigenen Betrieb gründet. Auch die Fremdsprachenkorrespondentin, die erst für einen großen Betrieb arbeitet und sich nach der Geburt ihrer Kinder als Übersetzerin im Umfeld ihres alten Arbeitgebers selbstständig macht, ist kein neues Phänomen. Neu ist allerdings die Dynamik, mit der sich "hybride" Erwerbsbiografien vervielfältigen. Die Häufigkeit der Wechsel zwischen abhängiger und selbstständiger Arbeit im Lebenslauf nimmt von Generation zu Generation zu.
Da ist nicht nur die Friseurin, die fünf Jahre nach der Eröffnung des eigenen Salons bemerkt, dass Aufwand und Ertrag nicht stimmen, und in eine Festanstellung beim alten Chef zurückkehrt. Da ist auch die Altenpflegerin, die sich mit einem ambulanten Pflegedienst selbstständig macht, die Musiklehrerin, die selbstständig arbeitet, weil die kommunale Musikschule geschlossen hat … Es ist der selbstständige Anästhesist ebenso wie der Pilot, der für seine Airline als Freelancer arbeitet. Manche Selbstständigkeit entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Scheinselbstständigkeit, bewusst gewählt, um Sozialversicherungsbeiträge zu "sparen". Denn bis heute macht die gesetzliche Rentenversicherung einen grundsätzlichen Unterschied: Erwerbseinkommen aus abhängiger Beschäftigung ist sozialversicherungspflichtig, Erwerbseinkommen aus selbstständiger Tätigkeit beitragsfrei.2
Für Arbeitgeber(innen) und -nehmer(innen) kann es interessant erscheinen, das abhängige Beschäftigungsverhältnis in eine selbstständige Vertragsbeziehung umzuwandeln, wenn und solange beide (oder der stärkere Vertragspartner) davon ausgehen, dass es im Einzelfall clever ist, die an das abhängige Beschäftigungsverhältnis anknüpfenden Regeln (von der Sozialversicherungspflicht bis zum Arbeitsschutz) zu umgehen. Die Sinnhaftigkeit, für das eigene Alter durch relativ hoch erscheinende Zwangsabgaben vorsorgen zu müssen, ist nicht für jede(n) jederzeit einleuchtend. Wenn gesellschaftlich die Zustimmung zur Sozialversicherung sinkt, wächst die Neigung, bislang unstreitig sozialversicherungspflichtig erbrachte Leistungen in nicht sozialversicherungspflichtige Selbstständigkeit zu überführen.
Neben der Neigung wächst die Möglichkeit. Die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, die sich mit den Dynamiken des Internets und der digitalen Gesellschaft befasste (2010-2013), sprach von der fortschreitenden "Entbetrieblichung der Arbeit". Die damit verbundene Neuorganisation der Arbeit wird möglich und für Auftraggeber(innen) und -nehmer(innen) gleichermaßen attraktiv, weil sich Aufträge in Mini- und Mikroprozesse zerteilt flexibel über Plattformen auf den Weg bringen lassen - für Uber-Taxifahrer und Foodora-Radkuriere ebenso wie für Programmierer(innen) und Dolmetscher(innen). Der klassische Betrieb droht überholt zu werden von neuen Formen der Synchronisation von Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage, von Produktion und Vertrieb, die die Arbeitswelt 4.0 prägen. Die Verträge, die dem "Beschäftigungsverhältnis 4.0" zugrunde liegen, haben nur noch ungefähre Ähnlichkeit mit dem bewährten Arbeitsvertrag, an dem seit über 100 Jahren die Sozialversicherungspflicht in Deutschland anknüpft. Tatsächlich aber ist der hybride Selbstständige, der als digitaler Nomade seine Arbeitskraft anbietet, nicht weniger schutzbedürftig als der Industriearbeiter, für den die Rentenversicherung "erfunden" wurde.
Olga Suprinovic und Rosemarie Kay haben in ihren Forschungen zutage gefördert, wie rasch die Hybridisierung der Selbstständigkeit voranschreitet.3 Bei den 1960 geborenen Männern liegt der Anteil derer, die im Alter zwischen 15 und 44 eine Selbstständigkeitsepisode vorweisen, bei über 17 Prozent (im Vergleich zu sechs Prozent bei den 20 Jahre älteren Männern). Die Dauer der Selbstständigkeitsphasen, wie die der selbstständigen Zeiten insgesamt, bleibt relativ kurz. Sie erscheinen als Episoden in einer hybriden, zwischen abhängiger und selbstständiger Erwerbstätigkeit changierenden Erwerbsbiografie. Eine solche Pendel-Erwerbsbiografie ist mit einem deutlich erhöhten Altersarmutsrisiko verbunden. Die nicht gezahlten Beiträge der aus selbstständiger Beschäftigung stammenden Anteile des Lebenserwerbseinkommens fehlen in der Versicherungsbiografie.
Nicht gezahlte Beiträge fehlen für die Altersversorgung
Zum Glück enthält der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD für die laufende Legislaturperiode die Ankündigung, man werde, "um den sozialen Schutz von Selbstständigen zu verbessern, … eine gründerfreundliche Altersvorsorgepflicht für alle Selbstständigen einführen".
Plädoyer für eine Beitragspflicht für alle
Bei der Veranstaltung "Rente 4.0" beim Katholikentag in Münster4 waren sich - ebenso wie beim Fachforum zur Digitalen Agenda des Deutschen Caritasverbandes im März in Kassel - die Expert(inn)en einig, dass diese Selbstverpflichtung des Koalitionsvertrages vordringlich umgesetzt werden muss. Dabei sollten vier Gesichtspunkte handlungsleitend sein:
- Der Verzicht, Einkommen aus "selbstständiger" (das heißt nicht in einem klassischen abhängigen Beschäftigungsverhältnis erbrachter) Arbeit in die Versicherungspflicht einzubeziehen, lässt nicht vertretbare Schutzlücken in den Versicherungsbiografien entstehen. Ebenso wie die Aldi-Kassiererin muss der Foodora-Fahrer verpflichtet sein, für sein Alter vorzusorgen, auch wenn die Beitragspflicht "schmerzt".
- Der Verzicht, Einkommen aus selbstständiger Arbeit in die Versicherungspflicht einzubeziehen, schafft Fehlanreize in Bezug auf die Organisation von Arbeit. Der Anreiz, Leistungen "selbstständig" zu erbringen, ist für Auftraggeber(innen) und -nehmer(innen) gleichermaßen groß, wenn man hofft, damit Sozialversicherungsbeiträge zu sparen.
Die Feststellungsverfahren, die die Rentenversicherung aktuell anstrengen muss, um so entstehende Scheinselbstständigkeiten zu identifizieren, sind für alle Beteiligten ärgerlich. Das Risiko von Nachzahlungen für die Erwerbstätigen, ebenso wie für die Auftraggeber, ist groß.
- Der Verzicht, Einkommen aus selbstständiger Arbeit einzubeziehen, führt bei fortschreitender Hybridisierung der Arbeit dazu, dass die Finanzierung der Ansprüche einer Rentnergeneration, die ihr gesamtes Arbeitseinkommen verbeitragt hat, einer aktiven Generation zufällt, die nur für Teile ihres Erwerbseinkommens Beiträge zahlt, nämlich für den kleiner werdenden Teil der abhängigen Beschäftigung.
Die Beitragsbelastung für den abhängig organisierten Teil der Arbeit steigt unter diesen Umständen bei sonst gleichbleibenden Bedingungen an. Dies muss als Zusatzbelastung regulärer Beschäftigung im demografischen Wandel unbedingt abgewendet werden.
- Die Hybridisierung von Erwerbsverläufen geht mit der Normalität einher, dass Gründungen, also Einstiege in selbstständige Erwerbstätigkeit, in jeder Lebensphase und wiederholt erfolgen. Selbstständige Einkommen in die Rentenversicherung einzubeziehen muss sich daher vom Mythos "junger Gründer(innen)" ebenso emanzipieren wie von der Vorstellung, ein heute 50-jähriger Selbstständiger habe bereits viele Jahre in der Selbstständigkeit und damit Vorsorge als Selbstständiger hinter sich.
Wer sich heute im Alter von 50 nach 25 Jahren abhängiger Beschäftigung selbstständig macht5, braucht die verbleibenden 17 Jahre in der Rentenversicherungsbiografie zur armutsfesten Fundierung seiner sozialen Sicherung. Dies gilt genauso für eine 25-jährige Start-up-Gründerin, die Selbstständigkeit und abhängige Beschäftigung kombiniert und hofft, in ein paar Jahren von den Unternehmenserträgen leben zu können.
Anmerkungen
1. Für Deutschland erfüllt die Rentenversicherung diese Funktion aktuell noch relativ gut. Es ist aber absehbar, dass die Zahl der Empfänger(innen) von Grundsicherung im Alter absolut und relativ zügig steigen wird. Um diese Entwicklung zu stoppen, sind verschiedene Reformschritte sinnvoll und notwendig. Der Beitrag konzentriert sich auf die Herausforderung hybrider Erwerbsverläufe.
2. Historisch gewachsene Ausnahmen bestehen zum Beispiel für Hauslehrer, Hebammen und Handwerker.
3. Kay, R.; Schneck, S.; Suprinovic, O.: Erwerbshybridisierung - Verbreitung und Entwicklung in Deutschland. In: Bührmann, A.; Fachinger, U.; Welskop-Deffaa, E. M. (Hrsg.): Hybride Erwerbsformen. Wiesbaden, 2018, S. 15-50.
4. Der Vortrag von Eva M. Welskop-Deffaa bei der Katholikentagsveranstaltung "Rente 4.0" ist dokumentiert unter http://bit.ly/2IR2BHW
5. Circa 15 Prozent der Erstgründer sind älter als 45 Jahre. Vgl. Suprinovic, O.; Schneck, S.; Kay, R.: Einmal Unternehmer, immer Unternehmer? Selbstständigkeit im Erwerbsverlauf. IfM-Materialien Nr. 248, Bonn, 2016, S. 14.
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