Viele Schritte, aber noch nicht am Ziel
„Lassen Sie uns über Armut diskutieren, denn ob es Armut in Deutschland gibt, ist nicht wirklich klar." So könnte man die Ausgangslage in der öffentlichen Meinung beschreiben, als der damalige Zentralvorstand des Deutschen Caritasverbandes im Januar 1989 beschloss, eine Arbeitsgruppe "Armutsdiskussion" einzurichten. Bis dahin war die herrschende Meinung: Armut gibt es in Deutschland nicht. Es gibt ja die Sozialhilfe. Dem hatte schon der Diözesan-Caritasverband Münster mit dem Report "Arme haben keine Lobby"1 1987 widersprochen.
So kam es zur Untersuchung
Und dieser Weckruf aus Münster war wohl auch der Grund dafür, dass die Arbeitsgruppe über Armut erst einmal diskutieren sollte. Unter der damaligen Vizepräsidentin Teresa Bock als AG-Vorsitzender wurde jedoch schnell deutlich, dass nur eine empirische Armutsuntersuchung2 die Frage klären kann, ob und in welchem Ausmaß es Armut in Deutschland gibt. Die Armutsforscher Richard Hauser und Werner Hübinger von der Universität Frankfurt bekamen dafür die wissenschaftliche Leitung.
Aus heutiger Sicht erscheint es als geradezu weltfremd, so ergebnisoffen in die Diskussion zu gehen. Doch man bedenke, dass erst zwölf Jahre später, also im Jahr 2001, die uns heute so selbstverständliche Armutsrisikogrenze3 als offizielle Definition auf dem EU-Gipfel im belgischen Laeken festgelegt wurde.
Die Caritas-Armutsstudie
Im April und Mai des Jahres 1991 haben Caritasberater 4072 Hilfesuchende in offenen Diensten der Caritas mittels 50-seitigem Fragebogen befragt. Ziel war es, die Ursachen und Erscheinungsformen von Armut zu erforschen. Die wissenschaftlichen und logistischen Herausforderungen waren enorm. Dazu wurden in den Diözesen Multiplikatoren geschult. Die Untersuchung sollte repräsentativ für die jeweiligen Einrichtungsarten sein, und man wollte möglichst exakte Daten erhalten, um politische Wirksamkeit erzielen zu können.
Kernergebnisse
Die zentrale Erkenntnis war: 43,8 Prozent der Menschen, die faktisch einen Anspruch auf (ergänzende) Sozialhilfe hatten, machten ihren Anspruch nicht geltend - zumeist arbeitslose und ältere Menschen. Diese Dunkelziffer war zwar in anderen Studien vermutet worden, aber nach der Caritas-Untersuchung war sie empirisch erwiesen: Auf sieben Sozialhilfeempfänger kommen unter den Hilfesuchenden bei der Caritas rund drei verdeckt Arme. Die Caritas hat die Ergebnisse am 8. September 1992 auf der Bundespressekonferenz in Bonn vorgestellt. Tags darauf konnte selbst die damalige Familienministerin Hannelore Rönsch (CDU) nicht mehr bestreiten, dass es Armut im Sinne von "verdeckter Armut" in Deutschland gibt. Damit war klar: Die Sozialhilfe muss reformiert werden.
Politische Konsequenzen
Aus der Erkenntnis, dass es verdeckte Armut gibt, hat die Caritas Forderungen abgeleitet, um diese Form der Armut künftig zu vermeiden. Zuallererst sollten die der Sozialhilfe vorgelagerten Sicherungssysteme armutsfest gemacht werden. Dies wäre ein wichtiger Schlüssel für die Vermeidung von verdeckter Armut. Für jede Person, die die Aufstockung zum soziokulturellen Existenzminimum aus Steuermitteln erhält, sollte nur eine Institution zuständig sein (zum Beispiel Arbeitsverwaltung, Kindergeldkasse oder Rentenversicherung). So bliebe ein Rentner ein Rentner, selbst wenn er aufstockende Grundsicherungsleistungen erhält.
Die Kernforderung, alle Sozialhilfeempfänger im erwerbsfähigen Alter aus der Sozialhilfe in ein System zu überführen, das von der Arbeitsverwaltung gesteuert wird und ihnen dort das soziokulturelle Existenzminimum sichert und gleichzeitig Qualifizierung und Arbeitsmöglichkeiten bietet, wurde 2005 mit dem SGB II (Hartz IV) verwirklicht. Die Überführung der Arbeitslosenhilfe in dieses neue System wurde von der Caritas 1992 nicht gefordert. Sicher war die Caritas nicht der Initiator von Hartz IV, aber im möglichen Horizont der Forderungen lag das neue System schon, denn die Sozialhilfe war einfach am Ende und hat die Armen hauptsächlich verwaltet. Dass auch das SGB II nicht alle Probleme beseitigen konnte, ist bekannt, und die Probleme werden von der Caritas seit 2005 unablässig benannt und Lösungen werden gesucht. Im Bereich des Forderns gibt es Übertreibungen. Insbesondere die harten Sanktionsregelungen für unter 25-Jährige sind nicht akzeptabel. Der Umgangsstil in den Jobcentern ist immer noch ungenügend, die Bescheide sind oft fehlerhaft. Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente werden nach wie vor nicht unter dem Aspekt der Teilhabe verstanden: der Teilhabe von Menschen und insbesondere deren Kindern, die dringend Anschluss an die Gesellschaft suchen und brauchen.
Das ganze Bündel der Forderungen der Caritas von 1992 zeigt die Tabelle – samt der seit damals erfolgten gesetzlichen Änderungen.
Licht und Schatten
Das Ergebnis ist überraschend. Praktisch in allen von der Caritas benannten Politikfeldern wurden inzwischen sozialpolitische Lösungen angestrebt, und zwar in den unterschiedlichsten Regierungskoalitionen. Die Grenzen der Gesetzgebung sind jedoch nach wie vor offensichtlich. Ein weiterhin unbearbeitetes Feld ist die verdeckte Armut an sich. Deren Dunkelziffer liegt nach einer IAB-Studie immer noch auf dem Niveau von rund 40 Prozent aller Grundsicherungsberechtigten. Doch weder werden verdeckt Arme aus der Referenzgruppe für die Berechnung der Regelbedarfe herausgenommen noch findet sich im demnächst erscheinenden 5. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung auch nur eine Anmerkung zu diesen Menschen. Nach Auffassung aller sozialen Player leben diese in Deutschland unter dem vom Staat über die Grundsicherungsleistung eigentlich garantierten soziokulturellen Existenzminimum. Die Kernerkenntnis der Caritas-Armutsuntersuchung muss also weiterhin, da inzwischen weiter erforscht und bestätigt, einer politischen Lösung zugeführt werden.
Also weist die Bilanz nach 25 Jahren Licht und Schatten auf. Für die Verwirklichung der Teilhabe von armen Menschen in der Gesellschaft und für die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts wird sich die Caritas weiter mit aller Energie einsetzen. Ziel ist eine gerechte Gesellschaft, in der jeder Mensch einen Lebensplan verwirklichen kann, in der ein gesellschaftlicher Aufstieg möglich ist und in der es Begegnungsmöglichkeiten zwischen den Schichten gibt. Wir wollen keine Parallelgesellschaften, keine Ausgrenzung, Diffamierung oder gar eine daraus resultierende Gewalt. Für dieses Ziel ist noch viel zu tun. Man kann aber in Anbetracht der Tabelle auch nicht behaupten, dass in den letzten 25 Jahren politisch für Arme oder von Armut Bedrohte nichts getan wurde. Das Caritas-Programm wurde im Konzert mit vielen Verbänden und Organisationen, die Ähnliches forderten und initiierten, in einem politischen Prozess zumindest in den Kernpunkten durchgesetzt. Und so soll es auch weitergehen in der Armutsbekämpfung, immer auch im Wissen, dass wir in einem der besten Sozialsysteme auf diesem Planeten leben und dass es immer wieder Politiker gab und gibt, die sich dieser kniffligen Probleme annehmen und mit uns gemeinsam Lösungen für Benachteiligte suchen.
Die Caritas-Armutsuntersuchung hat auch Forderungen an die Caritas selbst formuliert: Alle Einrichtungen und Dienste wurden aufgefordert, bei allen Hilfesuchenden Armutslagen zu erkennen und für deren Beseitigung zu sorgen. Daraufhin haben einige Diözesanverbände ihre Allgemeine Sozialberatung verstärkt und Spezialdienste zentralisiert. Es wurde eine Priorisierung sämtlicher Caritas-Dienste und -Einrichtungen für Arme und Benachteiligte beschlossen. Die politische Anwaltsfunktion wurde klar auf arme Menschen ausgerichtet. Alle, Ehrenamtliche und Hauptberufliche in Caritas und Kirche, wurden aufgerufen, sich für die Armutsbekämpfung einzusetzen. 2017, zum Jubiläumsjahr der Armutsuntersuchung, wird ein Projekt gestartet mit dem Ziel, die Armutssensibilität aller Dienste zu überprüfen und neu ins Bewusstsein zu rufen.
Anmerkungen
1. Caritasverband für die Diözese Münster (Hrsg.): Arme haben keine Lobby - Caritas-Report zur Armut. Freiburg: Lambertus, 1987.
2. Alle in diesem Beitrag im Folgenden verwendeten Quellen finden sich in der Position des Zentralvorstandes des DCV vom Juni 1992. Vgl. Zentralvorstand des DCV: Arme unter uns: Der Deutsche Caritasverband bezieht Position. In: Zeitschrift caritas 10/1992 oder in leicht redigierter Form in: Hauser, R.; Hübinger, W.: Arme unter uns. Freiburg: Lambertus, 1993, S. 17-46.
3. Wer als Alleinlebender weniger als 60 Prozent des jeweiligen mittleren Einkommens verdient.
4. Vgl. Bruckmeier, K. u.a.: Simulationsrechnungen zum Ausmaß der Nicht-Inanspruchnahme von Leistungen der Grundsicherung. Nürnberg: IAB Forschungsbericht 5/2013.
Armut darf nicht entpolitisiert werden
Kundschafter nehmen Armut neu in den Blick
Reform der Leiharbeit
Popanz Proporz
Mehr Differenzierung ist nötig
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